Der Blick in die juristischen Zeitschriften zum Jahreswechsel 2011/2012 fördert eine gruselige Mischung ans Licht. Griechenland bietet analytisches Entsetzen, die deutsche Staatsrechtslehre dogmatische Aufklärung. Rechtssoziologischer Humor aus Dänemark lässt zum vielleicht ekeligsten Artikel des Jahres wechseln. Den Parcours seltenen Schriftguts richtet Martin Rath an.
Es ist nicht überliefert, ob die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Nafplio, einem Städtchen südlich von Korinth, die inzwischen legendär gewordene griechische Staatsschuld vermehrt hat – in monetärer Hinsicht. Was die moralische Seite anging, klärte das Gericht im Jahr 2009 jedenfalls eine Schuld, die auch manchen deutschen Strafverteidiger und Staatsanwalt hätte aufhorchen lassen können.
In seinem beispiellosen Urteil erklärte das Verwaltungsgericht von Nafplio, dass die Beamten eines Gefängnisses für den Drogenschmuggel in ihre Anstalt verantwortlich zu machen seien und damit auch für den Tod eines Gefangenen, der in ihrer Obhut infolge Drogenkonsums starb. Dem griechischen Staat wurde eine Schadensersatzzahlung von 300.000 Euro an die Familie des toten Häftlings auferlegt.
Leider berichtet Leonidas K. Cheliotis, Kriminologe an der Universität von London (St. Mary), nicht, ob das Urteil den Weg durch die Instanzen überstand. Was er im "European Journal of Criminology" (EJC 2012, S. 3-22 - DOI: 10.1177/1477370811421643) zu den "Bedingungen der Haft und der Gesundheitslage von Gefangenen im Griechenland der Gegenwart" dokumentiert, wirft allerdings ein Schlaglicht auf gründliches Staatsversagen jenseits der tagesaktuellen Meldungen zur griechischen Haushaltslage.
Kriminalwissenschaft dokumentiert griechisches Versagen
Zwischen 1990 und 2006 wuchs laut Cheliotis das Fallaufkommen verurteilter und in U-Haft untergebrachter Gefangener um 52,6 Prozent – von 11.835 Häftlingen, also 116 je 100.000 Einwohnern, auf 18.070 Gefangene, was 162 je 100.000 Einwohnern entspricht. Für die Verurteilten sei die Haftdauer von durchschnittlich 5,1 Monaten auf erstaunliche 73,3 Monate hochgeschnellt.
Die medizinische Versorgungslage ist nach dem Befund des Londoner Kriminalwissenschaftlers desaströs, obwohl die Grundversorgung der griechischen Bevölkerung – soweit auf freiem Fuß – gut sei. Im Gefängniswesen seien im Jahr 2010 jedoch von 182 Stellen des Gesundheitsdienstes nur 71 besetzt gewesen. Statt der 19 vorgesehenen Zahnärzte arbeiteten nur vier, von 107 geplanten Krankenpflegern dienten ganze 54. Angesichts der überwiegend wegen Drogendelikten inhaftierten Gefangenen sind die Defizite in der psychiatrischen Versorgung augenfällig: Von 37 Stellen waren Ende 2010 ganze drei besetzt.
Eine böse Ironie entdeckt Cheliotis darin, dass sich die oberste Behörde zwischenzeitlich in "Ministerium für Justiz, Transparenz und Menschenrechte" umbenannte, bestückte man doch das zuständige Aufsichtsgremium überwiegend mit "internen" Praktikern aus dem Strafvollzug. Parallel zu dieser klassischen Gefängnisinspektion sollte ein Team "externer" Beobachter installiert werden, die in der Presse bereits als "die Unbestechlichen" oder "Rambos" gefeiert wurden. Es blieb hier bei der Berufung von insgesamt vier Personen. Notorische Vertuschung und fehlende Kommunikation mit der europäischen Kriminalwissenschaft runden das traurige Bild ab.
