Sie sind eine verbreitete körperliche Beeinträchtigung. In der Justiz treffen sie nur manchmal auf freundliche richterliche Aufmerksamkeit. Nicht selten werden sie ruppig abgefertigt: Sprechen wir von Kopfschmerzen.
Dass dieser Schmerz überhaupt jemals gut dazu geeignet gewesen wäre, den Kopf eines Angeklagten aus der Schlinge zu ziehen, gehört nicht zum Schatz juristischer Grunderfahrungen.
Einen gleichwohl beeindruckend kurzen Prozess, gemessen an dem, was auf dem Spiel stand, erlaubte der Bundesgerichtshof (BGH) mit Urteil vom 6. Oktober 1959 dem Landgericht (LG) München II.
Die Münchener Strafkammer hatte den Angeklagten wegen gemeinschaftlichen schweren Raubs in drei Fällen und wegen Diebstahls im Rückfall in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt und die Sicherungsverwahrung angeordnet – der durch das Gewohnheitsverbrechergesetz eingeführte, seit 1934 geltende § 20a Strafgesetzbuch (StGB) legte den Richtern dieses Instrument in die Hand.
Auf Vortrag des Verteidigers, dass der Angeklagte unter chronischen Kopfschmerzen leide, seit er im Zweiten Weltkrieg fünf Mal verwundet worden war, ein Granatsplitter hatte sein Kleinhirn verletzt, straffällig überhaupt erst geworden sei, nachdem er seinerzeit verschüttet wurde, setzte die Strafkammer die Verhandlung zur medizinischen Begutachtung aus, und zwar für nicht mehr als anderthalb Stunden.
Binnen rund 90 Minuten stellte ein "Facharzt für Nerven- und Geisteskrankheiten" gutachterlich fest, dass medizinische Gründe, an der Schuldfähigkeit zu zweifeln, "mit Sicherheit ausgeschlossen werden" könnten. Auch sei das Kleinhirn ja nur für das Gleichgewichtsempfinden zuständig.
Der BGH mochte weder an der zügigen Begutachtung des Kopfschmerz- und Zuchthauskandidaten in einer Verhandlungspause etwas aussetzen noch daran, dass der Mediziner "im eigentlichen Sinne Facharzt nur für Psychiatrie" war. Die Revision wurde verworfen (BGH, Urt. v. 06.10.1959, Az. 1 StR 449/59).
Kopfschmerz und Hinfälligkeit eines beamteten Lokomotivführers
Einen nur auf den ersten Blick sensibleren, auf den zweiten Blick durchaus ebenfalls rustikalen Zugriff auf die medizinische Wissenschaft hatte das Reichsgericht 60 Jahre zuvor gezeigt, in einer Entscheidung, die früh dem Kopfschmerz Beachtung schenkte.
Mit Urteil vom 3. Juli 1899 entschied das Reichsgericht zur Frage, ob ein Lokomotivführer, der als Beamter des preußischen Staates am 3. August 1897 verstorben war, seinen Angehörigen eine Forderung gegen den Fiskus nur wegen gewöhnlicher Pensionierung oder wegen eines Dienstunfalls hinterlassen hatte.
Zwei Jahre vor seinem Dahinscheiden war der "Führer der Lokomotive des Schnellzuges 8 Sommerfeld-Breslau in der Nähe von Guhrau, infolge der dort herrschenden großen Hitze und der durch Überanstrengung im Dienste hervorgerufenen Nervenerschlaffung, plötzlich an einem Hitzschlage erkrankt". Seither hatte er über Kopfschmerzen und Schwäche in einer Körperhälfte geklagt, mit großer Anstrengung immerhin noch seinen Dienst zu Ende gebracht, nach längerer Arbeitsunfähigkeit war er dann verstorben.
