Die Voraussetzungen und die Höhe, unter denen zu Unrecht Inhaftierten eine Entschädigung gezahlt wird, sind ein heißes Thema. Schon zu Kaisers Zeiten war die Haftentschädigung ein Zankapfel – nicht zuletzt zwischen Justiz und Verwaltung.
Das Urteil des Reichgerichts in Leipzig vom 10. April 1916 verblüfft in der Deutlichkeit, mit der das Oberlandesgericht (OLG) Celle wegen seines fehlerhaften Rechtsverständnisses gerügt wurde. Auch die Höhe des Betrags, den die Witwe und Tochter eines Eisenbahn-Mitarbeiters beanspruchten, wundert ein wenig, stritten sie mit dem Fiskus doch um eine Haftentschädigung von beträchtlicher Höhe für den Schaden, den die deutsche Justiz im Fall ihres verstorbenen Gatten und Vaters angerichtet hatte.
Im Ergebnis ging es für die zwei Frauen gut aus: Die obersten Richter kamen zu dem Schluss, dass die Kollegen aus Celle eine Haftentschädigung mit fadenscheinigen Argumenten abgelehnt hatten.
Führt ein Strafprozess nicht zur rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilung oder wird das Urteil im Wiederaufnahmeverfahren beseitigt, sieht heute das "Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen" vor, dass dem Justizopfer unter Umständen Genugtuung zu leisten ist.
Haftentschädigung – wo der Staat knausrig ist
Die Frage, ob das, was insbesondere für eine im Ergebnis rechtlich nicht aufrechtzuerhaltende Inhaftierung aus der Staatskasse geleistet wird, auch wirklich genügt, ist seit langem umstritten. Das im Jahr 1971 in Kraft getretene Gesetz sieht heute den Ersatz von Vermögensschäden vor, wobei es in der Eingangsgröße eine gewisse Knausrigkeit verrät. Überschreitet der nachgewiesene Vermögensschaden nicht den Betrag von 25 Euro, bleibt der strafrechtlich Verfolgte auf seinem Schaden sitzen. Gemessen am Spesenkonto eines Deutsche-Bank-Vorsitzenden sind 25 Euro natürlich Luft, für einen Geringverdiener oder Sozialhilfeempfänger kann das hingegen viel Geld sein.
Besonders häufig kritisiert wird der Tagessatz, der für Nichtvermögensschäden gewährt wird: 25 Euro für jeden angefangenen Tag einer Freiheitsentziehung. Das scheint doch ein etwas geizig gegriffener Betrag zu sein, vor allem, wenn sich einmal nach langjähriger Haft und einer vom Staat zerstörten Biografie die Unschuld des Betroffenen erweist.
Wenn schon heute dem Staat gegenüber den Opfern seiner Justiz, freundlich gesprochen, wirtschaftliche Zurückhaltung attestiert wird, dann, so möchte man denken, müsste es vor 100 Jahren doch noch sehr viel schlimmer um die Untertanen von Kaiser und Justiz bestellt gewesen sein.
Erste deutschlandweite Haftentschädigungsgesetze
Mit Urteilen vom 11. und 27. April 1906 war ein Eisenbahnobersekretär vom Landgericht (LG) Hannover wegen Urkundenfälschung und Betrugs zu einer Gesamtstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden. Vorausgegangen waren rund zwei Monate Untersuchungshaft.
Die Strafvollstreckung wurde im Mai 1907 unterbrochen, weil der Eisenbahnobersekretär, der inzwischen aus dem Dienst der preußischen Bahn entlassen worden war, psychisch erkrankte. Er verstarb 1912 in einer Nervenheilanstalt. Im Jahr nach seinem Tod wurde er im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen.
Nachdem das LG die preußische Staatskasse dazu verpflichtete, den Unterhaltsberechtigten Ersatz für den durch die Inhaftierung entzogenen Unterhalt zu leisten, wies der Justizminister des Königreichs Preußen diesen Anspruch durch Bescheid ab – offensichtlich hatten sich Witwe und Tochter des Eisenbahnobersekretärs bereits ein Jahr lang um die Auszahlung bemühen müssen, bis das Ministerium sich mit dem abweisenden Bescheid dazu erklärte.
2/2: Justizminister übt sich in Rabulistik
Die beiden Damen erhoben daraufhin Klage über insgesamt 24.417 Mark. Dem Argument, mit dem der Minister die Haftung des Justizfiskus' vermeiden wollte, folgten das LG Hannover und das OLG Celle: Dem Inhaftierten beziehungsweise seiner unterhaltsberechtigten Frau und Tochter sei der Schaden nicht durch das Strafurteil entstanden, vielmehr sei der Bahnbeamte auf der Grundlage des preußischen Disziplinargesetzes aus dem Staatsdienst entlassen worden. Nicht seine Verurteilung, sondern ein weiterer, aus dem strafrechtlichen Verdikt resultierender staatlicher Akt, die Aussonderung aus dem Dienst bei der staatlichen Bahn, sei ihm zum Schaden geraten.
