Nach dem Anschlag auf Hitler vom 20. Juli 1944 wurden hunderte Menschen getötet, weil sie am Versuch teilnahmen oder sein Scheitern vor Zeugen bedauert hatten. Im Fall einer mutmaßlichen Denunziantin erging 1963 ein salomonisches Urteil.
Ein Fall, in dem das Bundesverwaltungsgericht am 28. Februar 1963 sein Urteil sprach, ist so reich an starken Bildern, dass sich von ihm nur mit einem Stoßgebet erzählen lässt, das in Künstlerohren frevelhaft klingen muss. Setzen wir das Beten aber an den Schluss.
Zu Schaden kam zunächst ein noch junger Offizier. Nachdem die Rote Armee am 8. April 1944 mit der Rückeroberung der Krim begonnen hatte, gelang es dem Bataillonskommandeur Friedrich Goes, eine Anzahl seiner Soldaten mit einem für die Flussschifffahrt ausgelegten Schiff über das Schwarze Meer nach Rumänien zu bringen.
Für Generalstabs- und andere gehobene Führungspositionen auserkoren, verbrachte Goes im Juli 1944 einen Urlaub im Ferienort Bansin auf Usedom, wo der sportliche Offizier zwei Mal der sieben Jahre jüngeren Schauspielerin Marianne Simson (1920–1992) begegnete. Bei der ersten Gelegenheit klärte er Simson darüber auf, dass es sich beim Rückzug von der Krim nicht um jenes heldenhafte Manöver gehandelt hatte, von dem die Propaganda berichtete. Bei der zweiten Gelegenheit, das Attentat auf Hitler war soeben gescheitert, ließ sich Goes in ihrer Gegenwart zu der Äußerung hinreißen: "Schade, dass es nicht geklappt hat."
Die spätere Kolportage zu diesen Begegnungen will wissen, dass sich die Schauspielerin mit Reizwäsche und Rotwein erfolglos um den offenbar attraktiven Offizier bemüht habe – er war 1936 für die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Betracht gezogen worden –, doch darf man dies getrost beiseitelassen: Die Bundesrichter hatten 18 Jahre später keinen Sinn dafür, dass die folgende Dramatik von weiblicher Rache getrieben gewesen sein könnte.
29. Juli 1944: "Schade, dass es nicht geklappt hat."
Zurück in Berlin feierte Simson am 29. Juli 1944 ihren 24. Geburtstag. Ihre Karriere genoss bis dahin offenbar höchste Protektion, was sich in der Auswahl ihrer Partygäste bemerkbar machte.
Mit gerade einmal 15 Jahren hatte Simson 1935 im Propagandafilm "Friesennot" ihre erste Rolle als russlanddeutsche Dorfjungfrau übernommen, die von kommunistischen Marodeuren vergewaltigt und ermordet wird. Sie reüssierte weiter in den zahllosen Komödien der Goebbels’schen Filmindustrie. Im berühmten "Münchhausen"-Film (1943) gab sie die "Frau im Mond".
Zur Feier ihres Geburtstags fanden sich entsprechend neben Kolleginnen und Kollegen aus Künstlerkreisen auch der in den NS-Medien als Befreier des zwischenzeitlich gestürzten Benito Mussolini gefeierte SS-Offizier Otto Skorzeny und sein Adjutant Karl Radl.
Bei dieser Gelegenheit verplapperte sich Simson zunächst dahingehend, dass sie von einem Wehrmachtsoffizier Bedauern über das gescheiterte Attentat gehört habe, dann, auf näheres Befragen der SS-Offiziere, gab sie Goes‘ Identität preis. Skorzeny/Radl war zufällig bekannt, dass Goes für eine Versetzung zur Waffen-SS in Betracht kam, was sie nunmehr auf dem Dienstweg zu hintertreiben bemüht waren.
