Ein französischer Spitzenpolitiker darf als politisch tot gelten, seit er von der US-Justiz in Handschellen vorgeführt wurde. Echte, teils auch befremdliche Sorgen um Leib und Leben machen sich unterdessen todgeweihte Gefangene des dortigen Justizsystems. Auf die Suche nach makabren Spuren und modernen Anknüpfungspunkten begibt sich Martin Rath
In diesen Tagen schaffen es detaillierte rechtshistorische Vergleiche zwischen den USA und Europa sogar in die Feuilletons der großen Tageszeitungen. Anlass bietet natürlich die Verhaftung des französischen Spitzenpolitikers Dominique Strauss-Kahn in New York, insbesondere aber seine öffentliche Vorführung in Handschellen. In der "Frankfurter Allgemeinen" referiert Katja Gelinsky die Tradition dieser "perp walks" in der US-Justizgeschichte. Andreas Zielcke setzt den aktuellen Handschellen-Skandal in einen großen rechtshistorischen Vergleich, in dem er sich auf die unterschiedliche Ausprägung der Unschuldsvermutung in Europa und den USA konzentriert. Entgegen der anderslautenden rechtshistorischen Kolportage sei, so Zielcke, die Unschuldsvermutung von den naturrechtlich orientierten Juristen des alten Europas wesentlich früher und reifer entwickelt worden als bei den angelsächsischen Kollegen, namentlich in den USA.
Einen Hinweis darauf, dass sich kritische Verwunderung über die US-amerikanische Justiz-Vorführung nicht nur rechtshistorisch, sondern auch auf Unterschiede im positiven Recht zurückführen lässt, gibt Hans-Hagen Bremer im "Tagesspiegel": So habe die Medienaufsichtsbehörde Conseil Supérieur de l'Audiovisuel darauf aufmerksam gemacht, dass nach französischem Presserecht die Verbreitung von gefesselten Personen, die noch nicht rechtskräftig verurteilt worden seien, unter Strafe stünde.
Strafrechtsanalyse von der Zombie-Expertin
Die französischen Vorschriften zum Schutz strafprozessual bloß Beschuldigter vor der medialen "vierten Gewalt" könnten auch zum innereuropäischen Rechtsvergleich einladen – wie gut steht es etwa hierzulande um den Schutz von Beschuldigten und der "Würde des Gerichts" vor dem Boulevard? Doch lädt ein kurzer Aufsatz der US-amerikanischen Kulturwissenschaftlerin Colin Dayan in der Zeitschrift "Law, Culture and the Humanities" (2011, Seiten 170-172) dazu ein, die Frage nach grundsätzlichen Unterschieden zwischen dem Strafgedanken– grob gesprochen – in den USA und in Europa zu verschärfen.
Colin Dayan ist in der Literatur und Kultur des karibischen Raums bewandert und hat zu jenen kulturellen Phänomenen publiziert, die man hierzulande meist nur als Versatzstücke von Trash-Filmen wahrnimmt, Stichworte "Zombies" oder "Voodoo". Hinter beiden kulturellen Konzepten steckt im Kern eine Vorstellung, die wohl ein Relikt aus den Zeiten des transatlantischen Sklavenhandels ist: Menschen können durch Rituale ihrer lebendigen Persönlichkeit beraubt werden.
Solcherart für die kleineren oder größeren Perversionen der eigenen Kultur sensibilisiert, wendet sich Professor Dayan unter dem Titel "Who Owns the Body, and When Does it Die?" einem Detail der juristischen Diskussion um die Todesstrafe in den USA zu: Darf ein zum Tod verurteilter Mensch über seinen Leichnam etwa dahingehend verfügen, dass die Organe einer medizinischen Transplantation zugeführt werden?
In den USA scheiden sich offenbar die Geister an dieser Frage. Christian Longo, Insasse einer Todeszelle in Oregon, versuchte erfolglos – das ist die eine Seite – den Anspruch einzuklagen, über seinen Leichnam dergestalt verfügen zu dürfen. Colin Dayan wertet diesen Prozess des Todeskandidaten als den Versuch, mit dem Eigentumsanspruch am eigenen Körper auch ein Stück personaler Würde und Verantwortung angesichts abgeurteilter Schuld zurückzugewinnen.