Gefängnisse – klassischer Indikator der Menschenwürde
Dass kaum etwas besseren Aufschluss über den Zivilisationsgrad eines Staates gibt, als sein Umgang mit ethnischen Minderheiten und der Zustand seiner Gefängnisse ,ist ein klassischer Topos humanitärer Gesellschaftskritik. Die Befunde von Leonidas K. Cheliotis zeichnen kein gutes Bild vom Stand der Menschenwürde im Staate Griechenland.
Über Menschenwürde schreiben deutsche Juristen gerne schweratmige Aufsätze und es ist dem Erfurter Staatsrechtslehrer Manfred Baldus zu verdanken, in einem bemerkenswert leichtfüßigen Artikel im ehrwürdigen "Archiv des öffentlichen Rechts" (AöR Band 136 [2011], S. 529-552) rund 60 Jahre akademische Diskussion und Rechtsprechung zu diesem ethisch-juristischen Zwitterwesen eingefangen zu haben.
Baldus zeichnet nach, wie – nach anfänglichem Zögern – die Behauptung, Artikel 1 des Grundgesetzes (GG) schütze die Menschenwürde "absolut", in den Ruf einer "herrschenden Meinung" gekommen sei – einer "hM", die soweit diskussionsresistent behandelt würde, dass in juristischen Ausbildungszeitschriften sogar Studenten ausdrücklich von zweifelnden Positionen abgeraten wurde. Sardonisch lächelnd ist hingegen in Baldus‘ Fazit zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu lesen: "Es bedarf keiner allzu hoch entwickelten Beobachtungsgabe, um zu erkennen, dass das Bundesverfassungsgericht bei der Anwendung der Menschenwürdegarantie in der Tat regelmäßig das tut, was es auch sonst tut, wenn es Grundrechte prüft: Es wägt Rechtsgüter ab."
Menschenwürde – trotz Güterabwägung "absolut"?
In "Menschenwürdegarantie und Absolutheitsthese" lässt Baldus wie ein Regisseur alle argumentativen Versuche, die Menschenwürde zu einem Ding zu erklären, das gleichzeitig absolut wie auch relativ sein könnte, auf die Bühne treten, um sie mal freundlich, mal unwirsch von den Brettern zu schicken.
Gegen Ende seines spannenden Aufsatzes lässt der Staatsrechtler den Gedanken auftreten, der Verfassungsgeber könnte durchaus ein "absolutes Recht" schaffen, das von jeder Abwägung und Relativierung unberührt bleibe, um auch ihn rasch wieder von der Bühne zu pfeifen: "Ein solches Recht genösse immer und überall Vorrang vor anderen Rechten. Allerdings: Der persönliche Anwendungsbereich eines solchen Rechts müsste dann auf eine einzige Person beschränkt werden."
Nun genießt das "Archiv des öffentlichen Rechts" keinen großen Publikumsverkehr. Die Zahl derer, die dort auftretende Gedanken auf die Bühne bringen oder sie im Theatergraben versenken, ist klein. Eigentlich sollte klar sein, dass "Menschenwürde" eine ebenso relative Verheißung ist wie jedes andere Grundrecht – es soll ja, wie Baldus festhält, westliche Demokratien geben, die es genau so halten. Er bleibt bei aller erfrischenden Klarheit in der Überschrift vorsichtig. Im Untertitel nennt er seine an sich finale Abrechnung einen "Zwischenbericht zu einer zukunftsweisenden Debatte".
Von der Unantastbarkeit zur Unbeschadetheit
Beruhigend ist übrigens, dass Baldus in seinem rechtshistorischen Abriss der vergangenen 60 Jahre einen denkbaren juristischen Taschenspielertrick nicht entdeckt hat: In Art. 1 GG heißt es schließlich nicht, dass die Menschenwürde "unverletzlich" oder "absolut" gelte. Wörtlich steht dort, sie sei "unantastbar". Bedenkt man, dass hunderte Millionen naiver Christinnen und Christen am vermeintlichen Dogma "unbefleckt, aber doch schwanger" nichts auszusetzen haben, böte Art. 1 GG ja noch Spielraum für Spitzfindigkeiten von der Machart: "gefoltert, aber unangetastet".