Eine Art Fluchtversuch, Kriegsgericht, Gestapo-Haft
Durch einen Brief Helmut Simsons (1916–2013), dem Bruder der Schauspielerin, nach dem Krieg SPD-Bürgermeister von Wolfsburg, erfuhr Goes davon, dass ihm wegen der Äußerung Gefahr drohte. Aus seiner rasch organisierten neuen Dienststelle in Norwegen holten ihn alsbald Gestapo-Beamte ab.
Trotz Verhören im Grenzbereich zur Folter blieb Goes dabei, sich nicht enttäuscht zum gescheiterten Attentat geäußert zu haben. Marianne Simson beharrte hingegen auf ihrer Aussage. Zum einen, weil sie die Wahrheit sagte. Zum anderen, weil die Gestapo-Beamten sie mit dem Hinweis auf ihre teils jüdischen Vorfahren unter Druck setzten, sich nun nicht etwa auf eine beschwipste Laune in den Ferien auf Usedom herauszureden.
Mit dieser Ausgangslage wurde Goes vor dem Kriegsgericht wegen des Vorwurfs der Wehrkraftzersetzung der Prozess gemacht, der mit einem Freispruch endete, weil sich sowohl höhere Offiziere für ihn aussprachen als auch diverse prominente Film-Größen sich zur Unzuverlässigkeit Marianne Simsons ausließen.
Empört darüber, dass sie ihre Kollegen im Anschluss zu schneiden begannen und ihre Wahrheitsliebe gerichtlich in Zweifel gezogen worden war, beschwerte sich Simson bei Propagandaminister Goebbels, der für eine neuerliche Verhaftung von Goes sorgte. Dieser überlebte das verbleibende Kriegsjahr nur durch eine Verkettung glücklicher Zufälle – zu denen auch der Umstand gezählt haben soll, dass ein gewisser Dr. iur. Roland Freisler am 3. Februar 1945 zu den Opfern eines US-Luftangriffs zählte.
Hilfe für Marianne Simson nach SBZ/DDR-Haft?
Simson und ihre Eltern wurden nach Kriegsende von sowjetischen Sicherheitskräften in Haft genommen, nicht zuletzt wegen der Goes-Affäre, vermutlich auch, weil der jungen Frau eine Affäre mit Joseph Goebbels nachgesagt worden war. Ihr Weg führte unter anderem in das unter neuer Firma betriebene Konzentrations-, nunmehr "Speziallager Nr. 2 Buchenwald". Zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt wurde Marianne Simson 1952 vorzeitig aus der Haft entlassen.
In Baden-Württemberg stellte sie späterhin einen Antrag auf Leistungen nach dem Häftlingshilfegesetz (HHG) vom 6. August 1955, das für deutsche Staats- und Volkszugehörige, die im sowjetischen Herrschaftsbereich "aus politischen und nach freiheitlich-demokratischer Auffassung von ihnen nicht zu vertretenen Gründen in Gewahrsam genommen wurden" eine Beschädigten- und Hinterbliebenenversorgung sowie weitere Vergünstigungen versprach.
Ihr Antrag auf entsprechende Anerkennung als politischer Häftling wurde von der Behörde, vom Verwaltungsgericht wie auch in der Berufungsinstanz mit dem Argument abgewiesen, sie habe sich als Denunziantin verhalten. Nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 HHG in der Fassung vom 25. Juli 1960 waren von Leistungen unter anderem Personen auszuschließen, die "während der Herrschaft des Nationalsozialismus … durch ihr Verhalten gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit oder Menschlichkeit verstoßen haben".
Verstoß gegen Grundsätze der Rechtstaatlichkeit oder Menschlichkeit?
Das Bundesverwaltungsgericht sprach Simson mit Urteil vom 28. Februar 1963 (Az. VIII C 67.62) im Ergebnis zwar keine Ansprüche als politischer Häftling zu, befreite die frühere Schauspielerin jedoch vom Makel der Denunziation. Ihr wurde zugutegehalten, dass Skorzeny und Radl aufgrund der möglicherweise anstehenden Versetzung von Goes zur Waffen-SS ein besonderes Interesse an ihm hatten. Auch habe sie sich bestürzt gezeigt, als sie von deren dienstlicher Meldung zu Goes‘ Attentatsäußerung erfuhr.
