Zwar können Isländer bekanntlich dank intensiver Sprachpflege noch mühelos in mittelalterlichen Sagas schmökern. Aber was ist das schon gegen die Fähigkeit deutscher Juristen, in den sagenhaften Entscheidungen des Reichsgerichts zu blättern? Gut, verdürbe nicht Frakturschrift die Leselust. Mit einer Lesefrüchtesammlung aus dem Jahr 1912 will Martin Rath Rechtsgeschichte versüßen.
Es muss eine putzige Szene gewesen sein, die sich damals in einem Beratungszimmer des Landgerichts Cottbus abgespielt hat. Die Herren Richter, wir stellen sie uns wie den Lehrkörper in der "Feuerzangenbowle" vor, beugten sich über Schmierpapier, auf das sie ihre Unterschriften kritzelten. Wiederholt, um herauszufinden, ob wohl eine Unterschrift der nächsten gliche oder ob minimale Abweichungen unvermeidbar seien.
Das Reichsgericht hatte in seinem Anfang 1912 ergangenen Urteil nichts an diesen rührenden Bemühungen der Kollegen zur Wahrheitsfindung in einem Strafprozess um einen gefälschten Wechsel auszusetzen. Dem Angeklagten war vorgeworfen worden, eine Unterschrift auf einem Wechsel mittels "Durchpausen" kopiert zu haben. Ein Sachverständiger hatte zwar in der Hauptverhandlung bereits ausgesagt, dass niemand in der Lage sei, eine exakt gleiche Unterschrift hinzubekommen – ohne solche Fälschungsmethoden einzusetzen. Das Landgericht war auch der Auffassung, diese Erkenntnis sei "gerichtsbekannt", müsste also nicht weiter bewiesen werden.
Obskure "Beweisaufnahme" im Richterzimmer
Im Beratungszimmer übten die Landgerichtsräte aber lieber doch noch einmal, ob dieses "gerichtsnotorische" Wissen wohl richtig sei. Dass diese Erkenntnis aus dem richterlichen Selbstversuch nicht in die Hauptverhandlung eingeführt worden war, rügte die Verteidigung mit der Revision zum Leipziger Reichsgericht – wegen Verletzung von Paragraph 260 der Strafprozessordnung (StPO). Doch die obersten deutschen Strafrichter winkten die Schreibversuche im Richterzimmer durch (Urt. v. 03.02.1912, Az. II 1306/11).
Erstens habe die putzige Szene zwar den äußeren Anschein einer Beweisaufnahme gehabt, sei aber in Wahrheit nur eine Selbstvergewisserung der Richter darüber gewesen, ob man schon alle Beweise beisammen habe oder ob man noch weiter ermitteln müsse. Zweitens hatte der Verteidiger, der offenbar persönlich nach Leipzig angereist war, in der Revisionsverhandlung zugegeben, die Schreibübung in Cottbus selbst angeregt zu haben.
Ehrenfragen einer Studentenverbindung
Dem Bundesgerichtshof (BGH), als selbsterklärtem Nachfolger des Reichsgerichts, dürften solche provinziellen Probleme erspart bleiben – zumindest erwartet man heute von Strafverteidigern eine geschicktere Diskussion von Revisionsfragen.
