Nicht nur beim Bewerbungsgespräch und beim Discobesuch, auch vor Gericht stellt sich die bange Frage: "Was soll ich bloß anziehen?" Wo die Grenze zwischen leger und anstößig verläuft und wie sie sich über die Jahrzehnte hinweg verschoben hat, zeigt Constantin Baron van Lijnden.
Das Bundesverfassungsgericht lieferte vergangenen Mittwoch eine Entscheidung, die zugleich Anstoß für diesen Artikel und Ausgangspunkt zur Beantwortung der oben aufgeworfenen Frage ist. Die Richter hatten sich mit der Verfassungsbeschwerde eines Angehörigen der Hell's Angels zu befassen, dem zuvor am Landgericht Potsdam der Prozess wegen diverser Straftaten gemacht worden war. Mehrere Mitglieder des Motorradclubs zeigten sich damals solidarisch und besuchten den Verhandlungstermin - in vereinstypischer Garderobe, versteht sich.
Nun mag das Erscheinen einer größeren Anzahl breitschultriger Männer mit einem zu vermutenden Hang zu Kriminalität und Gewalt ohnehin schon eine eher einschüchternde Wirkung auf die Öffentlichkeit und Zeugen haben. Das geschlossene Tragen von schwarzen Lederwesten mit geflügeltem Totenkopf macht die Sache aber sicher nicht besser, fand der Präsident des Landgerichts, und ordnete ein Verbot der Hell's Angels Uniformen während der Verhandlung an.
In dieser Entscheidung, die wohl kaum Gefahr läuft, das Gerechtigkeitsempfinden des Lesers in schweren Aufruhr zu versetzen, bestätigte ihn nun das Bundesverfassungsgericht. Das Hausrecht sei hier aus verständlichen Gründen zur Erreichung eines legitimen Zwecks eingesetzt worden. Auch sei der in § 169 S. 1 GVG normierte Öffentlichkeitsgrundsatz nicht verletzt, da es den Clubmitgliedern freigestanden habe, der Verhandlung in ziviler Kleidung beizuwohnen.
Andere Zeiten, andere (Un)sitten
Doch nicht jeder gerichtlich verordnete Dresscode ist an derart nachvollziehbaren Erwägungen orientiert. Die vage Formulierung des § 175 Abs. 1 GVG, wonach der Zutritt zu öffentlichen Verhandlungen "solchen Personen versagt werden [kann], die in einer der Würde des Gerichts nicht entsprechenden Weise erscheinen", öffnet so mancher fragwürdigen Ermessensausübung Tür und Tor. So scheinen gerade die Urteile früherer Jahrzehnte bisweilen von gekränktem Stolz oder Standesdünkel zu zeugen. Zum Beispiel jenes, mit dem das bayerische Oberlandesgericht im Jahre 1930 das Erscheinungsbild eines Angeklagten tadelte, der an einem heißen Sommertag immerhin in langer Hose und einem weißen Hemd erschienen war.
In den folgenden Jahren ging sodann mit dem Wandel der gesellschaftlichen Vorstellungen über die Notwendigkeit eines anständigen Äußeren - und darüber, was genau das eigentlich ist - eine Liberalisierung der gerichtlichen Praxis einher. 1966 etwa rang das OLG München sich unter sichtlichen Qualen die Entscheidung ab, dass das Tragen einer so genannten "Beatle-Haartracht" durch den Beschuldigten die Würde des Gerichts nicht verletze. In einem Obiter Dictum ließen die Richter sich indes die Klarstellung nicht nehmen, dass ihre Entscheidung ergehe, "obwohl die Mehrheit der Bevölkerung diese Tracht ablehnt und als töricht, lächerlich oder geschmacklos empfindet" .
Wenig später hob das OLG Hamm einen in der Vorinstanz gegen den Angeklagten verhängten Strafbeschluß auf, der darauf fußte, der Delinquent sei "in Arbeitskleidung vor Gericht erschienen". Durch die Begründung weht ein freiheitlicher Geist, wie er dem Erlassjahr 1969 angemessen ist: "Auch der beschließende Senat ist der Meinung, daß heute keine übersteigerten, an den Anschauungen früherer Zeitepochen orientierten Anforderungen mehr an das äußere Erscheinungsbild der Prozeßbeteiligten und der Zuhörer im Gerichtssaal gestellt werden sollten. [...]Legt man solche liberalen, einer modernen und freiheitlichen Demokratie angemessenen Maßstäbe an, kann das Erscheinen in Arbeits- bzw. Berufskleidung nicht schlechthin und ohne weiteres als ungebührlich erachtet werden."
Wer es aber darauf anlegt, der kann den Bogen noch immer überspannen: Das Erscheinen in T-Shirt und grob verfleckten Shorts, im Badedress mit entblößtem Nabel oder im "maskeradenhaften Aufzug" waren allesamt Fälle, in denen deutsche Gerichte auch nach den Swinging Sixties noch eine "Ungebühr" erkannten.
Das Ringen um die Robe
Doch solche Kuriositäten sind die seltene Ausnahme. Eine Streitfrage hingegen, die gleich eine ganze Berufsgruppe betrifft, ist jene nach der Robenpflicht für Anwälte. Dieses eigentümliche Institut datiert bis ins Mittelalter zurück, muss sich jedoch gerade in jüngerer Vergangenheit oft der Frage nach seiner sachlichen Rechtfertigung stellen. Die Berliner Senatsverwaltung für Justiz zeigt sich in diesem Punkt besonders fortschrittlich und hat den Robenzwang bereits im Jahre 2009 aufgehoben.
Eine Entscheidung, die noch nicht so recht in der Praxis angekommen ist: Als mutiger Vorreiter wagte sich Rechtsanwalt Johannes Eisenberg 2009 in Jeans und Hemd vor den Kadi - und bekam es sogleich mit diesem und der Rechtsanwaltskammer zu tun. Im selben Jahr ging es in Mannheim mehreren Anwälten an den Kragen, die zwar Hemd und Robe trugen, doch auf den zugehörigen "weißen Langbinder" - so das unsägliche Unwort für Krawatte im Juristendeutsch - verzichtet hatten.
Letztlich setzten sich in allen Fällen die querulantischen Anwälte durch. Dennoch bezeugen ihre Beispiele, dass sich an der Frage der rechten Kleidungswahl noch immer die Gemüter entzünden können und Prinzipienreiterei in diesem Punkt auf beiden Seiten mehr Ärger als Nutzen erzeugt. Wer also selbst - als Zuschauer, Zeuge, Anwalt oder Partei - bei Gericht erscheinen muss, der mag den Anzug getrost im Schrank lassen. Doch er täte gut daran, sich der Worte des OLG Hamm zu entsinnen, mit dem dieses für die Wahrung gewisser äußerer Formen plädierte, "nicht weil dies der Tradition entspricht, sondern als Zeichen selbstverständlicher zeitloser, ideologisch wertfreier Achtung vor der besonderen Bedeutung des richterlichen Auftrags, losgelöst von der Person desjenigen, der jeweils diesen richterlichen Auftrag erfüllt."
Constantin Baron van Lijnden, Stilfragen vor Gericht: . In: Legal Tribune Online, 28.04.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6098 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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