Dass Marianne Simson bei der Gestapo und vor dem Kriegsgericht auf ihrer – wahrheitsgemäßen – Aussage zu Goes beharrt hatte, könne ihr nicht zur Last gelegt werden. Einmal, weil bereits die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone dahin erkannt hatte, dass wahrheitsgemäße Aussagen auch vor einem Gericht des NS-Staats nicht mit einer, ein Verfahren der Terrorjustiz erst einleitenden Denunziation gleichzusetzen sei. Des Weiteren habe ihr das Kriegsgericht gedroht, Konsequenzen aus ihrer jüdischen Abstammung zu ziehen.
Dass ihre Film-Kollegen sie nach dem Goes-Freispruch ausgrenzten, sie ihre Glaubwürdigkeit durch das Kriegsgerichtsurteil untergraben sah und fürchten musste, ihre nicht 'vollarische' Herkunft könnte nun zur Gefahr werden, habe sie "völlig außer sich" treten lassen.
In dieser Lage sei es ein der strafrechtlichen Notwehrüberschreitung vergleichbares Verhalten gewesen, bei den Hierarchen des NS-Filmgeschäfts weiteren Wirbel um die Kriegsgerichtssache gemacht zu haben.
Zwar sei ihr damit nicht das Verhalten einer Denunziantin vorzuwerfen, sie habe nicht schuldhaft im Sinne von § 2 HHG gehandelt. Gleichwohl habe sie die Umstände ihrer Inhaftierung in der Sowjetischen Besatzungszone und DDR zu vertreten, weil sie bei ihrer Geburtstagsfeier 1944 "keinen billigenswerten Grund [hatte], jene vertrauliche Äußerung auch nur andeutungsweise weiterzugeben, zumal dies in Gegenwart von namhaften Offizieren der SS geschah und in jenen Tagen, unmittelbar nach dem Attentat auf Hitler, es offen auf der Hand lag, dass sich aus ihrer Mitteilung weitere Nachforschungen … ergeben konnten".
Für dieses Vertretenmüssen führte das Gericht folgendes Argument heran: Nach dem HHG solle der politische Häftling zwar einen Anspruch "darauf haben, daß ihm die Eingliederung in das wirtschaftliche und soziale Leben im freien Teile Deutschlands erleichtert wird durch die Gewährung besonderer Rechte und Vergünstigungen, die als öffentliche Hilfe von anderen mitgetragen werden. Wem aber nach der heute maßgeblichen freiheitlich-demokratischen Auffassung ein anderes Verhalten zuzumuten war" – die Richter dachten hier etwa daran, dass Simson an die sogenannte Ehre der SS-Offiziere hätte appellieren sollen, von ihren Äußerungen keinen negativen Gebrauch gegen Goes zu machen – "dem wird auch zugemutet, das Schicksal, das er in sowjetischem oder sowjetzonalem Gewahrsam erlitten hat, hinzunehmen, ohne deswegen die Gewährung besonderer Rechte und Vergünstigungen in Anspruch nehmen zu können. Er muß bestrebt sein, sich ohne öffentliche Hilfe aus eigener Kraft in das wirtschaftliche und soziale Leben der Bundesrepublik einzugliedern."
Leistungen als politischer Häftling blieben Simson damit versagt. Ihre Film-Karriere nahm sie nicht wieder auf, womöglich aufgrund der zu erwartenden, gehässigen Presse.
Und das Stoßgebet zum Abschluss?
Angesichts der Mischung aus Kitsch, Kolportage und Kammerspiel sowie der säuberlichen juristischen Trennung von Schuld und Schicksal in dieser Geschichte bleibt zu hoffen, dass Florian Henckel von Donnersmarck keinen seiner bemerkenswert furchtbaren Filme über sie dreht und auch Ferdinand von Schirach die Finger von ihr lässt.
Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Die Goes-Affäre nach dem Attentat vom 20. Juli 1944: . In: Legal Tribune Online, 21.07.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/36599 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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