Mit Leibesertüchtigung zum Platz an der Sonne: Bewe­gungs­armut durch Weih­nachten, Abitur oder Staats­examen? – Hurtig, hurtig zum Ent­fetten!

von Martin Rath

25.12.2019

Es gibt bekanntlich nichts, was ein Jurist (m/w/d) nicht kann oder wofür er unzuständig ist. Der Amtsrichter Emil Hartwich fand die universale Antwort auf die Frage: "Woran wir leiden" – relevant für jeden Bildungs- oder Weihnachtspeck.

Damals in Köln war es beispielsweise ein forscher junger Privatdozent, der sich später zu einem Halbgott des deutschen Arbeitsrechts mausern sollte. Aber jeder gegenwärtige oder gewesene Insasse einer rechtswissenschaftlichen Fakultät begegnet ihm, denn es handelt sich bei ihm um kein "Portrait", sondern um einen symbolischen Typus (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschl. v. 24.02.1971, Az. 1 BvR 435/66).

Gemeint ist der Typus des schneidigen Rechtserforschers, der den (Mit-) Studentinnen und Studenten erklärt, dass Juristen nur Gott fürchten und sonst gar nichts auf der Welt (Otto von Bismarck), dass bereits der irgendwann später zum Richteramt befähigte Mensch dem Angehörigen, ja sogar dem Absolventen jeder anderen Fakultät überlegen sei und mithin um keine Frage des Lebens eine Antwort verlegen bleiben dürfe.

Es ist die Begeisterung schwer zu beschreiben, die den Leser erfüllt, wenn er beim Blick in das Werk "Woran wir leiden" des Düsseldorfer Amtsrichters Emil Hartwich entdeckt, dass dieser Typus zeitlos ist – und sich nicht nur um das Rechtswesen, sondern auch um die Leibeskultur sowie die schöngeistige Literatur verdient gemacht hat. Und das alles in einer Person!

"Woran wir leiden"? – Eine Frage, eine Antwort!

Emil Hartwich, Sohn eines preußischen Bauingenieurs, dem manche bis heute belastbare Eisenbahnbrücke zu verdanken ist, stellte eine weit über die juristische Profession hinausgehende Diagnose, die aus der weihnachtlichen Schlaffheit ebenso herauszureißen geeignet ist wie aus den trägen Phasen des Studiums:

"Unsere Aufgabe ist schwer! wir wissen es. Die Gleichgültigkeit und der Alkohol sind mächtige Feinde. Nur der Feuereifer für eine so wichtige und edle Sache leiht uns den Muth und die Kraft ihre Lösung zu versuchen: Gesundheit und Gemüth im Volke zu erhalten, ist die erste aller Aufgaben; gegen sie treten alle religiösen, alle politischen Fragen in den Hintergrund; sie ist die Grundbedingung für den Bestand und das Wohlergehen der Völker, sie ist und bleibt das Fundament aller wahren Glückseligkeit auf Erden!"

Um die Gesundheit und das "Gemüth im Volke" wiederherzustellen, gründete Hartwich in Düsseldorf den "Central-Verein für Körperpflege", der sich dank großzügiger Spenden der ortsansässigen Montanindustrie bald daran machen konnte, in dieser rheinländischen Provinzstadt allerlei Sportanlagen in Betrieb zu nehmen.

Bildung muss sein, aber bloß nicht zu viel davon!

Um namentlich dem jungen Menschen Zeit für die Leibesertüchtigung zu verschaffen, nahm Hartwich vor allem die Bildungsanstalten aufs Korn. Durch das Abitur etwa gingen viele wertvolle Menschen verloren.

