Geplatztes Heiratsversprechen: Das dop­pelt ver­fas­sungs­wid­rige Kranz­geld

Gastbeitrag von Dr. Sebastian Felz

30.12.2022

Nach § 1300 BGB stand der "unbescholtenen Verlobten" Schadenersatz zu, wenn sie "die Beiwohnung gestattet" hatte und die Ehe später nicht zustande kam. Warum die Norm zweimal als "verfassungswidrig" beurteilt wurde, zeigt Sebastian Felz.

Vor 30 Jahren schrieb Sigrid Schöne, Richterin am Amtsgericht (AG) Münster, (westdeutsche) Familienrechtsgeschichte. Im Verfahren der Amtsrichterin ging es um einen "Kranzgeldanspruch" aus § 1300 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Bis zu seiner Abschaffung am 4. Mai 1998 lautete der Absatz 1 dieser Vorschrift: "Hat eine unbescholtene Verlobte ihrem Verlobten die Beiwohnung gestattet, so kann sie, wenn die Voraussetzungen des § 1298 oder des § 1299 vorliegen, auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld verlangen." 

Auf diese "billige Entschädigung in Geld" nahm die Klägerin ihren Ex in Anspruch und verlangte 1.000 DM Schadensersatz. Die beiden hatte sich Neujahr 1991 verlobt, hatten im Osterurlaub "miteinander geschlechtlich verkehrt" bis im Sommer 1991 das Verlöbnis durch den Mann "brieflich" gelösten worden war. Die Klägerin meinte nun, dass es "nunmehr für sie nicht mehr leicht" sei, einen anderen Mann zu finden. Sie kenne einige Männer, die großen Wert auf geschlechtliche Unbescholtenheit legten. Außerdem glaube sie, sie werde von ihren Freunden ausgelacht werden. Die Klage wurde abgewiesen (AG Münster, Urt. v. 08.12.1992, Az. 50 C 628/92). 

Da die Vorschrift zum vorkonstitutionellen Recht zählte, legte Amtsrichterin Schöne nicht gemäß Art. 100 Grundgesetz (GG) dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vor, sondern entschied direkt in Münster. § 1300 BGB verstoße gegen Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG. Hier liege eine Benachteiligung des Mannes vor. Auch dieser empfinde "den seelischen Schmerz wegen des gebrochenen Verlöbnisses". Und weiter heißt es, dass "seine Partnerbindung und Liebesfähigkeit (…) nicht generell minder intensiv" sei als die der weiblichen Menschheit. Auch die ökonomischen, medizinischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen hätten sich verändert. 

Die Schutzregelung sei daher, so das AG, aus der "heutigen Sicht" in ihrer Ausgestaltung als verfehlt anzusehen. Am Ende ging auch das BVerfG mit: Die Ansicht des Amtsgerichts Münster sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (Beschl. v. 5. 2. 1993, Az. 1 BvR 39/93). 

Deflorationsklage: Heirat oder Geldzahlung

Rechtsstreitigkeiten dieser Art lassen sich bis in mosaische Zeiten zurückverfolgen. Das gesamte Mittelalter bis in die Moderne hat die Jungfräulichkeit der Braut ihren Stellenwert für die Eheschließung behalten. Wenn im 19. Jahrhundert in solchen Fällen der Verlöbnislösung neben dem Ersatz für materiellen Schaden infolge verringerter Heirats- und Versorgungschancen auch eine Ehrenkränkung anerkannt wurde, ist diese auf der Grundlage der Injurienklage (Privatstrafe) als "Genugtuung" berücksichtigt worden. 

Der Ersatz des materiellen Schadens einer unverheirateten, unbescholtenen Frau nach Verführung oder gewaltsamem Missbrauch zum Beischlaf bestand im Anspruch gegen den Täter auf Heirat oder Geldzahlung nach Wahl des Täters zu – 'duc aut dota' –, die so genannte Deflorationsklage.

Seit 1900 war der Kranzgeldanspruch in § 1300 BGB verankert. 1902 musste sich das Reichsgericht (Urt. v. 19.6.1902, Az. IV. 104/02) mit der Frage auseinandersetzen, ob ein "geschlechtsvertraulicher Verkehr" vor einem Verlöbnis, aber mit dem späteren Verlobten, die "Unbescholtenheit" entfalle lasse, was das Gericht verneinte. Die "Bescholtenheit", so die Richter, sei kein "absoluter und objektiver" Begriff, insbesondere sei zu einem solchen "tadelnden, strafenden Urteil" nur derjenige berechtigt, der nicht selbst "Mitschuld an der Bescholtenheit" trage. 

Vom "sittlichen Wert der Frauensperson"

1920 billigte das Reichsgericht (Urt. v. 8.1.1920, Az. IV 327/19) in einer ähnlichen Konstellation einen Schadensersatzanspruch von 5.000 Mark der Klägerin zu. 15 Jahre später (Urt. v. 4.11.1935, Az. IV 179/35) drehte sich das Urteil der obersten Richter in Leipzig wieder um die Frage der "Unbescholtenheit". Die Richter hielten es für "eine Überspannung des Begriffes der geschlechtlichen Reinheit", wenn ein "junges, unerfahrenes Mädchen", das "bloß unzüchtige Berührungen" durch ihren "stürmischen Verlobten" gestatte, dadurch "seine geschlechtliche Reinheit" verlieren solle. Schließlich seien die "sittlichen Ausschreitungen" der Verlobten überhaupt nicht in weiteren Kreisen bekannt geworden, so dass auch in den Augen Dritter "die gute Meinung vom sittlichen Wert der Frauensperson" keine Einbuße erlitten habe. 

