Neurowissenschaften: Ticken Anwaltsgehirne anders?

von Christoph Bublitz

27.06.2010

Was passiert im Gehirn, während Juristen Entscheidungen treffen? Gibt es neuronale Unterschiede zwischen moralischen und juristischen Urteilen? Bonner Forscher konnten bei Anwälten besondere Hirnvorgänge messen - und wunderten sich über deren emotionale Anteilnahme.

Schon David Hume und Immanuel Kant stritten darüber, wie normative Urteile entstehen. Während für Hume die Vernunft nur Sklavin der Affekte ist und alle moralischen Urteile auf Empfindungen beruhen, konnte für Kant nur die Vernunft allein dem sinnlich affizierten Willen moralische Gesetze geben.

Heutzutage sind die Neurowissenschaften auf der Suche nach dem "moral brain", einem auf Entscheidungsfindung spezialisierten Netzwerk von Hirnregionen. Einige Entdeckungen könnten in naher Zukunft für das Recht bedeutsam werden, etwa bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit oder Prognosen im Rahmen der Sicherungsverwahrung. Spruchreife Ergebnisse gibt es noch nicht. Allerdings deutet eine Vielzahl von Studien darauf hin, dass Emotionen und Intuitionen eine gewichtige Rolle beim moralischen Urteilen spielen.

Aber wie ist das bei rechtlichen Entscheidungen? Der vom Recht vorgesehene Weg zur Urteilsfindung besteht aus dem Finden und Anwenden von Regeln, aus logischen Schritten, in denen Emotionen und Intuitionen bloße Störfaktoren sind.

Soweit die Theorie – ob es sich dabei bloß um eine idealisierte Vorstellung vom rechtlichen Entscheiden handelt, versuchten Forscher um Prof. Henrik Walter an der Universität Bonn empirisch zu untersuchen. Auf neuronaler Ebene, so vermuteten sie, müssten sich Unterschiede zwischen moralischem und juristischem Urteilen finden lassen, insbesondere in den für emotionale Signalverarbeitung zuständigen Hirnregionen.

In einer der ersten Studien, die sich mit dem juristischen Entscheidungsfindungsprozess beschäftigte, legten die Forscher Anwälte und andere Akademiker in den Hirnscanner und zeichneten mittels funktioneller Magnetresonanztomographie deren Hirnaktivität beim Beurteilen moralischer Dilemmata auf: Darf ein Arzt dem Wunsch eines 15jährigen Mädchens nach einer Abtreibung auch ohne Kenntnis und Einwilligung der streng religiösen Eltern nachkommen? Die Probanden sollten eine Bewertung aus moralischer wie rechtlicher Perspektive treffen und angeben, wie sehr sie die Fälle emotional berührten.

Erst das Gefühl, dann das Recht

Es zeigte sich, dass moralische und juristische Urteile zunächst ähnliche Hirnregionen aktivieren. Nach kurzer Zeit jedoch setzt bei juristischen Urteilen eine stärkere Aktivierung des dorsolateralen präfrontalen Cortex (DLPFC) ein. Das legt nahe, dass auch juristische Entscheidungen zuerst von intuitiven und emotionalen Prozessen vorbereitet, dann aber von logischem Denken begleitet werden.

Nur bei Juristen trat ein für die Forscher unerwarteter und deshalb nicht sicher interpretierbarer Effekt auf: Eine verstärkte Aktivierung im mit kognitiven Aufgaben betrauten dorsalen anterioren cingulären Cortex (dACC) - vielleicht die neuronalen Korrelate des Subsumierens?

Für Diskussionen sorgte der Umstand, dass Juristen im Vergleich zu anderen Akademikern angaben, von den moralischen Zweifelsfragen weit weniger emotional berührt zu sein. Der Blick ins Gehirn lieferte dafür aber keinerlei Anzeichen. Möglicherweise, so spekulieren die Forscher, sei dies mit dem Wunsch des Juristen zu erklären, einem standestypischen Ideal emotionaler Zurückhaltung zu entsprechen.

Womöglich ist der Jurist also gar nicht so unterkühlt, wie er gemeinhin vorgibt. Sicher scheint jedoch, dass Juristen Zweifelsfragen auch auf neuronaler Ebene anders lösen. Dass spezielle Fähigkeiten zu spezieller Hirnaktivität führen, ist zwar keine verwunderliche, aber vielleicht eine bei den nächsten Gebührenverhandlungen überzeugende Tatsache. Zwischen Kant und Hume bleibt es bis auf weiteres unentschieden.

Jan-Christoph Bublitz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der juristischen Fakultät der Universität Hamburg. Er forscht auf den Gebieten des Strafrechts, der Rechtsphilosophie und der Bio- und Neuroethik.

Zitiervorschlag

Christoph Bublitz, Neurowissenschaften: . In: Legal Tribune Online, 27.06.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/640 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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