Gemessen an den oft etwas oberlehrerhaften Kommentaren zu Schriftsätzen der Strafverteidigung, der zumeist aber sehr vornehmen Zurückhaltung gegenüber Fehlleistungen der Vorinstanzen oder der Staatsanwaltschaft, liest sich bereits der Anfang des Urteils des Reichsgerichts in der Haftentschädigungssache des Eisenbahnobersekretärs fast schon wie eine Übung in heiligem Zorn: "Schon der Ausgangspunkt des angefochtenen Urteils muß als rechtsirrtümlich bezeichnet werden […]."
Streit um Haftentschädigungsgesetze
Die linke und linksliberale Justizkritik der Weimarer Zeit, die dank prominenter Vertreter wie Kurt Tucholsky bis heute in den Köpfen steckt, macht etwas vergessen, dass die deutsche Justiz zur Zeit des Kaiserreichs als vergleichsweise fortschrittlich galt. Sherlock-Holmes-Schöpfer Arthur Conan Doyle hielt sie, mit Blick auf die Skandale der mittelalterlich-verzopften britischen Strafjustiz, seinerzeit gar für vorbildlich.
Zwar sollte das Bild nicht zu rosig gezeichnet werden, doch immerhin finden sich so fortschrittliche Einrichtungen wie das "Gesetz, betreffend die Entschädigung der im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochenen Personen" vom 27. Mai 1898, das die Entschädigung des Vermögensschadens und den Ausgleich der Unterhaltsschäden gegenüber den Angehörigen eines Verurteilten vorschrieb.
In der Reichstagsdebatte zu diesem ersten Haftentschädigungsgesetz beklagte die Reichstagsfraktion der SPD, dass andere Haftformen nicht berücksichtigt worden seien. Als damals für die Arbeiterklasse tätige Partei hatte sie entsprechend Geschädigte zahlreich in ihren Reihen. Die Reichstagsprotokolle verraten, dass man sich damals im Parlament hierzu ernsthaft etwas zu sagen hatte, in der Regel sogar in freier Rede.
Freilich brauchte es, was selbst für heutige Verhältnisse als schnell gelten darf, nur sechs Jahre, bis mit dem "Gesetz, betreffend die Entschädigung für unschuldig erlittene Untersuchungshaft" entsprechend nachgebessert wurde.
Reichsgericht mit moderner Auslegung
Das preußische Justizministerium versuchte, die Anwendung dieser Gesetze möglichst eng zu gestalten, indem nur Schäden, die unmittelbar durch den strafrechtlichen Hoheitsakt entstanden waren, den Ministerialbeamten als entschädigungspflichtig galten. Die aus dem Strafurteil mittelbar resultierende Beseitigung eines Beamten aus dem Dienst zählte nicht dazu.
Diese Auffassung verwarf der sechste Zivilsenat des Reichsgerichts, durchaus mit Blick auf den Sinn und Zweck der beiden Entschädigungsgesetze. Für verurteilte Staatsbedienstete hätte die Auffassung des preußischen Ministeriums zur Folge, dass die Bundesstaaten des Reichs eine Entschädigung unterlaufen könnten, wenn sie eine Inhaftierung nur mittelbar als Entlassungsgrund vorgäben.
Eine an Sinn und Zweck orientierte Auslegung zu Kaisers Zeiten? Auch das mag ein bisschen überraschen, ist doch das Bild der Justiz in dieser Zeit geprägt von der buchstabengläubigen Eisenbahn-Definition und einem strikt positivistisch organsierten Entscheidungsapparat.
Vielleicht mit noch größerem Erstaunen als auf die mehr oder weniger bemerkenswerten Aspekte im Haftentschädigungsurteil des Reichsgerichts vom 10. April 1916 blickt man auf die Reichstagsdebatte zum ersten der beiden Gesetze, die das Gericht vor der engherzigen preußischen Justizverwaltung schützte: In der Debatte zum Gesetz von 1898 legte sich der einflussreiche und in seiner Partei eher zum rechten Flügel zählende SPD-Abgeordnete Karl Frohme (1850-1933) derart für alle potenziellen Justizgeschädigten ins Zeug, dass man sich wundern darf:
Wann ist es eigentlich in Deutschland zur Mode geworden, dass Strafrechtsreformen leidenschaftlich nur noch dann geführt werden, wenn es am Ende wieder einmal nur um die Verschärfung einer Norm des materiellen Strafrechts geht?
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs bei Solingen.
Martin Rath, Justizopferentschädigung vor 100 Jahren: Knausrig war der Staat schon immer . In: Legal Tribune Online, 10.04.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19027/ (abgerufen am: 21.07.2024 )
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