Günstiges Geschick, was die richtige Erklärung zur richtigen Zeit betrifft, kam hingegen dem "Alten Herren" einer studentischen Verbindung aus Darmstadt zugute, dessen Sache vom Reichsgericht am 3. Januar 1912 mit Urteil des fünften Zivilsenats beschieden wurde (V 322/11). Der klagende Korpsbruder war vom "Außerordentlichen Alte-Herren-Convent", wie es im Reichsgerichtsurteil heißt, "wegen wissentlich falscher Abgabe seines Ehrenworts mit der Strafe der 'perpetuellen Dimission unter Absprechung der Satisfaktionsfähigkeit'" bestraft worden. Bevor der Convent die "perpetuelle Dimission" – zu Deutsch: den Ausschluss – aussprechen konnte, hatte der "Alte Herr" schon seinen Austritt erklärt. Er klagte nun – um seine Ehre wiederherzustellen – darauf, festzustellen, dass seinen alten Vereinskameraden das Recht zum Ausschluss nicht mehr zur Verfügung gestanden habe. Er war ja schon fort. Die Frage, ob das Ausscheiden aus der studentischen Verbindung durch einseitige Erklärung erfolgt oder als zweiseitiges Rechtsgeschäft anzusehen sei, also von der Zustimmung des Convents abhängig war, beschäftigte erst das Landgericht, dann das Oberlandesgericht Darmstadt mit je unterschiedlichen Ergebnissen.
Das Reichsgericht befand schließlich, dass der Austritt aus dem Corps auf die damals noch frische Vorschrift des Paragrafen 723 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) gestützt werden konnte, der dem Mitglied einer auf unbestimmte Zeit angelegten Gesellschaft bürgerlichen Rechts grundsätzlich jederzeit die Kündigung erlaubt. Und diese Subsumtion musste über drei Spruchkörper verteilt werden? Vielleicht waren den Richtern im Großherzogtum Hessen diese an sich schlichten Normkniffe noch nicht vertraut, jedenfalls wurden sie vom Reichsgericht in der Sache nicht so "zusammengefaltet", wie es heute die BGH-Kollegen in einer ähnlich einfachen Sache mit dem richterlichen Fußvolk vermutlich tun würden. Mag aber auch sein, dass der Ausschluss oder Austritt aus einer studentischen Verbindung die Richter allesamt Blut schwitzen ließ.
Denn während sich heute beileibe nicht nur die studentische Jeunesse dorée in satanistisch anmutenden Geschäften "piercen" lässt, griff die akademische Jugend damals zu Säbel und Degen, um sich in rituellen Kämpfen gegenseitig Zierwunden beizubringen. Das dabei erworbene "symbolische Kapital" der Ehre nun vor Gericht zu verhandeln, dürfte allen Beteiligten schwergefallen sein – und zwar nicht nur den Prozessparteien.
Skurrile Auskünfte über das Wesen der Geldstrafe
Die Idee, das öffentliche Ansehen eines Juristen oder eines Arztes von der Qualität der "Schmisse", der Narben im Gesicht, abhängig zu machen, ist heute so gründlich in Vergessenheit geraten wie ein ganz obskures, 3,4 Quadratkilometer großes Territorium zwischen Deutschland, den Niederlanden und Belgien, das von 1815 bis 1919 auch juristische Probleme aufwarf. In diesem "Neutral-Moresnet" genannten Gebiet, dessen völkerrechtliche Zuordnung beim Wiener Kongress unklar blieb, war französisches Recht von deutschen Gerichten anzuwenden. Während sonst französisches Zivilrecht in den Grenzen des Deutschen Reichs vielerorts anzuwenden war und bis zum Inkrafttreten des BGB von einem eigenen Zivilsenat des Reichsgerichts bearbeitet wurde, ist das Strafurteil vom 2. Januar 1912 (V 836/11) ein seltenes Fundstück.
Das Landgericht Aachen hatte es offenbar unternommen, eine Geldstrafe, die gegen einen Verurteilten aus "Neutral-Moresnet" nach französischem Recht verhängt worden war, wegen ausbleibender Zahlung in eine Ersatzfreiheitsstrafe nach deutschem Recht umzuwandeln. Das Reichsgericht verneinte diese Möglichkeit mit dem Hinweis, dass nach französischem Strafrecht die Haft zur Erzwingung der Zahlung angedroht werde – ähnlich der Haft nach deutschem Zivilprozessrecht. Darum könne sich der Verurteilte aus "Neutral-Moresnet" nicht durch die ersatzweise Haft von der staatlichen Geldforderung befreien – den Richtern bleibe nur, die Zahlung durch die "französische" Haftandrohung zu erzwingen.
