2/2: Gerichtsöffentlichkeit perdu
Manchmal klingt unter heutigen Justizpraktikern Wehmut an, obwohl die publizistischen Beobachter in der Weimarer Republik oft harsch mit der Strafjustiz ins Gericht gingen. Kurt Tucholsky war zornig, Paul Schlesinger voll kritischem Witz – doch: Wer hätte es nicht gern, lachend und weinend, seine Arbeit von großartigen Stilisten beobachtet zu sehen? Warum findet das so nicht mehr statt?
Günter Hirsch, zwischen 2000 und 2008 Präsident des Bundesgerichtshofs, erklärte einmal auf die Frage, ob die Justiz – im Vergleich zur Weimarer Republik – besser oder die Journalisten milder geworden seien: "Die Justiz hat Reputation gewonnen und deshalb hat sich diese scharfe Kritik einfach entschärft."
Man kann das eigentlich nicht wissen. Konnte Schlesinger am Beispiel des Berliner Eierhändlers den Fall eines nicht wirklich zu Ende ermittelten Betrugsvorwurfs erzählen, bliebe derlei heute in der Regel ein Stück Papier im Strafbefehlsverfahren.
Die publizistische Transparenz der Strafjustiz, auch der ach so großartige deutsche Föderalismus der Nachkriegszeit hat sie gefressen: Schlesinger singt ein Loblied auf Berlin, die Hauptstadt der Strafprozesse, mit ihren Landgerichten für Stadt und Umland und mit ihrem vielgerühmten Kammergericht. Damals brauchte kein Berliner Bürgermeister davon schwärmen, dass die Schattenseiten seiner Stadt Ausstrahlungskräfte hätten. Das übernahm die Strafjustiz und nicht zuletzt der Berichterstatter von der berühmten "Vossischen Zeitung".
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Ordnung herrschte damals übrigens auch in Berlin. Zum Beispiel bei der Post, die einem Radio-Besitzer das Radio-Hören madig machte, weil seine Frau statt der Genehmigung für ein Röhrenradio, vom Mann selbst gebaut, nur die für ein Detektorradio hatte erteilen lassen. Schlesinger spottet hübsch über die Schwerpunktstaatsanwaltschaft, die sich die Berliner Justiz fürs neue Medium Rundfunk bereits geschaffen hatte – mit mehr Renommee versehen als die Strafverfolgung von Taschendieben und Eierbetrügern.
Im Beleidigungsprozess gegen einen Vater, von dem sich ein Lehrer als "Prügelpädagoge" diffamiert sah, findet sich Sling in seinem Vorwitz wieder: Der Richter fragt einen Jungen aus Berlin-Lichtenberg im Zeugenstand, was er denn – statt sie zu züchtigen – tun würde, erwischte er Jungs bei einer Schulhofprügelei: "Ich würde fragen, warum sie sich verhauen."
Schlesinger war von dieser Antwort entzückt, dem Staatsanwalt missfiel sie zutiefst. Die Autorität des Staates werde von solchen Kindern strapaziert. Das war 1925, man dachte noch nicht an Ärgeres.
Vermutlich kann ein Rezensent seine Autorität, sollte er eine haben, leicht strapazieren, wenn er eine Empfehlung mit dem Wort "Pflichtlektüre" garniert. Versuchen wir es einfach: Wem nach witzig-geistreicher Lektüre über Zustände der Justiz ist, dem ist "Der Mensch, der schießt" Pflichtlektüre.
Sling (Paul Schlesinger): "Der Mensch, der schießt", Lilienfeld-Verlag, 400 Seiten, gebunden, ISBN 978-3940357274, 24,90 Euro.
Niggemeier-Tribut: Das besprochene Werk wurde, was zu erwähnen manchmal etwas albern ist, auf eigene Kosten angeschafft.
Martin Rath, Gerichtsjournalismus : . In: Legal Tribune Online, 05.01.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10548 (abgerufen am: 04.11.2024 )
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