Die Paritätsgesetze Thüringens und Brandenburgs haben eine harte Kontroverse ausgelöst. Dass diese auch auf eine fehlende Auseinandersetzung mit radikalen Ideen zu Demokratie und Gleichstellung seit 1989/90 zu tun hat, meint Martin Rath.
Um die repräsentative Demokratie sei es überall schlecht bestellt – ja, die "heutigen Volks-Vertreter" seien kaum von unseriösen Handelsvertretern zu unterscheiden, "sie bringen ihre Ware mit allerlei schaumschlägerischen Tricks an Mann und Frau, unter Ausnutzung argumentativer Notlagen, Verleumdung von Konkurrenzprodukten und äußerster Vermeidung der Erklärung von Kleingedrucktem".
Zudem passten sich Politiker wie Medien mit einer "gefährlichen Adaptionsstrategie", dem "vermeintlich gewollt niedrigen Niveau an", das der Wähler zunehmend in seiner Gestalt als "launisches Wechselwählerbalg" vorgebe, das "in seiner Haltung gegenüber der politischen Bühne vor allem von großem Überdruss geplagt zu sein scheint".
Notiert hat diese böse Diagnose der heute in Flensburg lehrende Soziologe Gerd Grözinger (1953–) bereits vor bald 30 Jahren in seinem Aufsatz "Die Verbesserung des Volkswillens", publiziert in der Zeitschrift "Kursbuch" (Heft 104, Juni 1991, S. 85–103).
Kein Mittel gegen die um sich greifende Verdrossenheit des Wahlvolks sah er im seit 1979 erst von den "Grünen", dann der AfD vorgetragenen Ohrwurm "Volksabstimmung". Skepsis äußerte Grözinger auch gegenüber Elementen der aleatorischen Demokratie, also der Auswahl von Volksvertretern durch das Los – stattdessen nahm er sich vier radikalen Wegen zur Modifikation der politischen Willensbildung an.
Von der NATO-Demokratisierung bis zum platonischen Stimmkraftbewerter
Seine Ideen sind auf eine Weise zugleich gewitzt wie überkandidelt, dass eine breite Rezeption in Parteien oder Staatsrechtslehre kaum zu erwarten war. Das ist ein bisschen schade, weil sie die politisch interessierte Öffentlichkeit auf radikale Vorschläge zu verfassungs- oder wahlrechtspolitischen Innovationen hätte vorbereiten können.
Eher schlecht gealtert ist die Überlegung Grözingers, den Zutritt zum Wahllokal von der Beantwortung von zehn Fragen zum verfassungsrechtlichen Basiswissen abhängig zu machen, gestellt von ordentlichen Professoren der Politikwissenschaft, und das Stimmgewicht entsprechend der Gesamtmenge zutreffender Antworten im jeweiligen Bezirk auf- oder abzudiskontieren. Hier grüßt von Ferne der platonische Philosophenkönig, der in die Schuhe eines Quiz-Masters gestellt wird.
Kaum weniger ungeheuerlich, aber von bewunderungswürdigem Vertrauen in die segensreiche Kraft des Demokratieprinzips geprägt: Der militärische und politische Apparat der North Atlantic Treaty Organization (NATO) könnte, wenngleich im Tausch gegen eine feste Zuweisung von Umsatzsteueranteilen der Mitgliedstaaten und die Bereitschaft, Truppen auch außerhalb des Vertragsgebiets einzusetzen, einem echten, in geheimer und direkter Verhältniswahl bestimmten Parlament der NATO-Völker unterworfen werden. Die Friedensdividende müsste dies sogar den notorisch in nie erklärten, aber endlosen Kriegen stehenden USA schmackhaft werden lassen. Überkandidelt oder gewitzt – bald 30 Jahre nach der Publikation fragt sich, warum so viel über angebliche Demokratiedefizite der Europäischen Union, niemals aber über jene der NATO gesprochen wird.