Lagen nur Gründe für einen gewöhnlichen Ruhestand vor, ergab sich ein Pensionsanspruch von 17/60 des ruhestandsfähigen Gehalts, sollte ein Betriebsunfall vorliegen, konnte er eine Unfallpension in Höhe von zwei Dritteln beanspruchen – zu Lebzeiten belief sich das Gehalt des Lokomotivführers im preußischen Staatsdienst auf beachtliche 1.987,60 Mark jährlich, rund doppelt so viel wie das Einkommen gewöhnlicher, aber guter Arbeiter.
Das Reichsgericht dokumentierte, wie wenig damals gesichert über die Ursachen von Schmerz und Tod bekannt war: Wegen der Hitze des Kessels "insbesondere auf einer Schnellzugslokomotive", verbunden mit unaufhörlicher körperlicher und geistiger Anstrengung, erklärten die Sachverständigen wie die Richter, nicht etwa von einem Schlaganfall auszugehen, der den Lokomotivführer nur zufällig bei der Arbeit getroffen hatte. Das Gericht sah hier einen Betriebsunfall (RG, Urt. v. 03.07.1899, Az. IV 106/99).
Würdigung von Kopfschmerz in allen rechtlichen Richtungen
Nach dieser – soweit erkennbar – ersten Erwähnung von Kopfschmerz in der modernen Rechtsprechung eines höchsten deutschen Zivil- und Strafgerichts findet sich das Leiden in allen erdenklichen Zusammenhängen.
Nicht selten wird der Kopfschmerz als Ausgangspunkt für das Argument angeführt, es müsse nach schwerer wiegenden psychischen Beeinträchtigungen gesucht werden
Im Fall einer Frau, die für den gemeinsamen Sohn seit 1952 eine Waisenrente erschlichen hatte, indem sie behauptete, ihr geschiedener Mann sei 1944 in Russland verschollen, obwohl sie mit ihm, der in einem ägyptischen Kriegsgefangenenlager saß, noch 1947 Briefe ausgetauscht hatte, wurden etwa ihre Kopfschmerzen angeführt, die auf die Störung ihres Erinnerungsvermögens hindeuten sollten – worin ihr die Gerichte aber nicht folgten (BGH, Urt. v. 01.12.1953, Az. 5 StR 483/53).
Tiefer in die grausamen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts führen Verfahren wie das einer Frau, die vier Monate vor der Befreiung Westeuropas im Alter von 17 Jahren "als Zigeunerin im Januar 1945 zwangsweise unfruchtbar gemacht" worden war und angab, seit der Sterilisierung an "Kopfschmerzen, ferner an Reißen und krampfartigen Zuständen in der Operationsgegend" zu leiden.
Als rassisch Verfolgte war sie grundsätzlich immerhin anerkannt, auch die Zwangssterilisierung galt als rechtswidrig, weil ihr kein Verfahren nach dem Erbgesundheitsgesetz vorausgegangen war, das auch nach dem Krieg noch als durchaus vertretbare Regelung des eugenisch-rassenhygienischen Zeitgeists galt.
Zur Frage jedoch, wie sehr die inzwischen 29-jährige Frau unter der vernichteten Möglichkeit litt, Kinder zu bekommen, bedurfte es nach Ansicht des BGH einer weiteren umfassenden Begutachtung ihrer Persönlichkeit, denn der "Zeitablauf wird vielfach genügen, die seelischen Folgen selbst schwerer körperlicher Eingriffe zu verarbeiten und zu überwinden" (BGH, Urt. v. 16.01.1957, Az. IV ZR 244/56). Abwegiger über die medizinischen Verbrechen der NS-Zeit urteilten nur noch die Ärzte selbst, die den Wunsch, entschädigt zu werden, mitunter in kruder Verdrehung zur Gefahr für die geistige Gesundheit ihrer einstigen Opfer erklärten.
Mit seinen chronischen Kopfschmerzen wollten Behörden und Gerichte hingegen im Fall eines Klägers gar nichts mehr zu tun haben, dessen Lebens- und Leidensgeschichte ein Urteil des BGH vom 6. Mai 1964 dürr dokumentiert.
