Am 29. Dezember 1959 hielt der Physiker Richard Feynman seinen berühmten Vortrag zur Nanotechnologie. Sie hinterlässt inzwischen ihre vielleicht bedenklichsten juristischen Spuren in Waschanlagen und im Beamtenfreizeitrecht.
Wie bedenklich Sachverhalte zu finden sind, ist natürlich relativ. Im internationalen Vergleich scheint sich Deutschland, was die Schnittstelle von Nanotechnologie und Jurisprudenz betrifft, im harmlosen Bereich zu bewegen.
In Mexiko erlitten beispielsweise im Jahr 2011 zwei Professoren Verletzungen durch einen Bombenanschlag, der einer ökoterroristischen Gruppe zugeschrieben wurde, deren Angehörige damit ihren Widerwillen gegen nanotechnologische Forschung ausdrücken wollten – wobei sie allerdings nicht nach Art deutscher Verbraucherschützer und Naturfreundinnen primär die problematische Wirkung zum Beispiel feinster Kunststoffpartikel in Kosmetika oder im Abwasser vor Augen hatten.
Ihr Manifest, das sich auf den berüchtigten US-amerikanischen Bombenleger Theodore Kaczynski (1942–) berief, formulierte vielmehr die Befürchtung, aus der Nanotechnologie könne "Grey Goo" entstehen – dass also eine hypothetische "Graue Schmiere" aus sich selbst reproduzierenden nanotechnologischen Kleinstmaschinen alles Leben auf der Erde zerfressen könne. Dieses apokalyptische Szenario wird seit 1986 auch wissenschaftlich halbwegs seriös diskutiert.
Harmlose deutsche Nanotechnik-Diskurse – bedauerlich oder zum Aufatmen?
Eine Rechtssache ist daraus, glaubt man der Berichterstattung, jedoch nicht geworden. Mexikanische Ermittlungsbehörden sind ja nicht unbedingt für die Produktion von öffentlicher Sicherheit bekannt.
Gemessen an solchen Schreckensszenarien verarbeitet das Mahlwerk des deutschen demokratischen und sozialen Rechtsstaats nanotechnologische Anliegen zu ganz erstaunlich biedermeierlichen Fragen. Ob das stets nur erbaulich ist, soll erst einmal dahingestellt bleiben.
Einige Beispiele aus der Justiz mögen die beherzte Harmlosigkeit des Themas hierzulande illustrieren.
Was deutsche Nachbarn von mexikanischen Terroristen unterscheidet, gibt etwa ein Urteil des Oberlandesgerichts Hamm vom 28. August 2014 zu erkennen (Az. 24 U 71/13). Hier hatten sich die Bewohner eines Hauses im Grenzgebiet zwischen einem allgemeinen Wohn- und einem gemischten Wohn- und Gewerbegebiet sowohl über die Geräusche beschwert, die von einer Autowaschanlage ausgingen, als auch über die möglichen Gefahren, die durch den Einsatz von Nanotechnologien bei der Reinigung der Kraftfahrzeuge für sie entstünden.
Während sich die Richter ausführlich mit der Geräuschbelastung befassten, zu der sie – was für den Senat entscheidungserheblich war – vor Ort eigenen Ohrenschein nahmen, fertigten sie die Klägerin mit Blick auf etwaige nanotechnologische Beeinträchtigungen kurzerhand ab.
Aus allerlei Datenblättern zur Feinstpartikelbelastung durch die in der Waschanlage verwendeten Emulsionen sei für sie wohl nichts zu gewinnen, selbst wenn hierzu weiterer Beweis erhoben worden wäre. Bemerkenswert ist an diesem Urteil, nebenbei notiert, dass das Lebens- und Dienstalter des richterlichen Hörvermögens nicht offengelegt wurden – mutmaßlich jüngere Richterinnenohren hatten sich zuvor an hohen Tönen gestört gefühlt.