"Hierdurch wollen wir den Werth einer guten allgemeinen Bildung um Gotteswillen nicht verneinen! Wir wollen aber zeigen, dass der Geist sich zu den höchsten und segensvollsten Leistungen emporschwingt, wenn Körper und Gehirn sich ruhig entwickeln konnte, und dass das Uebermass eine Kraftlosigkeit und Verflachung erzeugt. Es ist daher ein sehr problematischer Reichthum Deutschlands, wenn dasselbe es dahin gebracht hat, durch fortgesetztes Vollerpacken des Tournister ganze Legionen von 'halben Universalgelehrten' zu besitzen, besonders, wenn man an die haarsträubenden Wirkungen denkt, die dieser verschwenderische Abrichtungssport bereits auf die Gesundheit des Volkes ausgeübt hat; die Steuerkraft und die verkehrten geistigen Strömungen nicht zu vergessen!"

Dem "Vollerpacken" der Bildungsinhalte und dem "Abrichtungssport" übervoller Lehrpläne attestierte Hartwich, dass Deutschland es "nämlich schon zum Ruhme gebracht" habe, "bei weitem die meisten Eingebornen zu haben, die ihre Nasen mit Brillen und Kneifern schmücken, wie dies die Statistik leider schlagend beweist! Schon setzen Viele dieser Unglücklichen Brille und Kneifer gleichzeitig auf und sehen doch nichts Gescheites!"

Unter den "verkehrten geistigen Strömungen" verstand Hartwich die Sozialdemokraten, die dazu beitrügen, breiteste Schichten der Bevölkerung der materiellen Verfettung auszuliefern.

Sport, um den Gefahren der Welt im Kollektiv zu trotzen

Die Leibesertüchtigung dient nach Ansicht Hartwichs indes nicht nur dazu, das sportlich erfrischte Gehirn von "verkehrten geistigen Strömungen" freizuhalten, sondern auch, dem Standort Deutschland im internationalen Wettbewerb einen Platz an der Sonne zu sichern:

"Während in England noch viele Greise den Jünglingen gleichen, blickt bei uns nur allzuhäufig aus den bleichen altklugen Mienen der Knaben und Jünglinge schon der Greis heraus. Die Folgen zeigen sich im späteren Alter und bei den Nachkommen. Heiliger Scharnhorst! Hätten wir den grossen Riesendoktor 'unsere allgemeine Wehrpflicht' nicht, wir wären bereits ein bejammernswerthes, verzweifeltes Geschlecht!"

Wer nicht im Militär dienen dürfe, sei zu bedauern, weil er um den Sport gebracht werde: "Es ist wirklich doppelt ungerecht von uns, dass wir unser junges Blut so verkommen lassen, obgleich uns die Armee täglich durch Massenbeispiel ad oculos demonstrirt, was man durch 'Leibesübung in frischer Luft' aus einem Menschen machen kann.“

Dieses Argument von Emil Hartwich, veröffentlicht im Jahr 1882, hat natürlich hohe Evidenz. Denn seit Karl-Theodor zu Guttenberg (1971–) und Thomas de Maizière (1954–) die Wehrpflicht faktisch abschafften, sieht man vermehrt junge Menschen in der Öffentlichkeit, die sich durch Laufen, Tretrollerfahren oder das Strampeln auf Laufrädern (gültig nur im Fenster eines Fitness-Studios) selbst daran machen müssen, ihr "junges Blut" nicht "verkommen zu lassen".

Bewegungsarmut, bedingt durch moderne Technik

Hartwich ist bei allem Lob auf die Leibesertüchtigung im preußischen Militär jedoch nicht blind für die Notwendigkeiten der modernen Zeit:

"Dass es heute nicht mehr auf ‚Athletenkraft‘ ankommt – obgleich sie gar nicht zu verachten ist – wissen auch wir; denn in unserer Zeit werden Hunderte von Menschenkräften durch eine einzige Dampfmaschine ersetzt. Die physische Kraft ist daher volkswirthschaftlich allerdings mit Recht nicht mehr so gesucht und geschätzt wie früher; aber wir dürfen nicht vergessen, dass alle Dampfmaschinen weder dem Einzelnen noch dem Volke die verlorene Gesundheit wiederbringen können, die wir in unserer hastigen und aufreibenden Zeit doppelt nöthig haben und die wir mit doppelter Vorsicht hüten müssen, weil unser Blick durch das sich immer reicher gestaltende Geistes- und Kulturleben unvermerkt von dieser Rücksicht abgezogen wird. – So ist es denn dahin gekommen, dass jedes 'harmonische Gleichgewicht' bei uns bereits gestört ist."