Man würde sich in seinen Vorurteilen von der US-amerikanischen Justiz nicht bestätigt sehen, gäbe es daneben nicht auch die andere Seite: Im Staat Georgia diskutierten die Justizbehörden die Möglichkeit, künftig mittels Guillotine hinzurichten – um die Tötung effektiver und die Organe transplantationsfähig zu halten.
Vor der "EMRK": Henker wurden Mediziner
23 Stunden Isolationshaft am Tag sind auch für 'nur' lebenslang Inhaftierte in US-amerikanischen Gefängnissen keine Seltenheit, stellt Dayan fest. Zur Hinrichtung Verurteilten das posthum wirkende Recht an ihrem Körper zu geben, widerspräche ihrer Ansicht nach ganz grundsätzlichen Tendenzen der US-Justiz, die persönliche Autonomie der Verurteilten möglichst weitgehend zu zerstören.
Das mag die Fesseln an den Handgelenken des inzwischen zurückgetretenen IWF-Direktors in einem etwas milderen Licht erscheinen lassen. Und Juristen mögen hierzulande insgeheim aufatmen und Dankbarkeit dafür empfinden, dass solche Rechtsprobleme aus dem Todestrakt der US-amerikanischen Justiz im Geltungsbereich von Grundgesetz und Europäischer Menschenrechtskonvention (nebst Zusatzprotokollen) wie ein obszöner Stephen-King-Topos aus Übersee anmuten dürfen.
Dürfen sie aber nicht.
Denn es findet sich in der rechtshistorischen und -dogmatischen Literatur aus deutschen Landen noch mancher Anknüpfungspunkt zu den angelsächsischen Wirrungen. Einen bis heute in manchen Details des positiven Rechts kaum überholten Stoff für die juristische Gänsehaut bot etwa der Landgerichtsrat Dr. Georg Dotterweich in der "Juristischen Rundschau" des Jahres 1953 unter dem Titel "Die Rechtsverhältnisse an Goldplomben in den Kieferknochen beerdigter Leichen" (Seiten 174 bis 175). Wohl in Bamberg, so lässt Dotterweich vermuten, hatten sich "Leichenwärter" an Goldplomben bereichern wollen. Wegen der ungeklärten Eigentumsverhältnisse stellte sich die Frage, wie diese bösen Menschen zu bestrafen seien. Dotterweich klärt die Fragen mit Hilfe der zivilrechtlichen Dogmatik zu möglichen – oder besser: unmöglichen – Eigentumsrechten am menschlichen Körper: Geht eine Goldplombe in den Erbgang? Wenn nein, warum nicht?
Ohne die Ergebnisse verraten zu wollen: Der kurze Aufsatz des Landgerichtsrats Dr. Dotterweich aus dem Jahr 1953 kommt wunderbar bieder daher und öffnet nicht nur die Augen dafür, dass über obszön-gruselig anmutende Rechtsmaterien nicht nur auf US-amerikanischen Indianerfriedhöfen verhandelt wird. Doch gibt es noch mehr Stephen-King-Topik, auch in Europa, sogar in Deutschland.
Dass der zur Hinrichtung verurteilte Christian Longo aus Oregon seinen Körper nicht posthum für medizinische Zwecke zur Verfügung stellen darf, hat – wie Colin Dayan ausführt – damit zu tun, dass die Justizbehörden des angelsächsischen Rechtskreises seit dem 18. Jahrhundert illegale Sektionen zur medizinischen Ausbildung unterbanden. In Deutschland sollen damals die Henker mit den Überresten ihrer Opfer Handel getrieben haben. Angeblich standen Blut oder Knochenteile Hingerichteter beim einfachen Volk im Ruf, heilende Wirkung zu haben – eine unter Rechtshistorikern verbreitete Vorstellung, die Gisela Wilbertz in der "Zeitschrift für historische Forschung" (1999, Seiten 515-555) bestritt.
Sie kommt aber zu dem Ergebnis, dass die bis ins 18. Jahrhundert in wahren Familiendynastien organisierten deutschen Scharfrichter durchaus über medizinisches Fachwissen verfügten. Erst im Zeichen von Aufklärung und Fortschritt sollte dann manche althergebrachte Henkersfamilie neue Traditionen stiften – in Gestalt von Apotheker-, Ärzte- und Juristendynastien.
