Bei aller Liebe zur Umwelt: In den vergangenen Monaten wurde viel zu oft verlangt, man möge Angst ums Weltklima haben. Aus Sicht von Juristen ist das wohl Ausdruck einer seelischen Verflachung – denn sie kennen weitaus mehr Ängste.
Es wäre eine etwas burschikose Behauptung, deutsche Juristen seien schon deshalb mit Angst und Furcht besonders vertraut, weil nicht wenige ihr Staatsexamen wie den Bungee-Sprung von einer Brücke über einem allzu flachen Gewässer erlebten, gehalten von einem im Zweifel nicht völlig reißfesten Seil. Eine Studienreform, die den Stoff im Austausch gegen Extremsportelemente entschlackte, würde zwar zu interessanten Ergebnissen führen, aber kaum als seriöse Idee gelten.
Auch die Zeiten, in denen juristische Erstsemester von älteren Professoren mit der Aufforderung empfangen wurden, sich ihre Sitzplatznachbarn einmal anzuschauen, weil jeder zweite das Studium nicht überleben würde, sind vorbei. Früher sah man das milde: Die alten Herren hatten solche Sprüche im Zweiten Weltkrieg noch beim Blick in den Nachthimmel gelernt.
Gleichwohl dürfen wir von einer besonderen juristischen Verbundenheit mit der Angst ausgehen. Denn in sehr grundsätzlicher Weise betrifft sie ihre wichtigste berufliche Instanz: den Staat.
Sicherheit: nicht nur eine juristische Idee
Der in diesen Fragen diskursnotorische Staatsrechtslehrer Carl Schmitt (1888–1985) erzählt in seinem Werk Der Leviathan eine Idee seines entfernten Kollegen Thomas Hobbes (1588–1679) nach. Während der Mensch dem Menschen in seiner ursprünglich freien und unorganisierten Lebensweise ein Wolf gewesen sei, habe er wie folgt den Weg in den Zustand des Staates gefunden:
"Der Schrecken des Naturzustands treibt die angsterfüllten Individuen zusammen; ihre Angst steigert sich aufs äußerste; ein Lichtfunke der Ratio blitzt auf – und plötzlich steht vor uns der neue Gott."
Gemeint ist in dieser etwas märchenhaften Erzählform der Zusammenschluss der Menschen unter einen Gesellschafts-, der zugleich ein Staatsgründungsvertrag ist – bekannt als "der neue Gott" Leviathan: Ohne Angst sei also kein Staat zu machen. Und der habe dann zur Beseitigung von Angstsachverhalten sogleich die Polizei erfunden – so Schmitt, 1938.
Dass sich die moderne Staatsrechtslehre mit Hobbes auf einen etwas gestörten Charakter stützt, lässt sich bei seinem Biografen Bernhard Willms (1931–1991) nachlesen: Der englische Philosoph habe es geliebt, sich als Zwillingsbruder der Angst zu stilisieren. Seine Mutter sei am Karfreitag des Jahres 1588 nebst ihm auch von der Angst entbunden worden, Diese herrschte seinerzeit, weil an der englischen Küste die Kirchenglocken läuteten, um vor der Ankunft der spanischen Flotte zu warnen, ausgeschickt, die Insel heim in den Schoss der römisch-katholischen Kirche zu zwingen.
Angst vor Gewalt führt zur Existenz des Staates
Die spanische Armada sollte zwar erst gut einen Monat später überhaupt aus ihren Häfen auslaufen, die englische Aufregung muss man aber gerade heute vielleicht mit milden Augen sehen. In den Tagen von Boris Johnson (1964–) oder Jacob Rees-Mogg (1969–) gibt es bekanntlich noch weniger gravierende Gründe, an den Stränden Englands rhetorische Schützengräben auszuheben.
Doch Spaß beiseite: Spätestens seit den Bürgerkriegen des 16. und 17. Jahrhunderts, deren Zeuge Hobbes wurde, ist die Idee in der Welt, dass die Angst vor der offenen Gewalt die Existenz des Staates und seiner grundsätzlich absoluten Herrschaftsgewalt begründe.
Diese Idee ist leider etwas in Vergessenheit geraten. Wäre sie präsenter, würden Maischberger, Plasberg & Co. die notorischen Polizeigewerkschaftler, Strafrechtsverschärferinnen und Sicherheitsexperten befragen, welchen statistisch erhärtbaren Beitrag die immer neuen Instrumente der Staatsgewalt zur Beseitigung menschlicher Überlebensangst denn tatsächlich leisteten. Eine allzu schöne Hoffnung, dass diese Leute öfter schwiegen.
Angst, des Juristen täglich Brot
Der Umstand, dass hierzulande seit ungefähr 1649 kein nennenswerter Bürgerkrieg mehr stattfand, dürfte dazu beigetragen haben, dass die märchenhafte Idee von der Geburt des Staates aus der Angst verblasst ist.