Auch unter dem Grundgesetz hielt der BGH (Urt. v. 10. 3. 1956, Az. IV ZR 315/55) am Kranzgeld fest. Der recht verstandene Gleichheitsgrundsatz schließe eine Rücksichtnahme auf die naturgegebene biologische und seelische Eigenart der Frau nicht nur nicht aus, sondern gebiete eine solche Rücksichtnahme überall da, wo die Nichtbeachtung der besonderen Wesensart der Frau die Erreichung des eben dargelegten Zweckes der Gleichberechtigung vereiteln oder gefährden. Die Richter wussten, dass eine Verlöbnisauflösung die Frau wegen ihrer besonderen Wesensart im Allgemeinen viel schwerer als den Mann treffe. 

1974 musste der BGH dann feststellen, dass keine Stimme mehr laut wird, die die Vorschrift des § 1300 BGB verteidigt (Urt. v. 24. 4. 1974, Az. IV ZR 138/72). Das Gericht schrieb aber den Kritikerinnen und Kritikern des Kranzgeldanspruchs in Stammbuch, dass die Frau schwanger werden könne und viel stärkere "gefühlsmäßige Reaktionen" zeige. Was schließlich die gesellschaftliche Würdigung des Geschlechtsverkehrs unter Verlobten angehe, so sei bei aller heute vorherrschenden Toleranz nicht daran vorbeizukommen, dass in einigen Kreisen gegenüber der Frau ein strengerer Maßstab angelegt werde als gegenüber dem Mann. Dies sei zwar eine "doppelte Moral", aber bei der Beurteilung des Problems dürfte nicht nur von "Großstadtverhältnissen" ausgegangen werden.

Die Frau als Ware?

Der BGH konnte nicht erkennen, dass diese "Schutzregelung" bedeute, dass "die Frau allgemein in einem geminderten Maß für ihr geschlechtliches Verhalten verantwortlich ist noch verstößt die Regelung gegen die Würde der Frau". 

In der feministischen Rechtszeitschrift "Streit" wurde dies anders gesehen: Im Hinblick auf die Rechtsprechung von RG und BGH orientiere sich die Festsetzung des Schadensersatzes an den ungeschriebenen Regeln des "Heiratsmarktes". Die "Ware", die gehandelt werde, seien die Frauen. Bezahlt würden nur "Heilige". Der Preis richte sich nach der gesellschaftlichen Stellung der Frau. Die der Frau zugeschriebene seelische Eigenart, dass sie nachhaltiger am Verlöbnisbruch leide, biologisiere, so die Autorin Elke Hundertmark, die ökonomische Abhängigkeit der Frauen von den Männern. 

Das hätte auch von Marx oder Engels stammen können, denen die bürgerliche Familie als Herrschaft des Mannes über die Frau erschien. So mag es nicht überraschen, dass im real existierenden Sozialismus schon Anfang der 1950er-Jahre der Kranzgeldanspruch als "verfassungswidrig" beurteilt wurde

Oberstes DDR-Gericht kritisierte "Klassencharakter" der Vorschrift

Das Oberste Gericht der DDR (Urt. v. 4.9.1952, Az. 1a Zs 1952) sah in § 1300 BGB, ja im gesamten Familienrecht des BGB, nur den "Klassencharakter" der Vorschrift. "Die Frau hatte in der Ehe etwa die gleiche Stellung wie das Proletariat in der Gesellschaftsordnung überhaupt. […] Die rechtliche Schlechterstellung der Frau in der kapitalistischen geordneten Ehe ist mithin nicht anderes als die Widerspiegelung ihrer ökonomischen Minderbewertung, die sie fast völlig vom Mann abhängig machte." 

Die Rechtsprechung rekurrierte auf familienrechtliche Regelungen der DDR-Verfassung von 7.10.1949. Danach sollte die rechtliche Gleichberechtigung von Mann und Frau auch im Bereich der Familie (Art. 7, Art. 30) verwirklicht werden. Im Familienrecht der DDR fiel das Verlöbnis komplett weg. 

Aber auch im Kapitalismus ging es mit der Schadensersatzhöhe bergab, denn mehr als 1.000 DM waren nicht mehr drin. Durch den Einigungsvertrag vom 31. August 1990 galt dann der § 1300 BGB nochmal gesamtdeutsch. 1992 folgte dann das Urteil des AG Münster und mit dem Eheschließungsrechtsgesetz vom G. v. 4. Mai 1998 wurde § 1300 aus dem BGB gestrichen. 

Im Referentenentwurf hieß es knapp: "Der Entwurf empfiehlt, § 1300 BGB als rechtspolitisch überholt zu streichen."

Der Autor Dr. Sebastian Felz ist Referent in einem Bundesministerium (Bonn) und im Vorstand des Forums Justizgeschichte

Zitiervorschlag

Geplatztes Heiratsversprechen: . In: Legal Tribune Online, 30.12.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50598 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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