Als Kind jüdischer Eltern polnischer Staatsangehörigkeit war der 1920 geborene Kläger im Jahr 1938 aus Deutschland ausgewiesen worden, er hatte über fünf Jahre Haft in Arbeits- und Konzentrationslagern überlebt. Ereignisse in den Tagen vor der Befreiung waren in seinen Augen ursächlich für die chronischen Kopfschmerzen, unter denen er als Mann von nun 45 Jahren litt: Im April 1945, vom Konzentrationslager Spaichingen in das Lager Dachau getrieben, wurde ihm nach einem Fluchtversuch in den Nacken geschossen. Für tot gehalten wurde er nach acht Tagen im Wald von Angehörigen der US-Streitkräfte gefunden und medizinisch versorgt.
Wegen der Schussverletzung sprach ihm die zuständige deutsche Behörde eine Kapitalentschädigung von 50 Deutschen Mark zu, um alle weitergehenden Forderungen, weil die Erfahrungen neben Kopfschmerzen auch einen Diabetes bedingt hätten, wurde über zehn Jahre hinweg prozessiert – mit einem 1964 immer noch offen bleibenden Resultat (BGH, Urt. v. 06.05.1964, Az. IV ZR 143/63).
Arbeitslast der Justiz in Kopfschmerzangelegenheiten
Die bis jetzt getroffene Auswahl von Entscheidungen, die sich zwischen den 1890er und 1960er Jahren mehr oder minder umfangreich mit Kopfschmerzen befassten, könnte den Irrtum bedingen, dass Leiden dieser Art nur in die Epoche rustikaler Rechtsprechung gehörten.
Ein solcher Eindruck wäre jedoch ganz falsch. Nicht nur, dass sehr aktuelle Rechtsfragen ihren Ausgangspunkt im Schmerz zwischen Augen und Ohren finden, wenn beispielsweise Ferdinand Kirchhof (1950–), Yvonne Ott (1963–) und Josef Christ (1956–) sich als Angehörige der 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts nicht mitfühlend von den Cluster-Kopfschmerzen eines Beschwerdeführers rühren ließen, eine einstweilige Anordnung zur Versorgung mit "Medizinalcannabis" näher zu erwägen (Beschl. v. 26.06.2018, Az. 1 BvR 733/18).
Eine schier ungeheure Steigerung des justitiellen Kopfschmerzaufkommens ließe sogar die Frage zu, ob nicht gerade heute die Härte oder Milde der Entscheidungen von Richterinnen und Richtern auch über ihre Haltung zum je eigenen Kopfschmerz zu ermitteln wäre – für die Frühstückszeiten von Justizpersonal liegt derlei Forschung bekanntlich schon vor. Denn von den rund 4.000 Entscheidungen, die etwa "Wolters Kluwer Online" zum Kopfschmerz dokumentiert, fallen etwa 3.100 auf die vergangenen 20 Jahre, die übrigen rund 900 verteilen sich auf den Zeitraum zwischen dem 3. Juli 1899 und dem Jahrtausendwechsel.
Nach dem Hamann'schen Erfahrungssatz sollte zwar nicht überschätzt werden, was überlieferte gerichtliche Entscheidungen über die soziale Realität aussagen können. Dazu werden sie zu dürftig publiziert. Um aber die rund 4.000 Fälle richterlicher Kopfschmerzbefassungen ins Verhältnis zu bringen: Zahnschmerz wird im gleichen Zeitraum in nur rund 170 Entscheidungen erwähnt.
Wer noch weniger Arbeit haben möchte, mag sich vielleicht mit einem Leiden befassen, zu dem sich im vorliegenden Rahmen nicht mehr als 31 Entscheidungen fanden: dem gemeinen Fußpilz.
Kopfschmerztag 2021: . In: Legal Tribune Online, 05.09.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45914 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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