Gastrosophie zum Weihnachtsschmaus: Der Gän­se­b­raten als Pro­bier­stein eines Rechts­ge­fühls?

von Martin Rath

25.12.2017

2/2: Was ist eine "einfache Speise"?

Das Oberverwaltungsgericht Koblenz hatte mit Urteil vom 26. Mai 2011 (Az. A 10010/11) darüber zu befinden, ob für eine Ein-Raum-Gaststätte eine Ausnahme vom grundsätzlichen Rauchverbot gegeben war. Als hier entscheidende Bedingung für die Ausnahme galt, dass in der Gaststätte "keine oder nur einfach zubereitete Speisen zum Verzehr an Ort und Stelle als untergeordnete Nebenleistung verabreicht" werden.

Das Ordnungsamt sah das Kriterium der "einfachen Speise" in einer Gastwirtschaft verletzt, in der es in den Vorweihnachtstagen des Jahres 2009 folgendes Speiseangebot entdeckte:

"Gulaschsuppe, Eintopf mit Wurst, Bratwurst mit Pommes, Salat mit Hähnchenbrust, Fleischkäse mit Ei und Bratkartoffeln, Hacksteak mit Bratkartoffeln und Sauerkraut, Kasseler mit Bratkartoffeln und Sauerkraut, Geschnetzeltes mit Nudeln, Rindfleisch mit Meerrettich und Kartoffeln, Schnitzel mit verschiedenen Saucen sowie Pommes und Salat."

Fraglich war, ob der nichtraucherschutzrechtliche Begriff der "einfachen Speise" identisch ist mit jenem Begriff der "einfachen Speise" in einem anderen gaststättenrechtlichen Feld, dem der Straußwirtschaft: Winzern kann zwecks Förderung ihres Wein-Verkaufs erlaubt sein, ihren primär trinkenden Kunden über einige Monate im Jahr gleichfalls "einfache Speisen" zu verkaufen.

Hierzu zählten, so die Koblenzer Richter, Speisen "deren Zubereitung keine besonderen Fertigkeiten sowie wenig Zeit und Mühe erfordert. Dabei ist zwar die Abgrenzung im Einzelnen nicht unumstritten, etwa inwieweit dem (geringen) Zeitaufwand bei bereits zubereitet gelieferten Gerichten und Fertigprodukten Bedeutung zuzumessen ist oder ob regionale Besonderheiten (z.B. bezüglich Spargelgerichten) zu berücksichtigen sind. Es wird jedoch nicht bezweifelt, dass Gerichte wie Rippchen mit Kraut und Zwiebel- oder Flammkuchen zu den in Straußwirtschaften zulässigen einfach zubereiteten Speisen zählen."

Gänsebraten als mehrfacher Probierstein

Zu überlegen ist, ob der Gänsebraten angesichts dieser Erwägungen gleichsam als Probierstein, gleichsam als äußerster Grenzfall einer "einfachen Küche" dienen kann.

Dies ist durchaus strittig.

Während beispielsweise ein gastronomisch jedenfalls informiertes Publikumsmedium wie die Zeitschrift "Brigitte" dazu auffordert, sogar im weihnachtlichen Nutrifikationsgeschäft auf die Zubereitung ganzer Gänse zu verzichten: "Lieber Gänsekeulen zubereiten als einen ganzen Gänsebraten – denn wer kann heute noch richtig tranchieren?", mochte noch im Jahr 1999 – möglicherweise aufgrund des landestypischen Selbstbilds als Tüftler und "Macher" – der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg nicht ausschließen, dass es sich auch bei Gänsebraten um einfache Kost handelt (Beschl. v. 2.12.1999, Az. 14 S 2795/99). 

Diese Frage ist, wenn nicht dem Wahrheitsbeweis, so doch dem juristischen Bauchgefühl zugänglich. Sollte etwa der Versuch, einen Gänsebraten in der privaten Küche zuzubereiten, mit hoher subjektiver Wahrscheinlichkeit in der Petrifikation des Vogels enden, käme ein entsprechendes Angebot in der Raucherkneipe wie der Straußenwirtschaft wohl gleichermaßen nicht in Betracht. Ein versteinerter Braten illustrierte zudem sehr schön die Verwendung eines Probiersteins.

Oder negiert das bauchbezogene Rechtsgefühl den Tatbestand der "einfachen Speise" erst ab dem Komplexitäts- und Risikograd der japanischen Fugu-Küche?

Lasst uns viele Probiersteine schleifen!

Ist das eine alberne Frage? Wenden wir sie ein bisschen ins Soziologische. In einer pluralistischen Gesellschaft fallen Lebenserfahrungen, die sich zu einem Bauchgefühl verfestigen, zwangsläufig sehr unterschiedlich aus.

Aus prominentem Richtermund war beispielsweise zu erfahren, dass Nahrungsmittel wie die Tiefkühlpizza gleichsam "mit einem pikanten Dressing aus vier Milliarden Litern Gülle" eingefroren würden.

Wie viel Geschmackssicherheit wäre, träfe das Bild zu, von Juristen zu erwarten, die sich im Studium bevorzugt oder auch nur gelegentlich von aufgetauten Fertigpizzen ernährten?

Oder eben in der kleinteiligeren Lebenswelterfahrung: Wie sollte ein auf vegetarische oder vegane Ernährung fixierter Richter, der die Zubereitung eines Gänsebratens nie selbst absolviert hat, ein vergleichbares Problem also gar nicht aus eigener Anschauung (recte: Verdauung) erfassen kann, hinsichtlich ihrer "Einfachheit" beurteilen – von der überschießenden ethischen Abscheu gar nicht zu sprechen?

Wäre jemand, der nie einen Führerschein erworben hat, überhaupt befähigt, ein Richteramt auszuüben? Oder wie steht es mit Anhängern religiöser Ideen aus?

Vielleicht wäre es keine schlechte Übung, Alltagssacherverhalte als Probiersteine zu formulieren. Nicht, um sie zu verbindlichen Faustregeln zu machen, sondern um sich über ihre Leistungsfähigkeit auszutauschen: Weil z.B. der regelmäßige Nutzer des öffentlichen Nahverkehrs für den Beginn einer Freiheitsberaubung ein anderes Bild wählen wird als ein Reichsgerichtsrat im ausgehenden 19. Jahrhundert mit seiner "Vater unser"-Länge.

Mit dem Gänsebraten als Probierstein mag man also vielleicht nur den Anfang machen.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Gastrosophie zum Weihnachtsschmaus: . In: Legal Tribune Online, 25.12.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26179 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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