Die moralische Art, mit der sich Jurastudenten neuerdings für Rechtsgeschichte interessierten, kritisierte Bernhard Schlink unlängst als Aspekt einer "Kultur des Denunziatorischen". Als Gegengift zum unterstellten Übermaß an Moral in studentischen Gedanken können Skripte dienen, mit denen viele Studenten ihre Bildung bestreiten. Ein ironischer Essay von Martin Rath.
Dass Studenten während der so genannten Semesterferien auch arbeiten müssen, akademisch oder zum Gelderwerb, zählt angesichts ihrer Omnipräsenz an den sonnigen oder aufregenden Plätzen dieses Planeten zu den gern übersehenen Seiten der Universitätsbildung. Über das, was im Lauf der vorangegangenen Wochen in den Hörsälen und Seminarräumen an vorzüglichen oder unangenehmen Erfahrungen zu sammeln war, ist dann, weit ab von Mensa und Unibibliothek, nicht mehr viel zu hören – geschweige denn zu lesen.
Für die Arbeit an der akademischen Reife scheint es allerdings während dieser universitären Atempause keine Friedenspflicht zu geben. Streitbare Kritik an einem angeblich neuerdings wieder festzustellenden Interesse von Jurastudenten an der Rechtsgeschichte übte Bernhard Schlink jedenfalls im "Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken". Ein Interesse, das von einer "Kultur des Denunziatorischen" beeinflusst sei.
Bernhard Schlink wurde in den 1990er-Jahren zum vielleicht berühmtesten Juristen Deutschlands. Als Professor für öffentliches Recht, renommierter Fachautor und inzwischen emeritierter Richter am Verfassungsgericht von Nordrhein-Westfalen zählte er zwar schon lange zuvor zu den Größen der deutschen Jurisprudenz. Über die Fachgrenzen hinaus bekannt wurde Schlink aber mit einigen bemerkenswerten Kriminalromanen. Sein Roman "Der Vorleser" machte ihn dann sogar weltberühmt. Die "Frankfurter Allgemeine" berichtete seinerzeit nachgerade ehrfürchtig davon, dass es der deutsche Schriftsteller und nebenamtliche Verfassungsrichter in die Sendung der US-amerikanischen Meinungsführerin Oprah Winfrey geschafft hatte.
Moralischer Anachronismus im Studium der Rechtsgeschichte?
Jenes neue Interesse von Jurastudenten an der Rechtsgeschichte macht Schlink im "Merkur"-Aufsatz in seinen gut besuchten Seminaren an der Humboldt-Universität aus. Hätten derartige Veranstaltungen früher acht bis zwölf Teilnehmer gehabt, seien sie nun voll. Den Gedanken daran, dass die Berliner Studenten möglicherweise nur ihrem bekanntesten Gelehrten die Seminartüren einlaufen, verbietet offenbar Schlinks Bescheidenheit.
Den rechtshistorisch interessierten Studenten führt der Dozent nun von seiner besseren wie von seiner besserungsbedürftigen Seite vor. Schauplatz der Vorführung: Schlinks Seminar behandelte die Geschichte der Rechtswissenschaft an der Humboldt-Universität von Friedrich Carl von Savigny, dem ersten Zivilrechtler dieser Hochschule, bis zu Uwe-Jens Heuer, einem der letzten Professoren für das Staatsrecht der DDR.
Schlink lobt seine Studenten für ihre Lernfähigkeit, soweit sie beispielsweise verstanden hätten, dass Savigny zwar den "Volksgeist" zur Grundlage von Rechtserkenntnis erklärt habe, eigentlich aber vom Geist der Juristen sprach. Die Studenten hätten durchaus begriffen, dass Carl Schmitts Begriff der Großraumordnung die Kriegs- und Eroberungspolitik des NS-Staats rechtfertigte oder Eduard Kohlrausch das "Blutschutzgesetz" für seriöse Gesetzgebung hielt.
Damit sei es aber auch mit dem Erkenntniswillen schon vorbei gewesen. Schlink schreibt: "War der Autor als reaktionär, interessen- und wirklichkeitsblind oder als nicht hinreichend demokratisch oder als nationalsozialistisch oder kommunistisch identifiziert, dann war er erledigt. Ein weiteres Interesse an ihm, seinen Texten und an dem historischen und systematischen Zusammenhang, in dem die Texte entstanden waren, erübrigte sich."
Als Ursache für den mangelnden Erkenntniswillen macht Schlink einen übermächtigen Drang zum moralischen Urteil aus. Die Bewertung historischer Personen und der Umstände ihrer intellektuellen Arbeit würden unbedacht nach heutigen moralischen Maßstäben be- und im Zweifel verurteilt. Dass es seine Studenten nicht besser wüssten, führt er auf eine in der deutschen Geschichtswissenschaft herrschende Lehre zurück, die ihr Fach als Einrichtung der moralischen Erziehung begreife – ihr gilt der Vorwurf des "Denunziatorischen" vor allem. Sicher nicht zu Unrecht, wie die Diskussion um die Studie zur Geschichte des Auswärtigen Amts zuletzt zeigte. Als weitere Quelle für das anachronistische moralische Urteilen macht Schlink bei seinen Studenten fast mitfühlend aus, was sich als deren mangelnde Fähigkeit beschreiben ließe, sich zwar distanziert, aber doch empathisch der Gedankenwelt der älteren Juristen zu öffnen.
