Während der Demonstrationen am Ostermontag 1986 setzte die bayerische Polizei erstmals Reizstoffe ein, die seinerzeit stark umstritten waren. Im folgenden Verfahren billigte die Justiz die polizeiliche Härte mit bürgerkriegsähnlichen Gefahren.
Eine zierliche Dame von vielleicht 50 Jahre saß in ihrem Bio-Garten, dem wohl keine Heckenschere je Gewalt angetan hatte. Vermutlich musste das sein, wenn das Herz politisch für die Partei mit der Sonnenblume im Wappen schlägt. Ihre Stimme ließ erkennen, dass sie in einem sozialen Beruf arbeitete, irgendetwas mit Kindern. Stets war sie, nennen wir sie Eva, in ihrer Ausdrucksweise sachlich und bestimmt. Ironie, Sarkasmus und andere Formen rhetorischer Brutalität waren ihr gänzlich fremd.
Vielleicht auch deshalb blieb das, was diese zierliche Dame in ihrem sonnendurchfluteten Bio-Garten erzählte, im Gedächtnis haften, obwohl es schon lange her ist, wohl Mitte der 1990er-Jahre. Denn Eva hatte sich, einige Jahre zuvor, wie der erste Mensch benommen, hatte Steine geworfen, zwar niemand getroffen, aber immerhin. Erstaunt hörte man von etwas, das man doch nun wirklich nicht tut.
Wackersdorf – Ostermontag 1986
Am Ostermontag des Jahres 1986 fanden sich vor dem Baugelände der atomaren Wiederaufbereitungsanlage im oberpfälzischen Wackersdorf neben den Teilnehmern einer angemeldeten Versammlung weitere Personen, die später als Gewalttäter oder Schaulustige qualifiziert werden sollten.
Während sich in einem Bereich vor dem Bauzaun friedliche Demonstranten trafen, unternahmen weitere Atomkraftgegner anderenorts Versuche, den Zaun zu beschädigen und warfen Molotow-Cocktails und Steine in Richtung der Polizisten, die sich auf dem Baugelände befanden.
Nach der Darstellung dieser Ostermontagsereignisse in einem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs München forderte die Polizei die Anwesenden mehrfach auf, die Angriffe einzustellen. Schließlich setzte sie Wasserwerfer ein, zunächst konventionell bewaffnet, dann unter Zusatz von CN- und CS-Reizstoffen. Auch sogenannte "feste Reizstoffwurfkörper", im Volksmund wohl: Tränengasgranaten, wurden gegen die Menschen vor dem Bauzaun verschossen.
Ein Teilnehmer einer friedlichen Versammlung vor dem Bauzaun klagte später vor den bayerischen Verwaltungsgerichten gegen den Tränengaseinsatz. Mehrfach war er von starken Wasserstößen auf den Hinterkopf getroffen worden, brennende Schmerzen in den Augen, im Gesicht und in den Beinen seien die Folge gewesen.
1981 – Ein Innenminister lernt Reizgas kennen
Dass man sich an den sozialdemokratischen Politiker und Ex-NRW-Innenminister Herbert Schnoor auch Jahre nach seiner Amtszeit (1980–1995) noch relativ gut erinnert, mag mit Stunts wie diesem zu tun haben:
Auf dem Gelände einer Bereitschaftspolizei-Direktion ließ sich der amtierende Innenminister 1981 von seinen Beamten mit einem Wasserwerfer beschießen, auch unter Einsatz des seinerzeit hoch umstrittenen Reizstoffs CS. Der Minister bedurfte hernach der Hilfe von bereitstehenden Sanitätern und äußerte, dass er sich "sauelend" und "wie ausgekotzt" fühle.
Gaseinsatz gegen Bürger trennt SPD und "Bürgerliche"
Heute kennt man Selbstversuche unter Amtsträgern eher vom gelegentlichen Alkoholkonsum von Richtern und Staatsanwälten, die im kontrollierten Setting ihre Verkehrstüchtigkeit einschätzen sollen. Es mag dahinstehen, ob den rechtlich geschützten Interessen der Bürger damit mehr gedient ist, als durch zehn Semester Übungen in Verhältnismäßigkeitserwägungen.
Schnoor erklärte nach seinem Selbstversuch jedenfalls, dass, solange er Innenminister sei, CS von der nordrhein-westfälischen Polizei nicht eingesetzt werde.
Der Gebrauch der CS abgekürzten Substanz 2-Chlorbenzylidenmalonsäuredinitril durch die Polizei teilte die alte Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung entlang der Parteigrenze SPD- und CDU- bzw. CSU-geführter Landesregierungen. Die Wirkung wird oft dahingehend beschrieben, dass neben einer Reizung der Augen und Atemwege der Eindruck des Erstickens entstehe, was die natürlichen Abwehr- und vor allem Fluchtinstinkte auslöst.
