Der Justizmord an Leo Katzenberger vor 80 Jahren: "Ras­sen­schande ist sch­limmer als Mord."

Gastbeitrag von Dr. Sebastian Felz

20.03.2022

Im März 1942 beugte das Sondergericht Nürnberg das Recht und konstruierte ein Todesurteil gegen Leo Katzenberger wegen "Rassenschande" und Verstößen gegen die "Verordnung gegen Volksschädlinge". Sebastian Felz zeichnet den Fall nach.

Am Anfang war das Gerücht. Der Hauswart und Spendensammler für die "Nationalsozialistische Volkswohlfahrt" (NSV), Johann Heilmann, wird von einer Bewohnerin des Hauses Spittlertorgraben Nr. 19 am Rande der Nürnberger Altstadt vertröstet. Sie könne ihren NSV-Monatsbeitrag nicht entrichten, entschuldigte sich die Fotografin Irene Scheffler. Erst müsste ihr Freund kommen. Heilmann, der als Lagerist im Schuhkontor im Hinterhaus arbeitet, versteckt sich im Treppenhaus und sieht seinen Chef zu Scheffler in die Wohnung gehen. Heilmanns Chef ist Leonhard "Leo" Katzenberger (Jahrgang 1873), er ist Jude und ein alter Freund der Familie Scheffler.  

Auf Bitten von Irenes Vater hatte Katzenberger 1932 der 37 Jahre jüngeren Frau eine Wohnung vermietet. Als wenig später dann die Fotografin ihre NSV-Spende bezahlen kann, tratschte Heilmann über eine angebliche Affäre seines Chefs mit der jungen Frau. Auch andere Bewohner des Hauses zerrissen sich schon seit Jahren die Mäuler und berichteten von einer angeblichen geheimen Zeichensprache zwischen Scheffler und Katzenberger, dem Genuss der gleichen Zigarettenmarke sowie Geschenken.  

Katzenberger verwarnte seinen Lageristen zunächst und feuert ihn nach wiederholter Tratscherei. In den nächsten Jahren pflegte die Hausgemeinschaft des Hauses Spittlertorgraben Nr. 19 einen letztendlich tödlichen Tratsch.

Straftatbestand: "Ein deutsches Mädchen auf dem Schoss"

Katzenberger hatte eine Schuhhandelskette aufgebaut und war bis 1938 geschäftsführender Teilhaber am familieneigenen Schuhwarenhaus "Springmann". 1938 wird nach der Pogromnacht der Familienbetrieb von den Nazis konfisziert. Katzenberger wird wegen angeblicher "Devisenschieberei" inhaftiert. Von 1939 bis 1942 war er Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde in Nürnberg. In dieser Zeit sahen sich Katzenberger und die seit Sommer 1939 verheiratete und nun den Nachnamen Seiler tragende Irene seltener. Im Herbst 1939 hatte sich ein Hausbewohner erstmals mit den im Haus kursierenden Gerüchten an die NSDAP gewandt. Anfang 1941 kam es zu einem letzten Treffen von Leo Katzenberger und Irene Seiler, als deren Vater und Freund Katzenbergers in Nürnberg zu Besuch war. Auch ihr Mann kam später hinzu, der in Nürnberg als Wehrmachtssoldat diente und zuhause übernachten durfte.  

Im März 1941 wurde Katzenberger wegen des Vorwurfs der "Rassenschande" verhaftet. Nicht geklärt ist, wer ihn denunzierte. Der Ermittlungsrichter vernimmt Katzenberger und Seiler, die beide eine väterlich-freundschaftliche Beziehung zugeben und jede sexuelle Handlung verneinen. Auch habe Katzenberger Seiler finanziell unterstützt. Da das Beweismaterial mehr als dürftig war, wurde Seiler unter Eid vernommen. Dort gab sie Liebkosungen zu, wie "sie ein Kind seinem Vater zu erweisen pflegt" zu.  

Im Herbst 1941 übernahm der Nürnberger Landgerichtsdirektor Oswald Rothaug die Regie und ordnete an, dass das Verfahren vor sein Sondergericht kam. Rothaug übte einen beherrschenden Einfluss auf die neue Anklage aus, in der Katzenberger nicht nur der Rassenschande beschuldigt wurde. Katzenberger habe auch im Sinne der Volksschädlingsverordnung den Kriegszustand für das "rassenschänderische Treiben" ausgenutzt. Durch die Anklage gegen Irene Seiler wegen Meineides wurde sie als glaubwürdige Zeugin im Prozess ausgeschaltet. Den medizinischen Sachverständigen beeinflusste er ebenso wie den Staatsanwalt mit dem Ziel, die Todesstrafe ausurteilen zu können. Der Arzt hatte bezweifelt, ob Katzenberger mit 68 Jahren tauglicher Täter sein könne. Er wurde von Rothaug angeblafft, dass es genüge, dass "ein deutsches Mädchen" auf Katzenbergers Schoss gesessen habe.  

"Sehen Sie, so sieht ein Jude aus"

Rothaug setzte mit schnarrender Stimme und wilder Gestikulation zu einem Schauprozess am 13. und 14. März 1942 an. Der Schwurgerichtssaal 600 war voll mit uniformierter Prominenz aus SD, Wehrmacht, NSDAP und den Gerichten. Er belehrte die Angeklagte Seiler, dass sie die antisemitische Hetzzeitschrift "Der Stürmer" hätte lesen sollen, dann wüsste sie, dass "Rassenschande schlimmer als Mord" sei. Und dem Angeklagten befahl er, sich seitlich und im Profil zum Zuschauerraum zu drehen und blaffte, dass so ein Jude aussehe. 