Diese kleine Abschweifung dient natürlich nur einem sachlichen Hinweis auf einen hübschen Artikel in der Juristenzeitung (JZ 2012, Seiten 31-35), in dem Johanna Wolff vom Forschungsinstitut für Öffentliche Verwaltung Speyer den semantischen Verwirrungen nachgeht, die allein das winzige Wort "unbeschadet" in Juristenköpfen anrichten kann. Für den Bereich gesetzlicher Regelungen hält Wolff fest, "dass das Wort 'unbeschadet', wenn es auf das Verhältnis von Rechtsregeln bezogen ist, stets folgende eindeutige Aussage trifft: Die Regelung, in der das Wort vorkommt, beeinträchtigt die Geltung der im Genitiv genannten Regelung nicht."
Gegen Fehlgriffe verordnet Johanna Wolff den Juristenkollegen einen Blick in den "Duden" und die berühmt-berüchtigte "Methodenlehre" von Karl Larenz.
Humor im skandinavischen Justizvollzug
Angesichts der spätestens in den so genannten Rechtschreibreformen offenbar gewordenen Wortfindungsstörungen der "Duden"-Redaktion und der ein bisschen okkulten "Methodenlehre" von Larenz ist dieser Vorschlag zwar ein bisschen vorwitzig, wahre Witze finden sich aber erst jenseits juristischer Mainstream-Zeitschriften wie der "JZ". Beispielsweise im "European Journal of Criminology", das zum Jahreswechsel auch anderes zu bieten hat als Einblicke in die düstere griechische Gefängniswelt.
Gleich am Anfang ihres Aufsatzes "On humour in prison" (EJC 2011, S. 500-514, DOI: 10.1177/1477370811413818 ) stellt Malene Molding Nielsen von der Universität Kopenhagen zwar klar, dass auch der Aufenthalt hinter dänischen Gittern kein Vergnügen ist: "Gefängnisse sind Orte von Leid, Verbrechen und Missbrauch." Sie zeigt sich aber doch überrascht über den Humor, der ihr während ihrer kriminalwissenschaftlichen Feldforschung begegnet sei – in Szenen wie dieser:
Während Frau Nielsen neben einem Vollzugsbeamten steht, kommt ein Gefangener auf sie zu und begrüßt den Wärter mit einem demonstrativen Lächeln und den Worten: "Hallo Liebling!"
Der Beamte erhält vom Gefangenen ein amtliches Formular in die Hand gedrückt, während er weiter ungerührt einen Schluck Kaffee nimmt, den er in der anderen Hand hält. Mit einer Geste, dass er am Kaffee des Wärters zu riechen wünscht, fordert der Gefangene: "Hey, könnte ich das bitte prüfen?"
Und während der Gefangene sich über den Kaffee des Wärters beugt, erklärt er der Wissenschaftlerin: "Wie Sie sehen, muss man in dieser Anstalt stets und alles in Augenschein nehmen."
Scherzbeziehungen und belastende Gefühlsarbeit
Ihren Lesern erklärt Molding Nielsen, dass es sich hier um einen humoristischen Rollentausch gehandelt habe, in dem der Gefangene spielerisch das Getränk des Wärters auf Alkohol oder Drogen hin überprüfte. Im weiteren Verlauf der Szene dient die – von Ethnologen so genannte – Scherzbeziehung zwischen dem Wärter und dem Gefangenen dazu, eine gemeinsame Kritik an einem anderen Beamten auszudrücken, der dem Inhaftierten eigentlich beim Ausfüllen des erwähnten Formulars helfen sollte – ohne diese Kritik direkt verbalisieren zu müssen.
