Die neuseeländische Verfassung nahm ihren Anfang als Vertrag zwischen der englischen Königin und einer Reihe von Eingeborenenstämmen – und als Zankapfel in einem bis heute nicht ganz ausgestandenen Streit um Landrechte.
Vor 140 Jahren, 1877 – zum historischen Uhrenvergleich: in Deutschland arbeitete man gerade an einer Justizreform, die ihren Namen verdiente – warf der Streit zwischen einem Maori-Politiker und einem anglikanischen Bischof ein Schlaglicht auf die Konflikte der kolonialen Landnahme.
Konkret ging es im Fall "Wi Parata v Bishop of Wellington", der vor dem Supreme Court von Neuseeland verhandelt wurde, um die Frage, ob ein Maori-Stamm unweit der heutigen Hauptstadt im Jahr 1848 die Kompetenz gehabt hatte, der geistlichen Behörde Ländereien zu übereignen. Der Sachverhalt deutet bereits an, welcher Tragödie sich die maorischen Völker ausgesetzt sahen: "Ein Maori-Stamm gab der Kirche Land zum Zweck (in trust for), an diesem Ort eine Schule zur Erziehung seiner Kinder zu errichten und zu unterhalten. Die Stiftung (the trust) wurde über dreißig Jahre hinweg nicht ausgeführt und in der Zwischenzeit wurde der Stamm zerstreut und hat sich in seiner Größe stark vermindert; die Ausführung der Stiftung wird seitens der Überlebenden nicht länger begehrt, weil dies für ihre Zwecke nutzlos wäre."
Maori-Bevölkerung schrumpfte von 200.000 auf 40.000
Konkret hatte sich binnen knapp 30 Jahren der einst rund 1.000 Menschen umfassende Ngatiotoa-Stamm auf 30 bis 40 Personen reduziert. Insbesondere die von den Europäern eingeschleppten Krankheiten, Tbc, Masern, Typhus und Grippe, wirkten sich verheerend aus – die Maori-Bevölkerung sank von geschätzt über 200.000 Menschen im 18. Jahrhundert auf rund 40.000 im Jahr 1900.
Der Rückgabe der zu Bildungszwecken gestifteten Ländereien an den Stamm stand nach Auffassung der bischöflichen Verwaltung unter anderem entgegen, dass die englische Krone – ohne Wissen der Maori-Landsassen – dem Bischof das besagte Land gleichfalls übertragen hatte.
Zu einem zentralen Urteil der neuseeländischen Rechtsgeschichte wurde die Sache "Wi Parata v Bishop of Wellington" allerdings durch Feststellungen des kolonialen Supreme Courts, was die Rechtsnatur der britischen Landnahme Neuseelands schlechthin betraf: "Der Rechtstitel der Krone bezüglich des Gebiets von Neuseeland wurde nach Völkerrecht durch Entdeckung und Vorrang der Besitznahme begründet, derweil das Gebiet nur von Wilden bewohnt war." ("The title of the Crown to the territory of New Zealand was acquired, jure gentium, by discovery and priority of occupation, the territory being inhabited only by savages.")
Verfassungsurkunde, den Nagetieren ausgeliefert
Selbst wenn die Amoral beiseite kehrt: Die Behauptung, die britischen Seefahrer seien bei der Inbesitznahme Neuseelands – von den ortsüblichen Wilden abgesehen – gleichsam auf besitzloses Land gestoßen, war bereits von Rechts wegen problematisch.
Insbesondere war im Jahr 1840 der "Vertrag von Waitangi" zwischen ihrer großbritannischen Majestät Königin Victoria und einer Vielzahl von Maori-Stämmen geschlossen worden. Auf Seiten der Maori wurde dieser Vertrag ratifiziert, auch nicht persönlich anwesenden Stammesvertretern vorgelegt, in London freilich nicht förmlich sanktioniert.
Einige Klauseln des Vertrags hätten, teils äußerst problematischer Übersetzungsfragen zulasten der Maori zum Trotz, dazu einladen können, die Rechte der Krone aus der "priority of occupation" anzuzweifeln.
Das neuseeländische Gericht ging auf Nummer sicher, indem es den Vertrag mit Blick auf eine Übertragung von Rechten auf die britische Krone zur "simple nullity" erklärte.
Ob Zufall oder bewusst vollzogen: Nachdem von den Vertragsdokumenten 1877 Fotografien angefertigt worden waren, wurden sie unzureichend archiviert und erst 1911 – teilweise von Nagetieren zerfressen – zu musealen Zwecken wieder aufgetan und restauriert.
Heute, einige gesellschaftliche und rechtliche Schritte weiter, gilt der Vertrag von Waitangi als erste Verfassungsurkunde Neuseelands, der Tag seiner Ausfertigung ist der Nationalfeiertag und wird seit 1934 am 6. Februar des Jahres begangen.
