2/2: Die soziale Frage
Anders als Bismarck hält Stolberg mit Blick auf die aufkommende Industrieblüte zudem sozialpolitische Reformen für geboten. Das Thema ist ihm durchaus vertraut. Während seiner Zeit als Oberpräsident hatte sein langjähriger Mitarbeiter Julius Robert Bosse (der später zeitweise der Kommission zum Bürgerlichen Gesetzbuch vorstehen wird) bereits eine Stellungnahme zur sozialpolitischen Reformaufgabe der Regierung verfasst. Darin finden sich manche Anregungen, angefangen von der Reform der Gesindeordnung über das Strafgesetzbuch bis hin zur Einrichtung von Arbeiterhilfskassen.
Politisch verpuffen diese ersten Ansätze zwar weitgehend. Stolberg ist aber immerhin so konsequent, als Unternehmer diese Ideen in der eigenen Grafschaft umzusetzen. Dort entstehen bereits 1873 zunächst eine Kranken- und eine Pensionskasse, etwas später auch eine erste Unfallversicherung. Die Rente, so wird es später mal heißen, sei das Verdienst eines Politikers aus Wernigerode.
Nun bringt Bismarcks Vize diese Themen erneut aufs Tablet. Es geht darum, wie er schreibt, das Vertrauen der Arbeiterschaft zu Regierung, zu den Arbeitgebern und zu den besitzenden Klassen zu erfüllen. Ihn treiben also nicht zuletzt (macht-)politische Überlegungen an. Der Kanzler lässt seine Vorschläge allerdings abblitzen. Nachdem Stolberg aus Bismarcks Sicht auch noch dessen krankheitsbedingte Abwesenheit nutzt, um seine eigene politische Agenda voranzutreiben, wird er vom Kanzler kaltgestellt. Stolberg bittet nun mehrfach um Entlassung aus seinen Staatsämtern, seine Stellung sei ihm „unerträglich“ geworden. Nach anfänglichem Zögern entsprechen Kanzler und Kaiser seinem Gesuch schließlich im Juni 1881.
Stolbergs Ideen wirken nach
Stolberg ist schon seit zwei Jahren nicht mehr im Amt, als Bismarck selbst kurioserweise eine Wende vollzieht und 1883/84 zunächst die Reichsgesetze über die Kranken- und Unfallversicherung auf den Weg bringt, denen 1889 dann die zur Alters- und Invalidenversorgung folgen. Zwar beruhen auch diese Gesetze weniger auf sozialen Überlegungen als vielmehr auf politischem Kalkül. Dennoch sind es europaweit erste Vorstöße zu einer Sozialgesetzgebung und damit Meilensteine, die letztlich auf Stolbergs Initiativen und Vorarbeiten aufbauen. Überraschend kommt auch das nicht, war doch Stolbergs ehemaliger Mitarbeiter Julius Robert Bosse, inzwischen Leiter der sozialpolitischen Abteilung des Reichsamts des Inneren, wieder maßgeblich an alledem beteiligt. In seinen Lebenserinnerungen schreibt Stolberg dazu knapp und wohl nicht ganz ohne Genugtuung: "Die Gesetzgebung des Reichs folgte meinem Vorschlage".
Nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Vizekanzlers engagiert Stolberg sich weiterhin politisch und übernimmt ehrenamtliche Aufgaben. Zugleich kümmert er sich um die wirtschaftliche Entwicklung der Grafschaft. 1890 verleiht ihm Kaiser Wilhelm II. den Fürstentitel. Am 19. November 1896 stirbt der Politiker, Unternehmer und Diplomat mit 59 Jahren auf dem Familiensitz, Schloss Wernigerode.
Prof. Dr. André Niedostadek, LL.M. lehrt Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht an der Hochschule Harz mit Standorten in Halberstadt und Wernigerode. Sie können ihm auf Twitter folgen.
Olesya Herfurth ist öffentlich bestellte Übersetzerin und Lehrbeauftragte an der Hochschule Harz, Wernigerode. Sie führt zudem Besichtigungen auf Schloss Wernigerode durch.
André Niedostadek, Otto Graf und Fürst zu Stolberg-Wernigerode: . In: Legal Tribune Online, 19.11.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21202 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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