Nachdem der "Atomausstieg" selbst in Parteien salonfähig geworden ist, die nie verdächtig waren, diesen Zweig der Stromproduktion abzusägen, fragt sich: Kommt als nächstes vielleicht die Diskussion um ein "bedingungsloses Grundeinkommen"? Die juristische Literatur zeigt viele Schattenseiten des "Hartz"-Systems. Beiträge zur Meinungsbildung, ausgesucht von Martin Rath.
Ob wohl eines Tages alles abgeschaltet wird wie ein durchgerostetes ukrainisches Atomkraftwerk: die Sozialämter der deutschen Gemeinden, die Leistungsverwaltung der "Agentur für Arbeit" und auch die sozialpädagogisch oder -therapeutisch inspirierten Armutsbürokratien so genannter "freier Träger", die rings um den staatlichen Komplex ins Kraut geschossen sind?
In Talkshows hält der bekannte Milliardär Götz Werner derzeit das Thema "bedingungsloses Grundeinkommen" warm und auch in allen seriösen politischen Parteien bleibt die Idee virulent, jedem Bürger von Staats wegen ein Einkommen zuzuteilen, das er nicht durch Arbeit erwirtschaften muss und das ihm zumindest fürs Gröbste im Leben reicht.
Gemeinsam ist allen Phantasien eines "bedingungslosen Grundeinkommens", soweit erkennbar, die Forderung, dass der volkstümlich nach seinem "Erfinder" Peter Hartz benannte Verwaltungskomplex dem neuen Modell zum Opfer fallen müsste – aus systematischen Gründen ebenso wie schlicht zur Gegenfinanzierung.
Juristische Schwachstellen der Armutsverwaltung
Es mag dahinstehen, ob die Unzufriedenheit Millionen Betroffener über die bürokratischen Tücken des "Hartz"-Komplexes ausreichen wird, die Parteien dazu zu nötigen, aus ihren höchst unterschiedlichen Diskussionspapieren ein gemeinsames Konzept eines "bedingungslosen Grundeinkommens" zusammenzupuzzeln. Zumal ja nicht klar ist, ob die Werner’sche Phantasie dann nicht neue bürokratische Monstren gebiert. Jedenfalls benennt die jüngere juristische Literatur eine Reihe von Stellen, an denen der real existierende Apparat der verwalteten Armut deutliche "Lecks" aufweist und die Betroffenen mit Unzufriedenheit kontaminiert.
Die "Neue Zeitschrift für Sozialrecht" eröffnete das Jahr mit einem Aufsatz der Freiburger Professorin für Arbeits- und Sozialrecht Katharina von Koppenfels-Spies. Unter dem etwas gewundenen Titel "Kooperation unter Zwang? – Eingliederungsvereinbarungen des SGB II im Lichte des Konzepts des 'aktivierenden Sozialstaats'" (NZS 2011, 1-8) belegt von Koppenfels-Spies, wie einseitig das politisch oft gepriesene gesetzliche Modell von "Fördern und Fordern" zugunsten des Forderns angelegt ist. Als zentrales Beispiel dient ihr die so genannte "Eingliederungsvereinbarung". Der Idee nach sollte dieses juristische Instrument dazu dienen, zwischen der staatlichen Stelle und dem hilfesuchenden Bürger einen Konsens darüber herzustellen, was beide Seiten dazu beitragen müssten, den Hilfesuchenden 'zurück in die Gesellschaft' zu bringen. Zu einem Konsens würde ein gewisses Maß an Freiwilligkeit gehören. Tatsächlich hat aber der Hilfesuchende, so eine Entscheidung des Bundessozialgerichts, noch nicht einmal den Anspruch, dass die Behörde mit ihm über den Inhalt der Vereinbarung auch nur verhandelt. Von Koppenfels-Spies urteilt: "Bei genauerer Untersuchung und Bewertung erweist sich die Konzeption der Eingliederungsvereinbarung ... als Form der Kooperation unter Zwang: Der immer wieder behauptete und in der gesetzlichen Ausgestaltung ... auch zum Ausdruck kommende Vertragscharakter der Eingliederungsvereinbarung stellt sich tatsächlich nur als Fassade bzw. Fiktion dar."
Wie das im Alltag aussieht, beschreibt Thomas Mahler in seinem höchst lesenswerten autobiografischen Bericht "In der Schlange. Mein Jahr auf Hartz IV". Nach einem erfolgreichen Studium der Philosophie kam Mahler nicht um den Antrag auf "Arbeitslosengeld II" herum. Eine Urszene der Bürokratie beschreibt er wie folgt: Nach einigen Wochen Schamfrist, in der sich das Amt nicht weiter um ihn kümmert, hat Mahler eine Art "Vorschule der Arbeitslosigkeit" zu besuchen: In einer nicht sonderlich anspruchsvollen Büroimmobilie versammeln sich Arbeitslose aller Herkunfts-, Bildungs- und Altersklassen, um von einem eher mäßig motivierten freien Mitarbeiter zu erfahren: Wie man eine Bewerbung schreibt. Dass in Lebensläufen gelogen werden muss. Und dass man tunlichst einmal die Eingliederungsvereinbarung lesen müsse, um herauszufinden, wie oft man sich nun monatlich bewerben müsse, um nicht Gefahr zu laufen, dass finanzielle Leistungen zum Lebensunterhalt gekürzt werden.