Heute ist es schwer vorstellbar, dass der Einwohner eines so köstlich herrenlosen Gebiets wie "Neutral-Moresnet" jemals unter Geldmangel leiden sollte, erwartet man in solchen geografischen Nischen doch Steuerparadiese voll lukrativer Briefkastenfirmen. Das herrenlose Gebiet indes wurde mit dem Versailler Vertrag von 1919 beseitigt, die lukrative Idee blieb ungeboren, sodass Steuerflüchtlinge heute statt eines Abstechers in ein Niemandsland südlich von Aachen die weite Anreise auf die Isle of Man oder die Niederländischen Antillen einplanen müssen.
Unbehagen an reisenden Juristen? – Fliegender Gerichtsstand 1912
Unbequem, weil mit Fernreisen verbunden, ist die Welt seit dem Jahr 1912 nicht nur für irreguläre Steuersparer geworden. Auch die viel geschmähte Gruppe der sogenannten "Abmahnanwälte" muss manche Strecke in Kauf nehmen, will sie dem Rechtsinstitut des "fliegenden Gerichtsstands" persönlich huldigen. In einem Urteil vom 15. Januar 1912 (Aktenzeichen VI 128/11) lässt der sechste Zivilsenat des Reichsgerichts ein gewisses Unbehagen an diesem Institut anklingen, obwohl er die Klage nach Paragraph 32 der Zivilprozessordnung (ZPO) für zulässig erklärt. Im Wirtschaftsteil der angesehenen Frankfurter Zeitung waren unfreundliche Worte über den Aufsichtsrat eines in München ansässigen Unternehmens veröffentlicht worden. Er klagte wegen der vermeintlichen Ehrverletzung in München, nicht in Frankfurt am Main.
Das Reichsgericht klärt, als müsse es einem scharfzüngigen Blogger des Jahres 2012 den "fliegenden Gerichtsstand" schonend beibringen, relativ umfangreich darüber auf, dass "eine durch Verbreitung eines Preßerzeugnisses verübte unerlaubte Handlung nicht bloß da begangen [wird], wo das Preßerzeugnis hergestellt und von wo aus es verbreitet wird, sondern auch da, wo die Verbreitung selbst stattgefunden hat, wo also, wenn durch das Preßerzeugnis eine Ehrverletzung begangen wird, diese durch die Verbreitung zur Kenntnis dritter Personen gelangt. Hiernach ist der Gerichtsstand des § 32 ZPO. in München gegeben."
Die Chance von vermeintlich oder tatsächlich in ihren Persönlichkeitsrechten verletzten Klägern, sich ein möglichst medienkritisches Gericht auszusuchen, wird heute bekanntlich viel kritisiert. Den Reichsgerichtsräten scheint bei der Anwendung der Norm das schlechte Gewissen noch nicht ganz abhanden gekommen zu sein, wenn sie schreiben, dass "der im Gebiete des Strafprozesses durch § 7 Abs. 2 StPO. beseitigte sog. fliegende Gerichtsstand der Presse für den Zivilprozess aufrechterhalten wird. Er [der Senat] sieht sich aber [...] außerstande, die fragliche Bestimmung der StPO. auf den Zivilprozeß zu übertragen."