Rechtsgeschichte aus dem "Skript" – ein Gegengift zum vorschnellen Moralurteil?
Mag sein, dass das moralische Urteil erbarmungslos und vorschnell ist. Die Forderung nach Geschwindigkeit begegnet Studenten der Rechtswissenschaft meist aber anders – und zwar als Frage, wie schnell sie ihr Studium abzuschließen gedenken. Ein anderes Wort für intellektuelle Erbarmungslosigkeit heißt "Examensrelevanz".
Auf der Suche nach dem, was als examensrelevant gilt, besuchen angehende Juristen in großer Zahl Repetitorien und nehmen – statt sich gemessen und mit langem Atem durch umfangreiche Lehrbücher zu quälen – "graue Literatur" zur Hand, kurz: Skripte.
Skripte kommen heute meist aus der Produktion von Repetitoren. Es heißt, ihre Autoren seien selten habilitiert. Professoren lesen Skripte angeblich nicht, aus ihnen zu zitieren gibt daher jeder noch so guten Hausarbeit den Todesstoß. Mit einer anderen unrühmlichen Mediengattung, der Pornografie, haben Skripte gemein, dass es vor 20, 30 Jahren als ganz unmöglich galt, sie zu konsumieren. Heute heißt es postmodern beliebig: "Warum nicht?" Auch kommen Skripte schnell zur Sache.
Nicht nur in den Kernbereichen der juristischen Ausbildung – vom Schuldrecht über Straf- und "Ö-Recht" – versprechen Skripte, die schmalen Schultern des Studenten von allzu tiefschürfenden Fragestellungen zu entlasten. Und sogar für die Rechtsgeschichte wird schnelle Befriedigung des Informationsbedürfnisses zugesagt.
Eine Probelektüre führt tatsächlich aus dem Staunen nicht heraus. Zur Hand genommen wurde das nicht ganz 300-seitige Heft "Rechtsgeschichte I" von Hemmer, Wüst und Schwertmann, das einen Überblick zum prüfungsrelevanten Wissen der deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte vom frühen Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert liefern soll. Die Lektüre des Werkes dürfte durch Kenntnis anderer Skripte zu juristischen Kerngebieten erleichtert werden. Denn es herrschen einfache Sätze vor, der Nominalstil wird gepflegt. Eine Unterbrechung des Leseflusses durch allzu zahlreiche Fußnoten wird unterlassen, soweit Belege geliefert werden, gibt es nur eine übersichtliche Zahl von Quellen. Dann sind es aber nahezu ausschließlich die ganz großen Rechtshistoriker, die zitiert werden – Namen wie Kroeschell, Coing oder Hattenhauer.
Wer sich von einem Skript wie diesem rechtshistorisch unterrichten lässt, wird nicht auf den Pfad moralischen Urteilsdrangs irregeführt. Das 20. Jahrhundert, in dem wohl nicht nur die forschen Studenten aus Bernhard Schlinks Berliner Seminar zahllose Belege für eine moralisch fragwürdige Rechtskultur entdecken dürften, wird auf maximal 20 Prozent der Seiten abgehandelt. Das ist bestimmt nicht zu viel des Bösen.
Freundlich, friedlich – nur nicht immer zu den Frauen
Das Hemmer-Skript kommt wieder und wieder auf die großen Linien der Rechtsgeschichte zurück. Zum Beispiel darauf, wie im Lauf der Zeit die Justizpraxis immer stärker vom rein mündlichen Betrieb auf das Schriftliche kam. Examinierte dürfen sich so der historischen Dimension des Aktenbocks im Referendariat gewahr werden. Dabei kamen in der Rechtsgeschichte natürlich Fehler vor. Die Hemmer-Autoren machen etwa auf die im Mittelalter weit verbreitete Praxis aufmerksam, dass wichtige Urkunden einfach gefälscht wurden. Eingefleischte Hamburger wissen ja, dass es mit der Gründungsurkunde ihrer Stadt nicht weit her war. "Hemmer" erklärt das milde: "Obwohl zu keiner Zeit an der objektiven Rechtswidrigkeit solcher Manipulationen Zweifel bestehen konnten, fehlte vielen Urkundenfälschern das Unrechtsbewusstsein".
Zugleich erklärt und wunderbar verklärt wird das Beamtentum. Fast scheint es, als ob "Hemmer" diese Zierde der bundesrepublikanischen Gegenwart auch schon der historischen Vergangenheit angedeihen lassen will. Schon zum kargen 18. Jahrhundert, spätestens für das frühe 19. Jahrhundert liest man: "Mit wachsendem Selbstbewusstsein waren es die führenden Köpfe der Verwaltung, welche die Staatsziele definierten und die Staatstätigkeit lenkten." Die Hemmer-Autoren sind so freundlich gesonnen, dass sie weder Platz finden für die boshafte Frage, ob angesichts zahlloser Beamter in den Parlamenten der Gegenwart sich daran etwas verändert habe. Noch wagen sie anzumerken, dass selbst die vielgerühmte preußische Beamtenschaft zu Zeiten des "aufgeklärten Absolutismus" so korrupt war wie in jedem beliebigen Drittweltstaat der Gegenwart.