Die Berliner Arbeitslosen guckten, nach Mahlers Bericht, hier kollektiv zum ersten Mal in das amtliche Dokument und sind teils böse überrascht, was ihnen – vermeintlich freiwillig, konsensual verabredet – an eigenen Bemühungen abverlangt wird. Das böse Wort vom "Verwaltungsuntertan" läge da nicht fern.
Als ob Juristen Zweck- von Sinnlosigkeit abgrenzen könnten
Thomas Mahler berichtet von einer weiteren mehrwöchigen Trainingsmaßnahme, bei der im Rahmen eines "Ein-Euro-Jobs" ein sogenannter "Kiez-Kalender" gebastelt werden sollte. Schon weil kein Fotoapparat zur Verfügung stand, um "irgendwelche alten Gebäude (zu) fotografieren", einigten sich 'Trainer' und 'Trainierte' darauf, die Zeit ohne zielführende Aktivitäten totzuschlagen. Damit umgingen die Berliner Arbeitslosen ein juristisches Problem, das Thomas Vießmann, Richter am Landessozialgericht München, in seinem Artikel "Zum subjektiven Schutzzweck der 'Zusätzlichkeit' von 'Ein-Euro-Jobs' aus Sicht des erwerbsfähigen Hilfeempfängers" (NZS 2011, 128-132) thematisiert.
In der Öffentlichkeit viel kritisiert werden die "Ein-Euro-Jobs" ausgerechnet dort, wo die Arbeitslosen etwas Sinnvolles tun: Leisten sie beispielsweise handwerkliche Dienste, fühlen sich die zünftigen Handwerker zu Recht düpiert. Laut "herrschender Meinung" soll etwa das Handwerk vor der billigen Konkurrenz geschützt werden, indem durch "Ein-Euro-Jobs" nur "zusätzliche" Arbeiten erledigt werden dürfen – solche also, die so sinnlos sind wie die Totgeburt des Berliner "Kiez-Kalenders".
Bei dem Schutz der – vor allem wohl handwerklichen – Konkurrenz will es die "herrschende Meinung" belassen, was Richter Vießmann recht umwunden kritisiert: Könnten auch die Arbeitslosen vor den Sozialgerichten geltend machen, dass der zugewiesene "Ein-Euro-Job" keine "zusätzliche" Aufgabe an der Allgemeinheit erfüllt, könnten sie sich vor vielen völlig sinnlosen Tätigkeiten schützen.
Womit allerdings die Juristen vor der ziemlich unangenehmen Aufgabe stünden, definieren zu müssen, welche Arbeiten zwar einerseits wirtschaftlich zwecklos und damit konkurrenzfrei, andererseits aber gesellschaftlich (und vielleicht sogar auch aus der Perspektive des Arbeitslosen) sinnvoll sind.
Ob sich wohl die Sozialgerichte selbst mit dieser Definitionsarbeit bestrafen wollen, nur weil der Gesetzgeber keine Klarheit schaffen wollte – oder es vielleicht gar nicht konnte?
Zivil- und strafrechtliche Kollateralschadensgebiete
Der unter akademischen Plagiatsverdächtigen inzwischen wohl weltberühmte Professor Volker Rieble hat sich bereits im vergangenen Jahr Gedanken darüber gemacht, wie sich die fortbestehende Massenarbeitslosigkeit in angrenzenden Rechtsmaterien auswirkt.
Unter dem Titel "Mietzahlungsverzögerung durch Sozialbehörde" kritisierte der Münchener Arbeitsrechtler in der Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW 2010, 816-817) ein Urteil des VIII. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs (Urt. v. 21.10.2009, Az. VIII 64/09). Um es grob vereinfachend wiederzugeben: Es ging um Fälle, in denen Sozialbehörden die Mietzahlungen für Arbeitsuchende oder Wohngeldempfänger übernehmen. Der BGH hatte entschieden, dass ein Vermieter den Mietvertrag auch dann nicht fristlos kündigen darf, wenn die Mietzahlungen durch die Behörde, wie das laut Rieble oft geschieht, um Tage oder Wochen verspätet erfolgten. Rieble kritisierte das Urteil als "Gefühlsrecht" zugunsten der Hilfebedürftigen: "Mitgefühl mit der Mieterin ersetzt eine saubere Norm- und Interessenanalyse". Damit nehme die Zivilrechtspflege durch vordergründig soziales Denken Schaden, weil dogmatisch klarer denkende Richter sich zukünftig lieber in der Schiedsgerichtsbarkeit betätigen würden.