Eine Voraussetzung für den zivilisierten Umgang zwischen Inhaftierten und Wächtern wird in der vergleichsweise guten Personalausstattung des skandinavischen Gefängniswesens liegen. Untersuchungen über "Gefühlsarbeit und emotionale Belastungen unter schwedischen Gefängnisbeamten" ist ein Aufsatz von Per-Åke Nylander, Odd Lindberg und Anders Bruhn im gleichen Heft (EJC 2011, S. 469-483, DOI: 10.1177/1477370811413806). Als emotionalen Belastungsfaktor beschreiben sie beispielsweise, dass die Beamten neben ihrer Wächterfunktion auch für die persönliche Beratung und Betreuung von Gefangenen verantwortlich seien – zwischen vier und zehn Inhaftierten je Beamten.
Man darf vermuten, dass nicht erst griechische Politiker zynisch auflachen werden, sollten sie von solchen Zahlen lesen.
Widerwärtiges in der kriminalwissenschaftlichen Literatur
Bevor sich nun engagierte Leser dieses Beitrags aufmachen, in einer gut sortierten rechtswissenschaftlichen Bibliothek nach Zeitschriften zu suchen, denen sich Anregungen zur Verbesserung der Menschenwürde in der Praxis entnehmen lassen (wo doch Zweifel an ihrem absoluten Wert in der Theorie zu reifen beginnen), müssen wir noch einen dringenden Warnhinweis geben.
Bei der Vorbereitung dieses kleinen Literaturparcours fiel uns auch ein Aufsatz in die Hände, der im gerade so frisch und unschuldig begonnen Jahr 2012 bereits als Anwärter für den ekelerregendsten Artikel einer rechtswissenschaftlichen Zeitschrift geeignet erscheint.
Unter dem Titel "Autoerotische Asphyxie" stellen Elke Doberentz, Burkhard Madea und J. Hülder, erstere Rechtsmediziner, letzterer Polizist in Bonn, einen ungewöhnlichen Fall vor, dessen harmlose Kurzfassung sich so liest: "Ein 39 Jahre alter Mann wurde tot mit Fesselungen und Knebelung im Schlafzimmer seiner Wohnung aufgefunden. Es ergab sich das Bild eines autoerotischen Unfalls mit ungewöhnlicher Selbstfesselung sowie eines Selbstrettungsmechanismus unter Zuhilfenahme elektrischer Geräte und einer Zeitschaltuhr." Von Interesse ist bei einem derartigen Leichenfund, ob es sich um einen, man scheut zu sagen: natürlichen Todesfall handelt, oder ob Fremdverschulden im Spiel war.
Der Praxisschock für junge Juristen
Dieter Simon, ein scharfzüngiger Rechtshistoriker in Berlin, hat jüngst in einem nachlesenswerten Vortrag gesagt, dass junge Juristen einen "Praxisschock" erlitten, wenn sie erführen, dass "in der überwältigen Mehrzahl aller Fälle die so genannte Tatfrage, und nicht die ihm universitär als entscheidend eingetrichterte 'Rechtsfrage', seine Arbeit und Aufmerksamkeit vollständig dominiert".
Man ist geneigt, das auf reine Examensrelevanz getrimmte Jurastudium zur humanitären Zone des Nichtwissens zu erklären und das Fehlen von Bildern in regulären juristischen Zeitschriften für einen Akt der Gnade, wenn man eine der Bildunterschriften in der Zeitschrift "Rechtsmedizin" (2012, DOI 10.1007/s00194-011-0792-7) liest. Dort heißt es unter einem Bild, das der Illustration des obskuren Todesfalls dient: "Tief in den Enddarm eingeführter Vibrator (nach Eröffnen des Enddarms)".
Bei aller Liebe auch zum schwärzesten Witz: Womit sich Juristen beschäftigen müssten, verriete solch ein Bild auch nur den Verdacht eines Fremdverschuldens – uns verschlägt das schlicht die Sprache.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Köln.
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Recht frech / Eine etwas andere Literaturübersicht: Von Sprach-, Scham- und Meeresgrenzen
Martin Rath, Recht frech / Die etwas andere Literaturübersicht: . In: Legal Tribune Online, 22.01.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5362 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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