Nicht ganz frei von anachronistischen Moraleinschüben sind die "Hemmer"-Historiker nur, wenn es um die Rolle der Frau in der deutschen Rechtsgeschichte geht. Vermutlich tragen sie der steigenden Zahl weiblicher Jurastudenten Rechnung, wenn sie wiederholt anmerken, wie "patriarchalisch" oder "wenig fortschrittlich" das Recht doch einst gewesen sei.
Mitfühlender Tippfehler "Freud'scher" Art?
In mindestens einem Fall ist den Hemmer-Autoren ein geradezu "Freud'scher" Tippfehler unterlaufen. Eigentlich ganz ordentlich erzählen sie zunächst die große Linie nach: Wo Konflikte zunächst ganz unzivilisiert mit Fehderecht und anderen "Hau-drauf"-Aktionen ausgetragen wurden, entstanden Gerichte mit gebildeten Juristen. Diese wussten mit solchen Neuigkeiten aufzuwarten wie dem Inquisitionsprozess. Neu am Inquisitionsprozess war die Folter. Mutmaßliche Hexen und Hexer mussten dabei vorbereitete Fragekataloge beantworten. Die Hemmer-Autoren beschreiben das so: "Insbesondere befragte man die Inquisition, ob und wann sie sich dem Satan ergeben, Gott und seinen Heiligen abgeschworen [...] habe."
Das ist ein "Freud'scher" Tippfehler, der wohl auf eine tiefsinnige Gutmütigkeit der Hemmer-Autoren schließen lässt. Denn natürlich befragte man nicht "die Inquisition", wie sie es mit dem Satan hält – denn dann hätte sich ja der freundliche Dominikaner- oder Franziskaner-Geistliche neben der Streckbank selbst befragen müssen – sondern die "Inquisitin", also die beschuldigte Frau. Geschlechtersensibel unterlassen die Hemmer-Autoren natürlich auch jeden Hinweis darauf, dass zwischen zehn und 30 Prozent der wegen Hexerei Verfolgten männlich waren.
"Hemmer" meidet Taktlosigkeit, die Schlink miterlebte
In einem kleinen Essayband, erschienen 2002 unter dem Titel "Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht" erzählt Bernhard Schlink eine Anekdote aus seinen Ausbildungsjahren. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Schlinks akademischer Lehrer, hatte zu einem Seminar einen älteren Kollegen eingeladen, Ernst Rudolf Huber (1903-1990). Huber hatte sich zwischen 1933 und 1945 deutlich exponiert, eines seiner Werke trug den markanten Titel "Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches", was zumindest im Rückblick als Widerspruch in sich wirkt. Schlink berichtet, wie damals, in den 1970er-Jahren, "ein Student den Gast sehr direkt danach fragte, wie er zu dem stehe, was er vor und nach 1933 geschrieben hatte, und Zitate präsentierte. Es waren nicht nur Huber indigniert und Böckenförde betreten, wir Seminarteilnehmer waren alle peinlich berührt wie von einer Taktlosigkeit."
Mit Skripten wie dem von "Hemmer" wird kein Nachwuchsjurist je in solche unangenehmen Situationen kommen. Man stelle sich vor, man säße in einem mündlichen Examen und alle schwiegen betreten, nur weil der Prüfling auf die Frage, wofür das Kürzel "VGH" stehe, nicht nur den "Verwaltungs-", sondern auch den "Volksgerichtshof" parat hält.
Die "Hemmer"-Skribenten sind so überaus freundlich, dass ihnen solch tückische Taktlosigkeiten gar nicht in den Sinn kämen, wie die Frage danach, warum die Nummern 2 bis 19 im "Schönfelder" nicht belegt sind. Gegen moralische Verwirrungen des juristischen Nachwuchses dürfte folglich kein besseres Kraut gewachsen sein als das Skripten-Studium auch in den so genannten Grundlagenfächern der Rechtsgeschichte, -philosophie und -theorie.
Der Frage, ob das jenseits der "Hemmer"-Produkte auch für andere "graue Literatur" gilt, wurde nicht nachgegangen. Sie hätte beim Rezensenten vermutlich zu moralischer Verkaterung geführt.
Lektüretipp:
Im "Rechtshistorischen Journal" 18, Seiten 92-100, lesen Sie, wenn Sie diese etwas apokryphe juristische Fachzeitschrift denn finden, unter dem Titel "Graue Rechtsgeschichte" eine Sammelrezension von Florian W. Herrmann zu anderen, insgesamt wohl etwas seriöseren rechtshistorischen Skripten. Angesichts des geringen Aktualisierungsbedarfs ist dieser Text noch frisch.
Martin Rath ist freier Journalist und Lektor in Köln.
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Martin Rath, Perlen der juristischen Bildung: . In: Legal Tribune Online, 02.10.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4446 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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