Phantombücher: Vorsicht beim elektronischen Bibliographieren!

von Prof. Dr. Roland Schimmel

15.01.2011

"Phantombuch" - das Wort bezeichnet nicht die Sekundärliteratur zu Gaston Leroux' Phantom der Oper, sondern Bücher, die es nicht gibt. Über Bücher zu reden, die es nicht gibt, würde sich kaum lohnen – wenn sie nicht immer wieder durch die Quellenverzeichnisse anderer Bücher geistern würden.

Der amerikanische Internetskeptiker Clifford Stoll hat in Die Wüste Internet (Silicon snake oil, deutsch erstmals 1996) das Loblied des Zettelkatalogs gesungen und die Vorzüge der elektronischen Erfassung von Bibliotheksbeständen sehr zurückhaltend eingeschätzt. Das hat vor 15 Jahren kaum jemand ernst genommen. Im Gegenteil hat man sich schnell daran gewöhnt, bibliographische Informationen vom Schreibtisch-PC aus zu suchen, wenn sie gebraucht werden. Das kann leicht dazu führen, dass man nicht jedes zitierte Buch auch wirklich in die Hand genommen hat. Im Allgemeinen geht das gut – aber nicht immer: Phantombücher sind Ausnahmen.

Auf den ersten Blick sollte man annehmen, es gäbe keine Phantombücher. Ein Blick in die elektronischen Kataloge beweist das Gegenteil. Drei Beispiele:

1. Das "Handbuch der Geschäfts- und Wohnraummiete", herausgegeben von Wolf Bub und Gerhard Treier, ist zum letzten Mal 1999 in 3. Auflage erschienen. Wer nach der 4. Auflage sucht, findet sie – angeblich erschienen 2006 – über den Karlsruher Virtuellen Katalog in der Bibliothek der Handelskammer Hamburg. Im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek steht sie als angekündigt für 2005 (aber noch nicht im Bestand), im Verzeichnis lieferbarer Bücher und bei amazon.de derzeit als angekündigt für 2011; der Verlag C.H. Beck gibt die zweite Jahreshälfte 2011 an – aber das wäre nicht die erste Verschiebung des Erscheinungstermins.

2. Der nützliche Text von Heribert Hirte, "Der Zugang zu Rechtsquellen und Rechtsliteratur", Köln 1991, hätte mehr als eine Neuauflage verdient. Aber er ist nie neu aufgelegt worden. Geplant muss das indes mehrfach gewesen sein. Sonst wären die Einträge in etlichen elektronischen Bibliothekskatalogen kaum erklärlich, die eine zweite Auflage (angeblich Köln 2000, gelegentlich Köln 2004, einmal auch Köln 2009, mit Angabe der ISBN und des Seitenumfangs) verzeichnen. Wer darüber den Kopf schüttelt, kann es im Karlsruher Virtuellen Katalog nachprüfen. Selbst im seriösen Schrifttum wird eine dritte (!) Auflage Köln 2003 verzeichnet, etwa bei Theisen, "Wissenschaftliches Arbeiten", 15. Auflage 2009. Nach Auskunft des Verlags ist keine zweite Auflage in Sicht. Auf der Internetseite von Hirte an der Universität Hamburg findet sich auch kein Hinweis. Alle Ausgaben nach der Erstauflage von 1991 sind also Phantombücher. Wer mir ein Exemplar der 3. Auflage schickt, wird reich belohnt.

3. Der StGB-Kommentar von Holger Matt und Joachim Renzikowski war schon 2009 angekündigt und findet sich bereits hier und da im virtuellen Bestand von Fachbibliotheken; der Verlag verspricht das Erscheinen mittlerweile für das 2. Quartal 2011.

Gerade bei Sammelwerken mit zahlreichen Autoren kann man sich leicht vorstellen, welche Umstände die Fertigstellung des Buchs verzögern: Arbeitsüberlastung, Krankheit, familiäre Katastrophen bei einem der Autoren, damit Fristüberschreitung, zwischenzeitliche Gesetzesänderungen, Nachbesserungsbedarf auch bei den anderen Autoren, und das alles schlimmstenfalls in einer längeren Spirale...

Entstehung von Phantombüchern

Wie kommt es zu den irreführenden Karteileichen in den Bibliothekskatalogen? Die Verlage kündigen neue Bücher und neue Auflagen schon eine Weile vor Erscheinen an. Anhand der Vorbestellungen lässt sich nämlich nicht zuletzt die Auflagenhöhe recht gut kalkulieren. Die Bibliotheken legen meist schon einen Datensatz im OPAC an, wenn das Buch aufgrund solcher Ankündigungen bestellt ist. Erscheint das Buch gar nicht oder stark verspätet, hat es trotzdem schon vorher Spuren in den Katalogen hinterlassen. Deren verlässliche Bereinigung durch regelmäßige Datenbankpflege ist augenblicklich noch nicht gewährleistet.

Und was geschieht im Prüfungsgeschäft?

Nun könnte man über die Phantombücher hinweggehen. Schließlich sind sie doch eher eine Ausnahmeerscheinung. Mit Blick auf die Standards wissenschaftlichen Arbeitens darf man es sich aber nicht so leicht machen.

Besonders bei akademischen Abschlussarbeiten gilt: Wer ein Phantombuch zitiert, setzt sich dem Verdacht aus, unsorgfältig zu arbeiten und vielleicht das komplette Gutachten ohne Bibliotheksbesuch geschrieben zu haben. Nun wird kaum ein Prüfer auf ein einzelnes Versehen schon mit Punktabzug reagieren – meist nach dem Motto "wenn sonst nichts ist …!" Aber er beginnt eben besonders gründlich zu lesen. Spätestens wenn mehrere Unsorgfältigkeiten zusammenkommen, gibt es Abzüge. Diese werden meist noch nicht einmal besonders ausgewiesen und sind deshalb im Streitfall auch schwer anzugreifen. Dass auch jenseits des akademischen Betriebs an Glaubwürdigkeit verliert, wer sich auf Quellen stützt, die gar nicht existieren, ist nur noch am Rand zu erwähnen.

Einfache Vorsichtsmaßnahmen

Was ist zu tun? Man kann sich an die einfache Regel halten: Zitiere nichts, was Du nicht selbst in Händen gehabt hast. Schlimmstenfalls fällt das Quellenverzeichnis eben etwas schlanker aus. Wer ein fertiges Schrifttumsverzeichnis noch eben schnell online auf Aktualität prüfen will, muss besonders sorgfältig darauf achten, ob die angebliche Neuauflage auch wirklich physisch im Bestand der Bibliothek steht. Allein die Existenz eines Datensatzes in einer Katalogdatenbank erlaubt in dieser Hinsicht keine Schlüsse. Neben den ausdrücklichen Hinweisen angekündigt / bestellt / noch nicht im Haus geben ganz ordentliche Indizien auch Angaben wie ca. 2000 Seiten oder 3000 Seiten ab. Welches Buch hat schon genau 3000 Seiten?

Der Autor Roland Schimmel ist Rechtsanwalt und Professor an der Fachhochschule Frankfurt am Main.

 

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Zitiervorschlag

Roland Schimmel, Phantombücher: . In: Legal Tribune Online, 15.01.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2338 (abgerufen am: 15.11.2024 )

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