2/2: Privy Council empört mit angedeuteten Maori-Rechten
Diese Schritte bewegten Recht und Gesellschaft Neuseelands allerdings zunächst in eine andere Richtung als jene, sich das kulturelle Erbe der polynesischen Erstbewohner des Landes anzueignen.
Zu den im Fall "Wi Parata v Bishop of Wellington" zu lösenden Rechtsproblemen zählte nach der Priorität der Landverfügungsrechte schlechthin auch, ob die Entscheidungen der Krone, europäischen Siedlern Land zuzueignen, einer gerichtlichen Prüfung durch die gewöhnlichen Gerichte unterliegen.
Der "Native Rights Act" von 1865 hätte sich dahingehend interpretieren lassen, der Supreme Court Neuseelands entschied sich – naheliegender Weise –, die Rechtssicherheit mit Blick auf die Landrechte zugunsten der "weißen" Siedlergesellschaft herzustellen. Darüber, ob möglicherweise von alters her vorrangige Verfügungsrechte der maorischen Bevölkerung bestünden, sollte tunlichst nicht vor den ordentlichen Gerichten verhandelt werden müssen. Dem neuseeländischen Gericht war vielmehr daran gelegen, den Akt der Zuteilung von Land durch die Krone als einen Vorgang von möglichst freiem königlichem Ermessen auszulegen, der jenseits der richterlichen Prüfung steht.
Nun war bis zur Einrichtung eigener Appellationsgerichte in den Kolonien des britischen Imperiums der juristische Spruchkörper des Privy Council, des königlichen Kronrats in London, das zentrale Gericht des Weltreichs.
Dieser entschied 1894 in der Sache "Nireaha Tamaki v Baker", dass Landrechte der Maori nicht schlechthin durch den Akt der königlichen Inbesitznahme verlorengegangen seien und sie ihre Ansprüche vor den Gerichten einfordern könnten.
Dem begegnete die gesetzgebende Versammlung Neuseelands unter anderem 1908 mit einem Gesetz, mit dem das königliche Ermessen in Landzuteilungsdingen von der einfachen Gerichtsbarkeit ausgeklammert werden sollte.
Vom Native Lands Court zum Waitangi Tribunal
Durch den "Native Lands Act" war 1865 ein sogenannter Native Land Court of New Zealand etabliert worden, eigentlich eine Art Landmakleramt mit Katasterfunktion: Seine Dienststellen organisierten die Übertragung und Umformung des hergebrachten Landgebrauchs – in Gestalt solcher Aspekte wie persönlicher Anwesenheit der Maori, Nutzung durch Fischerei, Jagd oder Ackerbau – in Landrechtstitel des angelsächsischen Formats.
Dieses Gericht, 1954 in "Māori Land Court" umbenannt, war also ursprünglich – nach deutschen Maßstäben – eine leidlich unabhängige, gerichtsähnliche Verwaltungseinrichtung zum Transfer von gelebten Nutzungs- in formalisierte Eigentumsrechte. Heute bildet es eine eigenständige Gerichtsbarkeit mit Rechtszug zum neuseeländischen Appellationsgericht und zum Supreme Court.
Weiterhin besteht seit 1975 das sogenannte "Waitangi Tribunal", benannt nach dem Vertrag von 1840, jener einst von Ratten angefressenen, von der neuseeländischen Justiz für nichtig gehaltenen Verfassungsurkunde.
Obwohl das "Tribunal" dafür zuständig ist, Ansprüche der Maori aus dem Vertrag von 1840 zu untersuchen, kann es für Land, das in Staatsbesitz ist, lediglich Empfehlungen aussprechen, während es für privates Eigentum unzuständig ist.
Hoffentlich macht das nicht noch Schule
Gewiss, im Vergleich mit der Landnahme US-amerikanischer Abenteurer und Militärs im weitläufig benachbarten Hawaii hatten die Maori es gut getroffen: Die Kolonialisierung ging einigermaßen zivil voran, und ihre Traditionen – althergebracht und frisch erfunden – sind heute Teil der gemeinneuseeländischen Kultur. Dennoch muss die Frage erlaubt sein: Ein Tribunal, das zur Auslegung einer Verfassungsurkunde eingesetzt wird, aber nur unverbindliche Empfehlungen abgeben darf, was ist denn das?
Man darf wohl hoffen: Kein Reiseziel für russische, polnische, ungarische und türkische Verfassungsrichter oder die Richter des britischen Supreme Courts nach dem "Brexit".
Autor: Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Autor in Ohligs bei Düsseldorf.
Martin Rath, Eingeborenenrechte in Neuseeland: Maori-Land in Britenhand . In: Legal Tribune Online, 05.02.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21996/ (abgerufen am: 03.07.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag