Tapferkeit, Glücksspiel, Korruption und Montesquieu: Maltas Geist der Gesetze

von Martin Rath

26.12.2023

Kann man heutzutage noch wie seinerzeit Montesquieu von Landschaft und Klima auf Erkenntnisse über die Rechtsordnung schließen? Ein Versuch am Beispiel Malta.

Während Ungarn und Polen wegen Zweifeln an der Unabhängigkeit ihrer Justiz in den vergangenen Jahren harscher Kritik ausgesetzt waren, findet der kleinste EU-Mitgliedstaat wenig Beachtung. Ein Überblick zur Republik Malta.

Es ist aus guten Gründen aus der Mode gekommen, juristische Analysen von der Sorte zu produzieren, wie sie einer der berühmtesten Philosophen, Rechtsgelehrten und Richter Europas vorgelegt hat.

Im dritten Teil seines Werks "Vom Geist der Gesetze" ("De l'esprit des loix"), veröffentlicht im Jahr 1748, legte Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de Montesquieu dar, welchen Einfluss nach seiner Erkenntnis die Landschaft und das Klima auf die (Verfassungs-) Rechtsordnung eines Volkes nehmen, vermittelt durch den allgemeinen Geist, der unter anderem von solchen geografischen Bedingungen geprägt werde.

Es lohnt sich zwar nach wie vor, derlei zu lesen, weil es einen Eindruck davon vermittelt, wie sehr Ideen, die in der Epoche der Aufklärung erheblichen Glanz hatten, heute etwa über die Sozialen Medien als bloßer Stumpfsinn verbreitet werden – das vermittelt etwas Demut, was die Qualität des eigenen Wissens angeht. Belastbare Erkenntnisse mag man aber in Montesquieus juristisch-geografischer Geisterlehre nur noch selten sehen.

Maltesisch müsste man können

Die Republik Malta könnte jedoch dazu verführen, eine Ausnahme von dieser demütigen Zurückhaltung zu machen.

Mit seinen drei Hauptinseln Malta, Gozo und Comino sowie einer Anzahl kleiner Inseln misst der maltesische Archipel mit seinen rund 520.000 Einwohnern nur rund 316 Quadratkilometer, ist also an Fläche nur unwesentlich größer als München, kleiner als die Stadt Dresden.

Das Maltesische, das seine Wurzeln im Arabischen hat, ist die einzige in einem europäischen Land entstandene, in lateinischen Buchstaben geschriebene semitische Sprache, wobei die britische Kolonialmacht, die zwischen 1800 und 1964 über die Inseln herrschte, ein Interesse an ihrer Förderung hatte – sie begrenzte den italienischen Einfluss.

Montesquieus rechtssoziologisches und rechtsgeografisches Denken mag hier nicht ganz abwegig sein, denn mit dem Baskischen, Finnischen und Ungarischen hat das Maltesische gemein, dass Muttersprachler zwar animiert sind, sich die Verkehrssprachen der größeren Welt anzueignen, es aber nur wenige Auswärtige gibt, die aktiv verstehen, was vor Ort muttersprachlich gedruckt, gesprochen oder in Sozialen Medien verbreitet wird.

Die spezielle Tapferkeit der Inselnation im 2. Weltkrieg

Es vermittelt sogar ein Blick in die Verfassung Maltas, Chapter I, Ziffer 3 Nr. 2, indirekt Aufschluss über die strategische Lage des Archipels. Es heißt dort: "A representation of the George Cross awarded to Malta by His Majesty King George the Sixth on the 15th April, 1942 is carried, edged with red, in the canton of the white stripe."

Es mag die Europäische Union im Jahr 2012 zu Recht den Friedensnobelpreis erhalten haben. In der zitierten Vorschrift der maltesischen Verfassung wird aber ein robusteres Mandat dokumentiert: König Georg VI. (1895–1952) verlieh der Bevölkerung Maltas 1942 die von ihm gestiftete höchste zivile Auszeichnung für Tapferkeit, weil die Inseln massiven Angriffen durch die deutsche und italienische Luftwaffe ausgesetzt waren und ihre Versorgung durch eine Seeblockade bedroht wurde.

An Malta kamen Römer und Karthager schon während der punischen Kriege strategisch nicht vorbei, die Wege des Feindes ließen sich aufgrund der Lage der Inseln gut durchkreuzen. Auch die massiven, mit Stalingrad zu vergleichenden Verluste der deutschen Wehrmacht in Nordafrika im Zweiten Weltkrieg waren nicht zuletzt auf die britische Hoheit über Malta zurückzuführen.

Einen feinen Witz über die eigene Insel machte die britische Regierung übrigens im Jahr 2021, als der Tapferkeitsorden, gestiftet für "acts of the greatest heroism or of the most conspicuous courage in circumstances of extreme danger", an den eigenen National Health Service verliehen wurde.

Glücksspiel am Ende der Wertschöpfungskette

Der Blick in eine handelsübliche Urteilsdatenbank vermittelt schließlich das Bild einer insularen Republik, weitab von den umsatzstarken Wertschöpfungsketten im Herzen der Europäischen Union.

Als fortgesetzten Versuch, jedenfalls am Ende aller Wertschöpfungsketten etwas Umsatz zu machen, lassen sich die auf Malta recht großzügig lizensierten Online-Glücksspiel-Unternehmen betrachten. Ein frühes Beispiel gab das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 15. September 2011 (Az. C-347/09), das sich der Frage annahm, ob und unter welchen Umständen, gemessen an der EU-Dienstleistungsfreiheit, das Glücksspielmonopol in der Republik Österreich dem Onlinekasino-Betrieb aus Malta entgegenstehen durfte.

Es soll hier nicht das ausgesprochen verzwickte System der Überwachung des Glücksspiels in den EU-Staaten referiert werden, doch fällt in der Verfassung Maltas ein weiterer Beleg für die bei Montesquieu ausgeborgte Idee ins Auge, dass die isolierte geografische Lage des Archipels einen gewissen Einfluss aufs juristische Gemüt haben könnte. In Chapter I, Ziffer 2, Nrn. 1–2 der Verfassung Maltas heißt es: "Die Religion Maltas ist jene der römisch-katholischen, apostolischen Kirche. Die Autoritäten der römisch-katholischen apostolischen Kirche haben die Pflicht und das Recht zu lehren, welche Grundsätze richtig und welche falsch sind."

Im Katechismus der katholischen Kirche von 1992 heißt es (Ziffer 2413), in Auslegung des siebten Gebots, man solle nicht stehlen, dass Glücksspiele oder Wetten zwar an sich nicht ungerecht seien, aber sittlich unzulässig würden, wenn sie jemanden um etwas bringen, das er zu seinem oder zum Lebensunterhalt anderer Menschen benötigt. Niemand dürfe zum Sklaven des Glücksspiels gemacht werden. Eine ungerechte Wette oder ein Betrug im Spiel sei nur dann keine schwerwiegende Sünde, wenn der Schaden zu klein sei, als dass ein vernünftiger Geschädigter ihn ernst nehmen könnte.

Mehrere Jahrhunderte wurden die Inseln vom zutiefst katholischen Souveränen Malteseroden regiert. Das sollte eigentlich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, dem Katechismus zu folgen. Aber leider ist nicht bekannt, ob sich das Parlament Maltas hier am Verfassungsgebot ausrichtet, im Glücksspielrecht der Lehre der katholischen Kirche zu folgen. Maltesisch müsste man können.

Der John Dalli-Skandal – mindestens so spannend wie zwei bis drei erschlichene Dissertationen

Das Gefühl, dass Rechtssachen aus Malta ein wenig unter dem Radar auch politisch interessierter Köpfe bleiben, jedenfalls wenn man den Vergleich mit dem unaufhörlichen Gepolter zu Warschau und Budapest zieht, stellt sich auch bei zwei Entscheidungen ein, die für das Verständnis normativer Grundlagen der europäischen Ordnung nicht ganz unbedeutend sein könnten.

So beschied der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 25. Februar 2021 (Az. C-615/19 P) die Schadensersatzklage des maltesischen Berufspolitikers John Dalli abschlägig, der sich im Oktober 2012 nach Ermittlungen des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) zu Unrecht genötigt sah, vom Amt des EU-Kommissars für Gesundheit und Verbraucherschutz zurückzutreten. Für seinen immateriellen Schaden hatte Dalli einen Euro, für seinen materiellen Schaden vorläufig gut 1,9 Millionen Euro verlangt, nachdem er durch eine für nichtig zu befindende – mündliche – Erklärung des EU-Kommissionspräsidenten zum sofortigen Ausscheiden aus dem Amt gebracht worden sei. Obwohl die Sache politisch mindestens so spannend ist wie zwei bis drei erschlichene Doktorarbeiten deutscher Berufspolitiker zusammengerechnet, berichtete offenbar nur LTO.

Und auch eine weitere maltesische Rechtssache betraf eine Frage, die jede Republik mit dem Anspruch, ihre Staatsgewalt zu teilen, brennend interessieren muss. Mit Urteil vom 20. April 2021 befand der Europäische Gerichtshof (Az. C-896/19), dass die Berufung von Richtern durch den Premierminister bei hinreichender Mitwirkung eines unabhängigen Gremiums einer Prüfung nach europarechtlichen Maßstäben zwar zugänglich ist, im vorliegenden Fall aber zulässig war. Die Meldung finden wir, wiederum, bei LTO.

Mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, Korruption – ist das noch mit dem Klima zu erklären?

Unter dem Titel "Malta's Rule of Law in Crisis: Perspectives from a Captured Member State" hat Benedetta Lobina, eine an der Universität zu Dublin tätige Juristin, im Dezember 2023 eine relativ umfangreiche Auseinandersetzung mit Malta vorgelegt.

Lobina stellt fest, dass der kleinste Mitgliedstaat der Europäischen Union trotz einer rasch an Umfang wachsenden Literatur zur Rechtsstaatlichkeit in Europa weitgehend übersehen worden sei.

Zu beklagen sind in der Republik Malta, folgt man Lobina, eine mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, Schwierigkeiten der Medien mit der Staatsgewalt, ein sowohl von der konservativen Wirtschaftspresse als auch von Transparency International moniertes Ausmaß an Korruption und der Verkauf der EU-Staatsangehörigkeit an Menschen aus Drittstaaten.

Interessant, zumal in den gegenwärtigen EU-skeptischen Zeiten, ist ein Hinweis Lobinas: Während öffentlich breit diskutierte Probleme von EU-Mitgliedern in Sachen Unabhängigkeit der Justiz, Freiheit der Presse und politischer Korruption bisher meist ehemalige Ostblockstaaten betrafen – Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Polen –, zählte Malta zur Gruppe der "westlichen" Neumitglieder des europäischen Staatenverbunds.

Entsprechend könnte es lehrreich sein, weiter zu erschließen, wie eine in der Tradition der westlichen Gesellschaften stehende Republik sich systematisch wesentlicher Maßstäbe der rechtsstaatlichen Ordnung, der parlamentarischen und massenmedialen Verantwortlichkeit ihrer Regierungen zu entledigen begann – schließlich sollten Politikerinnen und Politiker hier, noch weniger als in den bis 1989/90 unter sowjetischer Oberhoheit stehenden Gesellschaften, Narrenfreiheit für sich reklamieren können.

Eines dürfte spätestens hier sicher sein: Wenn demokratische Republiken sich nicht mehr an die juristischen Spielregeln halten, denen sie eigentlich unterworfen sein sollten, lässt sich das kaum allein mit Landschaft und Klima begründen.

Zitiervorschlag

Tapferkeit, Glücksspiel, Korruption und Montesquieu: . In: Legal Tribune Online, 26.12.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53490 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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