In größeren Dosierungen sowie unter bestimmten Einwirkungsbedingungen wird dem Stoff tödliche Wirkung nachgesagt - ein Umstand, mit dem sich in einem obiter dictum auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in der Sache des Ostermontagsdemonstranten befasste.
Gegenüber Soldaten fremder Mächte müssen die Streitkräfte der Bundesrepublik auf den Einsatz von CS-Gas verzichten, mit dem "Gesetz über das Genfer Protokoll wegen Verbots des Gaskriegs" vom 5. April 1929 ist seine Verwendung im Krieg verboten.
2/2: 1988 – VGH München zum Ostermontagsfall 1986
Dem Ostermontagsdemonstranten des Jahres 1986 attestierte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Urteil vom 16. Mai 1988 (Az. 21 B 87.02889) das Pech gehabt zu haben, sich nicht zusammen mit den gewalttätigen Demonstranten und bloßen Schaulustigen buchstäblich vom Acker gemacht zu haben.
Die Münchener Richter glaubten dem Mann, dass er friedliche Absichten gehabt habe und, durch Bildung einer Menschenkette, sogar aktiv darum bemüht gewesen sei, gewaltbereite Atomkraftgegner von Straftaten gegen den Bauzaun und die dahinter versammelte Polizei abzuhalten.
Möglichkeiten einer weniger martialischen Einsatztaktik der Polizei mochten die Verwaltungsrichter aber nicht entdecken. Dass die Polizei eher sparsam mit dem Reizgas umgegangen sei, war nach Erkenntnis des Gerichts schon daran zu sehen, dass die "immer wieder davon getroffenen Gewalttäter … ihre Angriffe trotzdem an immer neuen Stellen bis in die Dämmerung gegen 18.00 Uhr fortgesetzt" hätten.
Etwaige Dauerschäden des Klägers durch das Reizgas führten "nicht zur Unverhältnismäßigkeit des letztlich auf die Abwehr eines bürgerkriegsähnlichen Gesamtgeschehens gerichteten Mittels". Dass im Verlauf des Ostermontags 1986 ein anderer Demonstrant zu Wackersdorf "einen dann tödlichen Asthmaanfall erlitt" tue nichts zur Sache, weil dieser aufgrund der Windrichtung mit den Reizstoffen gar nicht "irgendwie in Berührung gekommen" sein könne.
Natürlich befassten die bayerischen Richter sich auch mit dem befremdlichen Umstand, dass der CS-Einsatz gegenüber fremden Soldaten, nicht aber gegenüber der eigenen Bevölkerung verboten ist – schließlich hieß es in der amtlichen Übersetzung des völkerrechtlichen Übereinkommens von 1929, dass „die Verwendung von erstickenden, giftigen oder gleichartigen Gasen ... im Kriege mit Recht in der allgemeinen Meinung der zivilisierten Welt verurteilt worden ist."
Zivilisation ist eben nur im Krieg wichtig, in einem "bürgerkriegsähnlichen Gesamtgeschehen" muss auch der friedliche Bürger im Zweifel einmal beide Augen zudrücken.
Staat in Rüstung
Die Bauarbeiten an der Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf wurden 1989 eingestellt, weil den Betreibern der deutschen Atomkraftwerke die Leistungen britischer und französischer Anbieter der Aufbereitung von Kernbrennstäben günstiger zu stehen kam als ihr bayerischer Eigenbetrieb. Der Freistaat Bayern hatte bis dahin neben erheblichen Kosten für das Gelände und die Polizeieinsätze auch ideell Schaden genommen. Die auf bis zu 14 Tage ausdehnbare Dauer des Unterbindungsgewahrsams nach Artt. 17, 20 Polizeiaufgabengesetz Bayern ist als rechtspolitische Reaktion darauf zu verstehen, Land und Leute in der Gefahr "bürgerkriegsähnlicher" Zustände zu rücken.
Die Ausstattung der Polizei mit Schutzkleidung und nichttödlicher Bewaffnung hat seither kein Ende gefunden. Wenn Polizistinnen und Polizisten heute Schwarzfahrern beim Ausstieg aus der Straßenbahn in einer Rüstung gegenübertreten, als kämen sie als Rittersleute frisch vom Schlachtfeld eines mittelalterlichen Krieges, steht dieses zusehends martialische Äußere auch in der Tradition jener historischen Ausschreitungen am Ostermontag 1986.
Autor: Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Aufrüstung der Polizei: Ostermontag 1986 und das CS-Gas . In: Legal Tribune Online, 28.03.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18891/ (abgerufen am: 18.07.2024 )
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