Den Beweis hierzu führt Hartwich, der ja noch keine Spielekonsolen und Computer Games kannte, auf eine amtliche Statistik zurück, die damals ein "Irrewerden der Gymnasiasten" zeigen wollte.

Als studierter Jurist legte er gleichwohl eine wohltuende Distanz vor solcherart statistischer Erhebung an den Tag, sei es doch für die Erkenntnis "ob unser Schulsystem schädlich auf die Gesundheit unseres Volkes wirke", problematisch, nur zu fragen, "wieviel Gymnasiasten verrückt geworden sind".

Gemütlichkeit hat nichts mit Bratenduft und Weihnachtsbaum zu tun

Nicht nur Sport-Apostel, sondern auch ein für viele Juristen repräsentativer Statistik-Kritiker: "Es ist diese Spezialisirung der Frage ebenso irrig, wie wenn Jemand behufs Untersuchung der Frage, ob eine religiöse Sekte schädlich gewirkt hat, sich bemühen wollte, wieviel Mitglieder dieser Sekte wegen Mordes zum Tode verurtheilt sind! In beiden Fällen kann das Ergebniss der Erhebungen auf 'Null' lauten, und doch kann sowohl das Schulsystem wie die Sekte exorbitant schädlich wirken! Mit Statistik lässt sich überhaupt nicht Alles beweisen, besonders nicht schleichender Niedergang an Gesundheit und Gemüthsleben, dessen Anfänge aus den Sünden früherer Generationen resultiren, wo die Statistik noch im Argen lag."

Weil es Hartwich um ein reicheres "Gemüthsleben" geht, muss er natürlich eine Auslegung des Begriffs geben, die fettes Wohlleben ausschließt:

"Vor Allem möchten wir 'Gemüth' nicht mit 'Gemüthlichkeit' verwechselt sehen, der in Deutschland zu Genüge gehuldigt werden dürfte und die leider meistens ihre Orgien in der Kneipe feiert. Wir verstehen vielmehr unter Gemüth jene gesunde Beschaffenheit und Richtung des Willens, den frischen Lebensmuth, der den Menschen empfänglich für die Freuden des Daseins, elastisch und widerstandsfähig gegen die täglichen Mühen und Schläge des Schicksals macht. Diese Kräftigung des Willens, dieser heitere und muthige Lebenssinn, diese geistige Spannkraft sind für den Kampf um’s Dasein, für die irdische Glückseligkeit unendlich wichtiger als die jetzt im Uebermass betriebene Ausbildung des Verstandes und des Gedächtnisses, als 'strotzende Bildung im siechen Körper!'"

Emil Hartwich – ein fast vergessenes juristisches Genie

Als hätte der Düsseldorfer Amtsrichter Emil Hartwich gewusst, dass seine heute so unfreiwillig komisch wirkenden Überlegungen zur Leibesertüchtigung kaum ausreichen würden, ihm einen unverrückbaren Platz im Pantheon unsterblicher Juristen zu sichern: Nicht nur als Gründungsvater der deutschen Sportpädagogik hat er sich verdient gemacht, auch in die Literatur fand er Einzug – Theodor Fontane (1819–1898) griff Hartwich in seinem Roman "Effi Briest" auf:

Wegen seiner Affäre mit Elisabeth von Ardenne (1853–1952) stellte sich Hartwich am 27. November 1886 in einem Berliner Park dem Zweikampf mit ihrem Gatten, Armand Léon Baron von Ardenne (1848–1919).

Hartwich starb, 43-jährig, an den Folgen des Pistolenduells. Ob dieser Ausgang dem Umstand geschuldet war, dass er "Brillen und Kneifer" verabscheute, ist nicht überliefert.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Mit Leibesertüchtigung zum Platz an der Sonne: . In: Legal Tribune Online, 25.12.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/39395 (abgerufen am: 25.11.2024 )

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