Als Idee zur "Verbesserung des Volkswillens" von eher mittlerer Art und Güte regte Grözinger ein System der "permanenten Vokation" an. Statt den Bundestag alle vier Jahre zu wählen, müsste sich zunächst in einer ersten Runde nach Losentscheid jeder Wahlkreisabgeordnete mehr oder weniger lange vor Ablauf von vier Jahren zur Neuwahl stellen (wie in Art. 1 III 2 US-Verfassung), um im Anschluss dann volle vier Jahre im Amt zu bleiben. Die alten Zweitstimmen aus den herausgelosten Wahlkreisen würden entsprechend abgezogen, die neuen hinzugerechnet werden. Abzüglich von Ferienzeiten werde damit irgendwo in jeder Woche ein lokaler Bundestagswahlkampf stattfinden. Der bundesweite Wahltermin alle vier Jahre entfiele und mit ihm der Anlass für die politischen Parteien, sich mit ihren Versprechen schaumschlägerisch zu vermarkten, statt durch konstante Arbeit der parlamentarischen Mehrheit wie der Minderheit zu überzeugen.
Halbteilung der Bundestagsmandate statt Pflichtteilskämpfen
Zum leidigen Problem schließlich, dass sich Frauen und Männer in ihren öffentlichen wie privaten Leidenschaften und Lastern zwar in strittigem Ausmaß unterscheiden, seinerzeit aber, zunächst noch rein politisch, seit 1994 dann als Staatsziel zwingend eine "tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern" (Art. 3 Abs. 2 Grundgesetz, GG) verlangt wird, regte Grözinger unter der launigen Überschrift "Damen-Wahl" an, die beiden "Sub-Populationen" von Männern und Frauen ganz getrennt zu behandeln.
Ein Reißverschlussprinzip, wie es jetzt vom Thüringer Verfassungsgerichtshof verworfen wurde, hielt er 1991 für problematisch, weil es die Freiheit der Parteien als zivilgesellschaftliche Vereinigungen in der Aufstellung von Wahlbewerbern unnötig einschränke. Der Vorschlag Grözingers war hier milder und radikaler zugleich: Es sollten je zwei benachbarte Wahlkreise zu einem neuen zusammengefasst werden, in dem die Parteien dann jeweils eine Frau und einen Mann aufstellten. Entsprechend würden die Parteien zwei Landeslisten für die Zweitstimmen vorlegen, eine für männliche, eine für weibliche Bundestagsbewerber. Als sei das nicht radikal genug: Die weiblichen Parteimitglieder sollten für die Aufstellung ihrer Geschlechtsgenossinnen, die männlichen für die Ihren zuständig sein, die Wählerinnen schließlich über die Kandidatinnen, die Wähler über die Kandidaten (jeweils Kreis und Liste) befinden.
Zweifel, ob das zu mehr als Zweitsemester-Übungsarbeiten taugt
Es darf unterstellt werden, dass solche Ideen bestenfalls dazu geeignet sind, Staatsrechtslehrer, Staatsrechtslehrerinnen und Staatsrechtslehrer, die eine andere Geschlechtersemantik ihres Berufs bevorzugen, zu Übungsfällen für den Klausurbetrieb zu animieren. Insbesondere in Fragen der "Damen-Wahl" ist es aber bedauerlich, dass es im akademischen wie parteipolitischen Raum seit 1989/90 zu keiner aktiven Diskussion gekommen ist.
In seinem Urteil zum Reißverschlussprinzip hatte sich der Thüringische Verfassungsgerichtshof dieser Tage beispielsweise mit der Frage auseinanderzusetzen, ob Art. 2 Abs. 2 Landesverfassung Thüringen, der neben Gleichberechtigung auch ausdrücklich ein staatliches Streben nach Gleichstellung der Geschlechter verlangt, die wahlrechtliche Quotenregelung trage, was er verneinte (Urt. v. 15.07.2020, Az. VerfGH 2/20).