Ob die Richter vom sechsten Senat, die gelegentlich durchaus eine gewisse Sympathie für den technischen Fortschritt an den Tag legten, vielleicht aus einem Urteil vom gleichen Tag hätten schließen sollen, dass dermal einst Anwälte zu Gerichtsterminen nicht mit der Bahn "fliegen", sondern automobilisiert anreisen könnten? In einer der ersten Entscheidungen zum neuen Gesetz über die Haftpflicht von Kraftfahrzeughaltern, das im Mai 1909 in Kraft getreten war, setzte sich das Reichsgericht mit der Frage auseinander, wer "Halter" des Fahrzeugs sei (Az. VI 324/11). Die Sache war schön verwickelt, vermutlich könnte man sie heute noch als juristische Prüfungsaufgabe stellen:
Eine schwäbische Dame von Stand möchte ihr Automobil gegen ein anderes tauschen. Der Hersteller sagt ein neues Gefährt zu, auf der – vorzeitigen - Fahrt zum neuen Eigentümer, die vom Chauffeur der Dame in Begleitung des Chauffeurs des Käufers – mit Öl und Benzin "aus den Vorräten" der Dame – absolviert wird, kommt es zu einem Unfall mit Personenschaden. Wer ist hier der Halter?
Sind Verhütungsmittel stets Mittel der Unzucht?
Verlassen wir die Verkehrsprobleme der braven Schwaben, um nicht mit der erwartbaren Antwort zu langweilen. Mit einem argumentativen Aufwand, den bei ethischen Fragen mit sexuellem Einschlag heute nicht einmal mehr der Vatikan an den Tag legt, nahmen sich die Richter des zweiten Strafsenats einer etwas frivolen Entscheidung des Landgerichts Berlin an (Urt. v. 27.02.1912, Az. II 1141/11).
Ein Unternehmer aus Berlin hatte in einer Zeitschrift mit einer an "Eheleute" adressierten Anzeige für empfängnisverhütende Mittel Werbung gemacht und damit nach Ansicht der Staatsanwaltschaft gegen Paragraf 182 Nr. 3 Strafgesetzbuch (StGB) verstoßen, der denjenigen mit Strafe bedrohte "wer Gegenstände, die zu unzüchtigem Gebrauche bestimmt sind, dem Publikum ankündigt oder anpreist."
Die Richter des Landgerichts Berlin I hatten sich in ihrem Urteil anzumerken erlaubt, dass ja auch niemand auf den Gedanken komme, "Feuerwaffen wegen des Bestehens der Möglichkeit ihres Gebrauchs zu unerlaubten Zwecken schlechthin als Mordinstrumente" zu bezeichnen. Dem entsprechend sollten Verhütungsmittel, die beispielsweise auch hygienischen Zwecken dienen könnten, nicht als zu "unzüchtigem Gebrauche bestimmt" gewertet werden.
Dieser frivol-liberalen Sichtweise machte das Reichsgericht einen Strich durch die Auslegung mit der Feststellung, dass "zu unzüchtigem Gebrauche solche Gegenstände bestimmt sind, welche zu einem solchen Gebrauche sich vermöge ihrer besonderen Beschaffenheit eignen und erfahrungsmäßig Verwendung zu finden pflegen."
Über die viel kritisierten Stellungnahmen des katholischen Kirchenoberhaupts zum Kondomgebrauch merkte der Publizist Hannes Stein einmal ironisch an, der Papst verstünde eben etwas von der lustmindernden Wirkungsweise althergebrachter Verhütungsmittel.
Wir können diese Einschätzung des Kollegen Stein unmöglich kommentieren, entnehmen aber dem alten Band 45 der "Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen" die Erkenntnis, dass Reichsgerichtsräte etwas von Unzucht verstanden. Wie sonst wären sie zu der Einsicht gekommen, dass Verhütungsmittel "zu unzüchtigem Gebrauche" – wie sie im Urteil hübsch doppelmoralisch festhalten – "erfahrungsgemäß Verwendung" finden? Woher kam wohl die Erfahrung?
Martin Rath ist freier Journalist und Lektor in Köln.
Die strafrechtlichen Entscheidungen finden Sie im 45. Band der "Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen", die zivilrechtlichen im 78. Band der Zivilsachen.
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Martin Rath, Literarische Leistungen des Reichsgerichts 1912: . In: Legal Tribune Online, 08.01.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5245 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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