Biedermeierlicher Zugang
Ein zweiter Fall, der sehr schön einen biedermeierlichen Zugang zur Nanotechnologie belegt, wurde am 28. Juli 2010 vor dem Verwaltungsgericht Düsseldorf beschieden (Az. 13 L 1091/10): Ein Landesbeamter hatte sich mit seinem Dienstherrn um die Verlängerung seines unbesoldeten Sonderurlaubs zum Zweck außerdienstlicher Entwicklungshilfeinteressen gestritten, musste sich aber entgegenhalten lassen, mit welcher Dringlichkeit seine Expertise unter anderem dazu benötigt werde, Erkenntnisse "zur Rohstoffeinsparung durch Einsatz von Nanotechnologien" in die Datenbanken der NRW-Umweltbürokratie einzuspeisen.
Der Beamte scheiterte hier. Ob es ihm später im Hauptsacheverfahren gelang, die Richter davon zu überzeugen, dass beispielsweise Kaffeepflücken in Nicaragua – oder was auch immer NRW-Beamten als Entwicklungshilfearbeit gilt –, wichtiger sei als Datenbankpflege zur Umweltgefahr von Nanotechnologie, ist leider nicht überliefert.
Im Vergleich zu diesen beiden eher putzigen Fällen kaum überschaubar sind Entscheidungen deutscher und europäischer Gerichte, in denen vor allem der werbliche Aspekt von neuen "Nano"-Komposita im Marken-, mitunter auch im Patentrecht eine Rolle spielt – ganz überwiegend scheint hier die Innovationshöhe von vermeintlich "Nano"-aufgerüsteten Produkten deutlich hinter dem schönen Wortklang einer neuen Reklamevokabel zurückzufallen.
Richard Feynman würde sich im Grab umdrehen
Dem berühmten Physiker Richard Feynman (1918–1988) würde es womöglich tief verblüffen, auf welch beschaulichem Niveau damit eines seiner nicht eben wenigen vorwitzigen Gedankenspiele angekommen ist.
Feynman, der 1965 – im Vergleich zur heutigen Praxis der schwedischen Stiftung – im geradezu kindlich anmutenden Alter von 47 Jahren den Nobelpreis für Physik erhalten hatte, zeigte eine stets koboldhafte Freude am Wissen: Unter seinen Kollegen war er zum Beispiel dafür berüchtigt, die Safes zu öffnen, in denen sie ihre Geheimdokumente aufzubewahren hatten – während des Manhattan-Projekts zur Entwicklung der ersten Atombombe und der damit einhergehenden, freilich nicht unberechtigten amerikanischen Spionage-Paranoia war das eine gewitzte Übung, die man sich kraft Überlegenheit in fachlichen Fragen leisten können musste.
Diese Mischung aus Frechheit und intellektuellem Vermögen machte auch Feynmans Vortrag vor der Jahresversammlung der Amerikanischen Physikalischen Gesellschaft aus, den er am 29. Dezember 1959 – heute vor 60 Jahren – hielt: "There's Plenty of Room at the Bottom" (zu deutsch als: "Viel Spielraum nach unten").
Am vorläufig noch fiktiven Beispiel, den Text von 24 Bänden der "Encyclopædia Britannica" auf einer Fläche unterzubringen, die nicht größer sein müsse als jene eines Stecknadelkopfes – durch noch zu entwickelnde Techniken einer Verkleinerung um das 25.000-Fache – machte Feynman die Idee der Nanotechnologie populär. Nach dem griechischen Wort für Zwerg, nános, wurde sie 1974 benannt.
Neben der Verdichtung von Information auf kleinster Fläche thematisierte Feynman bereits, was an technologischem Werkzeug des Schreibens und Lesens in der atomaren Größenordnung notwendig sei – seit 1982 ist die Beobachtung einzelner Atome mittels Rastertunnelmikroskop möglich, 1990 fand das IBM-Logo auf einem Nickelkristall Platz, geschrieben mit 35 Xenon-Atomen.