Während man etwa in der FAZ-Redaktion, vom unerhörten Streit um diese obskure Geschlechterparität aufgeschreckt, offenbar kurz davor steht, sich wegen der vermeintlich identitätspolitischen Verwirrung des thüringischen und brandenburgischen Gesetzgebers die Telefonnummer des Verfassungsschutzamts heraussuchen zu lassen, haben es jedenfalls die ostdeutschen Gleichstellungsbemühungen nicht verdient, als reine Ausgeburt der Dammbruch-Hölle des intersektionalistischen, nebulösen Netzfeminismus der Fürsorge des Staatsschutzes anheimgestellt zu werden. Denn die ausschließlich auf Frauen und Männer bezogene Gleichstellungsnorm hat ihre Wurzeln im Verfassungsentwurf des Runden Tischs vom April 1990 und fand auch Aufnahme im Entwurf des Kuratoriums für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder.
Selbst bei strikter Ablehnung der Gleichstellung im Wahlrecht oder anderenorts: Sie war eine verfassungspolitische Forderung, die von Angehörigen jener bürgerlichen Revolution mitgetragen wurde, die dem SED-Regime ein Ende bereitet hatte. Gerade wer sich konservativ nennt, sollte hier etwas Respekt vor den Verlierern der Geschichte mitbringen – schließlich gehört es in Deutschland zu einem historisch aufgeklärten Verfassungspatriotismus, ein Mindestmaß an freundlicher Zu- oder Abneigung gegenüber glänzenden, aber gescheiterten Vorhaben zu zeigen, wie es nicht nur die Paulskirchenverfassung von 1848/49 oder die hervorragende Reichsverfassung von 1919 verdienen, sondern auch die nach 1990 verworfenen Ideen der DDR-Bürgerrechtler.
Vorschlag fürs Ernstnehmen sogar "identitätspolitischer" Anliegen
Es ist damit aber noch nichts darüber gesagt, ob die Grözinger- oder die aus der bürgerlichen DDR-Verfassungsbewegung von 1989/90 mitinspirierte thüringisch-brandenburgische "Damen-Wahl"-Variante in der Sache ernst zu nehmen ist.
Selbst eine so erklärte Gegnerin des Thüringer Urteils wie Maria Wersig (1978–), Präsidentin des Deutschen Juristinnenbunds e.V., erklärte beispielsweise 2017 in einer Aufstellung der ihrer Ansicht nach aktuell gebotenen "Interventionen und Strategien zum Verfassungsauftrag Gleichstellung" zwar, dass insoweit etwa Aufsichtsräte oder "sexistische Werbung" wichtige Themen seien – eine Gleichstellung mittels Wahlrecht erwähnt sie hier jedoch nicht.
Abhilfe leisten mag ein Vorschlag zur Seriositätsbewertung von Anspruchsdenken, gewonnen in eigener kommunalpolitischer Feldforschung der 1990er Jahre: In einer Stadt von 55.000 Einwohnern sind regelmäßig maximal 50 Menschen politisch in einer Weise aktiv, dass sie im Rathaus die Agenda nachhaltig bestimmen, davon nur ca. 25 der 50 Ratsmitglieder. Der Rest: Hinterbänkler an der Grenze zum politischen Hirntod – und ca. 25 Schlüsselfiguren in Verwaltung und Zivilgesellschaft. In Großstädten, Land und Bund liegen diese Zahlen noch unter dem mittelstädtischen Bevölkerungspromille. Das erlaubt die Vermutung: Würde sich nur ein Alternativ-Promille der Bevölkerung ausschließlich zu dem Zweck organisieren, Angehörige eines unterrepräsentierten Geschlechts in Amt und Würden zu bringen, wäre es auf jeder staatlichen Ebene kopf- und finanzstärker als jene, die dort schon sitzen. Das allerdings macht doch ein bisschen mehr Arbeit als Kampagnen für ein Reißverschluss- oder ein sonstiges Quotenrecht.
Recht und Politik: . In: Legal Tribune Online, 19.07.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42241 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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