Wie seriös ist eine neurowissenschaftliche Kritik am Recht? Wirkt sich Religion aufs richterliche Urteil aus? Ist Chinas Verfassung von Interesse und was wissen wir schon über Franz Lieber aus Berlin? Eine Zeitschriften-Schau.
Fragen der Ethik, des Rechts oder der Ökonomie mit Blick auf Erkenntnisse der Neurowissenschaften neu zu stellen, hat in den vergangenen Jahren in Deutschland einen schlechten Beigeschmack angenommen. Verantwortlich dafür sind Gelehrte wie Gerald Hüther, die mit ihren medien- und kulturkritischen Vorträgen den Verstand der gelangweilten, aber irgendwie intellektuell interessierten Hausfrau (beiderlei Geschlechts) bedienen – und ihren Themen gern einen neurowissenschaftlichen Anstrich geben.
Dass es auch anders geht, belegt der in Zürich lehrende Jurist und Rechtsphilosoph Matthias Mahlmann mit der Vorab-Veröffentlichung seines Beitrags "Mind and Rights Neuroscience, Philosophy and the Foundations of Legal Justice", ein Kapitel aus dem 2017 zur Veröffentlichung anstehenden Band "Law, Reason and Emotion".
Mahlmann fragt unter anderem nach der Bedeutung der – neueren – Theorie des Bewusstseins ("theory of mind") für das Projekt der Menschenrechte, das durch die verheerende, weltanschaulich gerechtfertigte Gewalt in der Gegenwart unter Druck geraten sei, aber auch selbst als Weltanschauung von politischer Seite angegriffen werde.
Neuro-Denken: weniger Angriff als Hoffnung?
Eine neurowissenschaftlich fundierte Kritik an menschenrechtlicher Argumentation leitet sich u.a. daraus her, dass die beiden Denkstile der Ethik und des Rechts unterschiedlichen Gehirnleistungen zugeordnet werden könnten: Während die konsequentialistische bzw. utilitaristische Denkungsart kognitiv anspruchsvoll sei, beruhten deontische Urteile auf emotionalen Vorleistungen des menschlichen Bewusstseins. Für den Abiturjahrgang 2027 übersetzt: Pflichtethik sei dumm, Zweckethik klug.
Das Zentralgestirn der Menschenrechte, die Würde, wird nach diesem Verständnis zum Bauchgefühl. Menschenrechte sind dem Vorbehalt ausgesetzt, beliebige Wünsche auszudrücken. Mahlmann zeigt, dass dem in Deutschland mitunter regelrecht verhassten Utilitarismus – prominente Köpfe wie Peter Singer oder Norbert Hoerster wurden bekanntlich wiederholt am Zugang zur öffentlichen Diskussion gehindert – in seiner Forderung nach Gleichheit der Menschen selbst ein deontisches – und damit neuerdings als Gefühligkeit denunziertes – Element birgt.
Statt das aufgeklärte, der weltanschaulichen oder bauchgefühligen Beliebigkeit verdächtigte Projekt der Menschenrechte weiter zu unterminieren, könnte sich im neurowissenschaftlich inspirierten Verständnis des menschlichen Bewusstseins derweil auch eine universale, allen Menschen gemeinsame Grammatik rechtlicher Überzeugungen entdecken lassen – vergleichbar der angeborenen, allen menschlichen Sprachen zugrunde liegenden grammatischen Strukturen.
Religion statt neuronaler Grammatik
Nach dieser hoffnungsvollen Überlegung, wie das Projekt der Menschen-rechte als Beitrag zu einer besseren Welt gestärkt werden mag, lohnt ein Blick darauf, wie ein Komplex an Menschenrechten konkret zum lebenden Recht einer Gesellschaft wird.
Wie wirkt sich beispielsweise die Religionszugehörigkeit von Richtern auf ihr Entscheidungsverhalten in Grundrechtsfragen aus? Unter dem Titel "Religion and Judging on the Federal Courts of Appeals" legen Sepehr Shahshahani und Lawrence J. Liu eine statistische Untersuchung vor, die sich der Präferenzen jüdischer Richterinnen und Richter auf der mittleren Ebene der US-Bundesgerichte annimmt. Das Interesse der beiden Princeton-Gelehrten galt dabei Fällen der Religionsfreiheit, die sich in den USA einmal als Verbot staatskirchlicher Institutionen, zum anderen als Freiheit religiöser Praxis äußert.
Zum Rechtsstreit führen hier etwa das Verbot, im Gefängnis einen Bart von konfessionell bestimmter Länge zu tragen, rituelle Schlachtungen durch Angehörige afrikanischer Kulte oder die Verweigerung staatlicher Unterstützung nach einer Arbeitslosigkeit, die in der Folge eines religiös begründeten Rauschmittelgebrauchs eintrat.
Jüdische Richter als Vorbild für muslimische?
Shahshahani und Liu folgen mit ihrer Untersuchung einer in den USA lang gepflegten Forschungstradition, die sich dem Einfluss sozialer Faktoren auf richterliches Entscheidungsverhalten annimmt. Bekannt ist beispielsweise, dass eine Richterin im Spruchkörper die Chancen von Klägerinnen erhöht, mit Ansprüchen wegen sexueller Diskriminierung gehört zu werden, während weibliche Richter kein erhöhtes Interesse an Fällen bloß rassischer Diskriminierung zeigen.
Aus ihrem aktuellen Fall-Datenbestand (Zeitraum 2006 bis 2015) konnten Shahshahani und Liu herausarbeiten, dass jüdische Richter statistisch signifikant zugunsten von Anliegen auftreten, die die Trennung von Staat und Kirche befördern, während dies für die beiden anderen minoritären, nicht-protestantischen Richterpopulationen, Katholiken und Mormonen, nicht zu ermitteln war.
Mit einer Bevorzugung jüdischer Anspruchsteller hat dies zugleich nichts zu tun. Ihre Anliegen werden von Spruchkörpern, denen jüdische Richter angehören, tendenziell sogar abweisender behandelt.
Für die absehbare Berufung muslimischer Richterinnen und Richter sei ein Vergleich mit dem Entscheidungsverhalten ihrer jüdischen Kollegen interessant, die seit den 1910er Jahren in amerikanischen Gerichten reüssierten, meinen Shahshahani und Liu.
Derartige Fragen harren hierzulande leider nicht erst der Antwort, sondern schon der Frage – wir arbeiten derzeit ja noch an dem Rätsel, ob das "Kopftuch" eher seiner Trägerin oder dem umstehenden Publikum das freie Denken abschnürt.
Martin Rath, Perspektivwechsel: . In: Legal Tribune Online, 28.05.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23036 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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