Ist das wichtig oder war das bloß Mode? Für alle jedenfalls, die unter der jüngsten Errungenschaft an der Schnittstelle von Digitaltechnologie und Justizbürokratie leiden, also dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA), mag es tröstlich und erschreckend zugleich sein, dass ein Vordenker der modernen Kryptographie, der amerikanische Mathematiker Ralph C. Merkle (1952–), als eines seiner heutigen Hauptinteressengebiete schon lange die Nanotechnologie angibt. Mal schauen, wann der erste Nanostaub durch einen Fall weht, dessen Wert nur fürs Amtsgericht genügt, dessen Informationsgehalt aber höher ist als die Textmenge des "Palandt".
Genügt die juristische Naturwissenschaftskommunikation?
Vielfach wird es kaum zu leisten sein, revolutionäre naturwissenschaftliche Entwicklungen bis aufs i-Tüpfelchen verstehen zu wollen.
Zwar darf es nicht bereits als freche Provokation gelten, wenn zum Beispiel in dem Autowaschanlagenfall von Richtern eine kurze biologische Selbstreflexion des eigenen, durchs Lebensalter modifizierten Hörvermögens zu dokumentieren erwartet würde.
Jedoch wirkt sogar manche höchstrichterliche Auseinandersetzung mit Naturwissenschaften mit der Zeit unfreiwillig komisch. Das berühmteste Beispiel gibt das Urteil des Reichsgerichts vom 20. Oktober 1896, in dem die Kollegen vom Landgericht Kiel ausführlich über die Gründe belehrt wurden, warum elektrischer Strom im Rechtssinn – und auch darüber hinaus – keine Sache sein könne (RGSt 29, S. 111–116). Niemand will sich mit dergleichen in Schriftsätzen verewigen. Hemmungen sind menschlich.
Was jedoch fehlt, sind Haltung und Neugier. Welcher Student ruft denn schon bei seiner alten Physiklehrerin an, um zu diskutieren, auf welche Weise das Reichsgericht mit seiner Elektronen-Lehre, juristischer Erstsemesterstoff, im naturwissenschaftlichen Detail richtig oder falsch lag?
Heraus kommt dabei eine Haltung, in der Sprachlosigkeit gegenüber den Natur-, aber auch den Sozialwissenschaften zum Regelfall zu werden droht.
So wird zum Beispiel jener nordrhein-westfälische Beamte, der sich im Jahr 2010 um Extra-Freizeit bemühte, kaum erstaunten Fragen des Gerichts begegnet sein, ob die Nanotechnologie, für die er zuständig war, überhaupt schon abfallkreislaufwirtschaftsrechtliche Relevanz erlangt habe – immerhin scheiterte auch an deren Postulat sein Urlaubsgesuch.
Und die Richter in Hamm kamen nicht auf die Idee, dass von den Reifen der Fahrzeuge umliegender Straßen, ja vielleicht sogar von den Schuhsohlen der Nachbarskinder auf dem Schulweg mehr Nano-Staub in die Lungen weht als von einer Autowaschanlage.
Die Deutsche Umwelthilfe lässt seit zwei Jahrzehnten erst die Justitiare, dann die Finanzvorstände der deutschen Automobilindustrie vor Gericht Blut husten, der Bogen zu mindestens ebenso schwerwiegenden Emissionsquellen wird aber, nicht zuletzt von Juristen zu selten geschlagen.
Aus der genialen Idee, die Richard Feynman am 29. Dezember 1959 äußerte, wurden in Deutschland unter anderem Werke von zweifelhafter juristischer Meisterschaft wie die "Richtlinien zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses in der Materialforschung: 'BMBF-Nachwuchswettbewerb NanoMatFutur'".
Wie wenig Begeisterung für den wissenschaftlichen Fortschritt hierzulande herrscht, wird also nicht nur in gerichtlichen Eingaben besorgter Bürger deutlich, sondern auch in Regelwerken wie diesem – irgendjemand hat ja für derlei Normenprosa acht Jahre Studium und Referendariat auf sich genommen.
Recht und Naturwissenschaft: . In: Legal Tribune Online, 29.12.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/39423 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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