Geht ein Jurist zum Arzt
Der emeritierte Saarbrücker Professor Heike Jung erzählte jüngst in der Juristenzeitung (2011, 459-462), man erlebe "es als Jurist immer wieder, dass Ärzte, an die man sich als Patient wendet, zusammenzucken, wenn man sich als Jurist, gar als Strafrechtler 'outet'".
Leider kann Heike Jung das ängstliche Zusammenzucken des Mediziners im Angesicht des Juristen nicht auf den bösen Witz zurückführen, man habe in Gestalt von Scharfrichtern einst gemeinsame blutige Vorfahren gehabt. Jung sieht den Grund für die Furcht des Mediziners vor dem leidenden Juristen in den Fallstricken des ärztlichen Haftpflichtrechtes. In seinem Beitrag unter der Überschrift "Ärztliches und juristisches Denken im Vergleich" behandelt er indessen die im Alltag weniger oft reflektierten Gemeinsamkeiten beider Berufsgruppen – vom Denken in Kasuistiken bis zur mitunter angreifbaren Wissenschaftlichkeit medizinischer wie juristischer "Berufskunst".
Beiträge zur Interdisziplinarität soll man in Zeitschriften des dogmatischen Gewerbes "Recht" ja immer loben. Darum ist auch ein weiterer Beitrag in der gleichen Nummer der "JZ" zu erwähnen. Unter der Überschrift "Die genetische Optimierung des Menschen" findet sich der Beitrag des Münchener Öffentlichrechtlers Jens Kersten, der mit seiner Zwischenüberschrift "Plädoyer für eine Kritik unserer genetischen Vernunft" vielleicht ein bisschen dick aufträgt.
Die kompakte Darstellung aktueller juristischer Fragen, die sich aus den wachsenden medizinisch-technischen Möglichkeiten insbesondere der Präimplantationsdiagnostik ergeben, gehört aber durchaus in Juristen- wie Medizinerhand. Juristische Diskussionen um medizinisch-biologisch geprägte Themen hinterlassen ja sonst mitunter eine gewisse Ratlosigkeit: "Kann es einen freien Willen geben?" fragte beispielsweise Anja Schiemann in der "Neuen Juristischen Wochenschrift", um den "Risiken und Nebenwirkungen der Hirnforschung für das deutsche Strafrecht" nachzugehen (NJW 2004, 2.056-2.059).
"Wenn ich Sie gut behandle", könnte ein Arzt seinen juristisch gebildeten Patienten fragen, "ist es Ihnen dann wichtig, ob ich das aus freiem Willen tue oder emergent-determiniert?"
Das wäre keine schlechte Gegenfrage zu den meist etwas ergebnislosen juristischen Diskussionen um einen "freien Willen". Aber leider liegen ja in ärztlichen Wartezimmern nur selten juristische Fachzeitschriften aus.
Man muss natürlich zugeben: So viel von adeligen Köpfen und boulevardtauglichen Affären wie im Jahr 2011 steht ja auch wirklich selten in den bleiernen Blättern von "JZ" bis "NJW".
Handapparat:
Die eingangs erwähnten aktuellen Aufbereitungen der "DSK"-Affäre im transatlantischen Rechtsvergleich bieten Katja Gelinsky in der "FAZ", Andreas Zielcke in der "Süddeutschen" und Hans-Hagen Bremer im "Tagesspiegel".
Die Anmutung einer gewissen Trostlosigkeit, die von der Diskussion um "Willensfreiheit" ausgeht, lässt sich erschließen, wenn neben dem oben genannten auch der nachfolgende "NJW"-Artikel zur Hand genommen wird: "Entscheidungsfreiheit und Recht – Determinismus contra Indeterminismus" in: NJW 2004, Seiten 2.792-2.794.
Ob der genannte Landgerichtsrat Dr. Georg Dotterweich verwandt, verschwägert oder sogar identisch ist mit einem Helden der "Literarischen Leistungen des Bundesgerichtshofs" – dem Richter Dotterweich in "BGHSt 1" – entzieht sich leider der Kenntnis des Verfassers.
Der Zugang zu makabren Sachverhalten erschloss sich über das "Bestatter-Weblog".
Autor: Martin Rath, freier Lektor und Journalist, Köln.
Martin Rath, Recht frech / Die etwas andere Literaturübersicht: . In: Legal Tribune Online, 22.05.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3330 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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