Katzenberger durfte nie ausreden und wurde vom Gericht niedergemacht. Nach kurzer Beratungspause ("Im vorliegenden Fall gab es ja nicht viel zu beraten") konstruierte Rothaug einen "Justizmord durch Rechtsbeugung" (so der Strafrechtsprofessor Günter Spendel). Da der Geschlechtsverkehr nicht nachgewiesen werden konnte, wurden die eingestandenen Zärtlichkeiten als "Ersatzhandlungen" dem § 2 des Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre subsumiert. Dazu führte Rothaug aus, dass Katzenberger "die Seiler an sich heranzog, küsste, an den Schenkeln über den Kleidern tätschelte und streichelte".  

Die Treffen nach 1939 wurden als Verstöße gegen §§ 2 und 4 der "Verordnung gegen Volkschädlinge" bewertet, da Katzenberger "im Schutze der zur Abwehr von Fliegergefahr getroffenen Maßnahmen", nämlich die "Verdunklung ausnutzte". " Um diesen Tatbestand, der die Todesstrafe ermöglichte, einführen zu können, waren die Zeugen noch einmal extra befragt worden, ob sie sich an Treffen nach Anbruch der Dunkelheit erinnern konnten. Auch sei die Einberufung Hans Seilers zum Militär ausgenutzt worden. Dass der Mann von Irene Seiler in Nürnberg kaserniert war und zuhause übernachten dürfte, wurde nicht beachtet. Bei der Strafzumessung wurde – entgegen dem Doppelverwertungsverbot – strafschärfend die "Frivolität" des "rassenschänderischen Treibens" Katzenbergers berücksichtigt: "Daher muss den Angeklagten insoweit die vom Gesetz für einen solchen Fall allein vorgesehene Todesstrafe treffen."

Reichskanzlei schaltet sich ein

Ende März 1942 las Hitler in der Berliner Illustrierten den Artikel "Rassenschänder zum Tode verurteilt". Er interpretierte die Meldung so, dass auch die "arische" Frau wegen Rassenschande verurteilt worden sei. Dies sollte und konnte nicht sein. Aufgrund des Nürnberger Urteils alarmierte die Reichskanzlei das Justizministerium.  

Später klärte sich nun auf, dass Irene Seiler wegen Meineids verurteilt worden war: "Dem Führer genügte dies." Wenig später bezeichnete sogar Roland Freisler, damals noch Staatssekretär im Justizministerium, die Urteilskonstruktion als "etwas kühn". Hitler lehnte das Gnadengesuch ab und befahl, dass "der Gerechtigkeit freier Lauf zu lassen sei". Katzenberger starb am 3. Juni 1942 in München unter dem Fallbeil.

Im Nürnberger Juristenprozess wurde Rothaug 1947 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt. In seiner Vernehmung 1947 bestritt er, dass im Fall Katzenberger ein Justizmord vorgelegen habe, wenn er auch zugab, viele Urteile im Geiste des Nationalsozialismus gesprochen zu haben. Seine Haftentlassung aus dem Kriegsverbrechergefängnis Landsberg erfolgte vorzeitig bereits 1956.  

BGH: "Voller Widersprüche und abwegiger Konstruktionen"

1968 erließ das Landgericht (LG) Nürnberg-Fürth gegen Rothaugs Beisitzer Karl Josef Ferber und Heinz Hugo Hoffmann ein drittes Urteil in dieser Angelegenheit. Das LG befand, dass die Angeklagten keine Antisemiten waren und daher auch nicht aus niedrigen Beweggründen gehandelt hätten. Sie hätten eher aus Angst vor der Macht Rothaugs das Recht gebeugt und seien daher als Totschläger zu verurteilen.  

Der BGH hob 1970 in seiner Entscheidung das Nürnberger Urteil und verwies es zurück (Urt. v. 21.07.1970, Az. 1 StR 119/69). Für eine Motivation der Angeklagten zur Rechtsbeugung durch Furcht vor Rothaug sahen die Karlsruher Richter keine durchgreifenden Anzeichen. Das Gericht in Nürnberg habe völlig verkannt, dass dieser "Schauprozess" des Jahres 1942 "voller Widersprüche und abwegiger Konstruktionen" stecke. Als möglichen niedrigen Beweggrund könnte neben dem "Wunsch nach beruflichem Fortkommen" auch die Vorstellung der Beklagten eine Rolle gespielt haben, dass "K. als Jude nach der NS-Ideologie ohnehin ein 'Nichts' war und sie deshalb bei einer rechtswidrigen Verurteilung kein Risiko, insbesondere keine Gefahr einer strafrechtlichen Verurteilung liefen". Die später getrennten Verfahren gegen Hoffman und Ferber endeten schließlich gleichlautend: Verfahrenseinstellung wegen Verhandlungsunfähigkeit. Rothaug hielt das Verfahren gegen seine ehemaligen Beisitzer sowieso für eine "Dummheit": "Sollten wir in Rechtsfragen danebengegriffen haben – na und, das kommt doch jeden Tag vor." Auch wenn durch Art. 9 des Gesetzes Nr. 21 zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Strafrechtspflege vom 28. Mai 1946 das Urteil gegen Leo Katzenberger aufgehoben worden sein dürfte, am Ende bleibt das schreiende Unrecht bestehen.

Der Autor Dr. Sebastian Felz ist Referent in einem Bundesministerium (Bonn) und Vorstandsmitglied des Vereins Forum Justizgeschichte.

Literatur:  Christina Kohl, Der Jude und das Mädchen. Eine verbotene Freundschaft in Nazideutschland, Hamburg 1997.

Zitiervorschlag

Der Justizmord an Leo Katzenberger vor 80 Jahren: . In: Legal Tribune Online, 20.03.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47845 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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