Zur zugrundeliegenden Problematik der Massenarbeitslosigkeit ist von Rieble der Satz dokumentiert: "Immer mehr Menschen sind zu doof, um zu arbeiten." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, online, 13. Juli 2010). Der Satz ist moralisch etwas anstößig, aber immerhin hat sich Rieble ja auch ausgiebig mit akademischen Plagiaten befasst.
Mag sein, dass die Träger betrügerisch erworbener Doktortitel "zu doof, um zu arbeiten" sind, für die Gruppe hilfebedürftiger Arbeitsloser stellt sich das Betrugsproblem allerdings auf andere, juristisch verzwickte Weise, nachzulesen in: "Sozialrechtliche Mitwirkungspflichten' und Sozial(leistungs)betrug" (Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) 2011, 131-136). Peter Bringewat, Richter am Landgericht Lüneburg, müht sich um den rechtsdogmatischen Beweis – grobschlächtig formuliert –, dass nicht in jeder Verletzung von Mitwirkungspflichten bei Entscheidungen des Sozialleistungsträgers schon ein (versuchter) Betrug zulasten der Behörde stecke.
Utopisches Ende des Elends?
In Thomas Mahlers Bericht über sein "Jahr auf Hartz IV" erzählt er von einer anonym bleibenden Mitleidenden, die der Sozialbehörde einen Kontoauszug vorenthielt, weil sich ein Geldgeschenk ihrer Mutter darauf verbucht fand. Ob sie 'nur' nach der nebenstrafrechtlichen Norm des Sozialgesetzbuchs oder nach dem allgemeinen Betrugstatbestand des Strafgesetzbuchs verfolgt würde, sollte man sie entdecken, dürfte der Dame gleichgültig bleiben.
Nicht gleichgültig dürfte indes eine andere Erkenntnis Peter Bringewats sein, in der ein überraschendes Konfliktpotenzial liegt: Bekannt ist, dass eine enorm hohe Zahl von Leistungsbescheiden der Sozialbehörden fehlerhaft ist. Bringewat fragt, leider eher nebenbei, warum dieser Umstand – soweit ihm bekannt – bisher noch keine Staatsanwaltschaft auf den Plan gerufen hat.
Konfliktscheu wie der Mensch ist, erfolgsverliebt wie es Politiker sind, könnte der utopische Wunsch, dem Elend der bürokratisch verwalteten 'Armut' mit einem "bedingungslosen Grundeinkommen" ein Ende zu machen, doch noch auf die Tagesordnung kommen.
Unter dem Titel "In den Teufelsmühlen. Eine Bilanz des Sozialstaats" berichtet allerdings Rainer Hank vom "Speenhamland Law", einer Armengesetzgebung, die es gegen Ende des 18. Jahrhunderts den englischen Gemeinden aufgab, dem Bedürftigen "ob er arbeitete oder nicht, eine Art garantiertes Grundeinkommen" auszuzahlen, "dessen Höhe an den Brotpreis gekoppelt war" (in: "Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken" Nr. 736/737, S. 1.018-1.028).
Beklagt wurde damals, dass durch den fehlenden Antrieb, auch unerfreuliche Arbeiten zu ergreifen, eine gewisse Verwahrlosung unter den Armen Englands anzutreffen sei – von ihren moralischen Einstellungen über die Bildungsbereitschaft bis zur Kleidung der Betroffenen. Der akademisch durchaus hoch gebildete Thomas Mahler beschreibt aus seinem "Jahr auf Hartz IV" ähnliche Selbsterfahrungen – vom steigenden Alkoholkonsum bis zur allgemeinen Antriebslosigkeit.
Das sind Selbsterfahrungen, die eine Gesellschaft in ihrer Gesamtheit vermutlich kaum jemals machen möchte. Selbst dann, wenn die verwaltete Armut der Gegenwart noch so viele juristische Tücken bereithält.
Leseempfehlungen:
Das wiederholt erwähnte Buch von Thomas Mahler, "In der Schlange. Mein Jahr auf Hartz IV" ist bei Goldmann erschienen, 1. Auflage, München 2011. Daneben empfiehlt sich die Lektüre von George Orwells "Erledigt in Paris und London" ("Down and Out in Paris and London", zuerst 1933), das dem Problem der Massenarbeitslosigkeit ein sehr viel härteres individuelles Gesicht gibt.
Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
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Martin Rath, Recht ärmlich / Eine etwas andere Literaturübersicht: . In: Legal Tribune Online, 24.04.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3106 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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