Umso mehr Raum bieten Gegenstände der Angst in der täglichen Praxis von Juristen. Einschlägig sind unter anderem die Angst vor der Atomstromproduktion, Beziehungsangst, Flugangst, Hundeangst, Krebsangst, Kriminalitätsangst, Prüfungsangst, Reiseangst, Sexualangst, spezifische Angstprobleme von Soldaten, Todesangst, Trennungsangst, Angst vor Wasser, Wegeangst und Zahnarztangst.
Aus dieser Aufzählung gerichtsnotorischer Ängste – jene von Menschen, die sich als Flüchtlinge aus Not um die Aufnahme in die deutsche Gesellschaft bewerben, sind dabei noch gar nicht berücksichtigt – sollen hier kurz einige vergleichsweise markante Beispiele dazu herausgegriffen werden, welche Probleme die Würdigung von Angst bereiten kann.
Todesangst wegen Parkverbot?
Wie weit die Wahrnehmung von Todesangst auseinandergehen kann, zeigen die folgenden zwei Entscheidungen: Mit Urteil vom 4. November 1959 (Az. 2 StR 405/59) verwarf der Bundesgerichtshof (BGH) die Revision eines Angeklagten, der sich eine Vergewaltigung ("Notzucht") hatte zuschulden kommen lassen. Vorgetragen worden war unter anderem, dass zu seinen Lasten in der Strafzumessung berücksichtigt worden war, dass der Angeklagte die Frau "längere Zeit in herzloser und sadistischer Weise gequält und in Todesangst gehalten" hatte. Der BGH hielt das Urteil des Landgerichts Frankfurt/Main für angemessen: zwei Jahre Gefängnis (!) zuzüglich fünf Jahren Fahrverbot.
Einen Kontrapunkt dazu setzt der im Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 25. Juli 2011 (Az. 11 B 11.921) dokumentierte Umgang der Stadt Würzburg mit einer etwas zweifelhaft wirkenden Angst vor dem Tod. Hier trug ein Vermieter – in sichtlich dramatischer Form – vor, dass eine vorgeblich unzureichende Regelung von Parkverboten vor dem Haus die Patienten einer Ärztin gefährde, an die er die Praxis vermietete. Mit dieser Wahrnehmung fremder Existenznot obsiegte der Mann, immerhin in erster Instanz.
Todesangst zählt zu den häufigsten Ängsten, die in gerichtlichen Entscheidungen gewürdigt werden müssen, wenn sie nicht überhaupt die höchste Prävalenz hat. Insofern ist es keine feuilletonistische Schnurre, einmal zu prüfen, wie man sich zu ihr verhält. Zwei denkbare Extrempositionen hierzu bieten die genannten Beispiele.
Reiseangst nach tragischem Schicksal
Das Schlagwort "Reiseangst" führt zum Fall einer Frau, die sich mit der nordrhein-westfälischen Landesrentenbehörde um die Kosten für ihre Heilbehandlung stritt: Als 14-Jährige war sie 1941 in das sogenannte Ghetto im besetzten Łódź verschleppt worden, wo sie ihre Eltern verlor. Sie überlebte die KZ Auschwitz, Groß-Rosen, Flossenbürg und Bergen-Belsen.
Mit Mitte 30, inzwischen im nordirischen Derry lebend, war sie nicht mehr berufsfähig. Der BGH würdigt ihr tief beschädigtes Leben, in dem Reiseangst – erworben wohl durch die brutale Verschleppung – noch eine der kleineren Schwierigkeiten ist (BGH, Urt. v. 22.05.1969, Az. IX ZR 55/68).
Niemand will die Nöte heutiger Menschen mit Blick auf historisch relevante Ängste bagatellisieren. Um sie zu wissen, tut aber not – sonst hat der Anwalt kein Argument an der Hand, sobald ihn demnächst der erste Handelsvertreter bedrängt, ihm eine Berufsunfähigkeitsrente wegen Thunbergischer "Flugscham" zu erstreiten.
Ängste werden kaum hinterfragt
Angst findet sich noch in den ungewöhnlichsten juristischen Kniffen. Beispielsweise entblödete sich die zuständige Behörde im Fall einer blinden Frau aus Berlin nicht, gegen die Erstattung der Kosten zu opponieren, die für ihre Ausbildung zur Logopädin anfielen – u.a. mit dem Argument, dass ihr Blindenhund in den Praxisräumen zu vermehrtem Schmutz führe und Logopädiepatienten mit Hundeangst von ihr nicht würden behandelt werden können (Landessozialgericht [LSG] Berlin-Brandenburg, Urt. v. 22.06.2017, Az. L 29 AL 17/14).
Gerichte fragen offenbar ungern nach, welchen Realitätsbezug Ängste haben – das LSG gab ohne weitere Gründe an, dass das Argument der Hundeangst zu nichts taugt. Für die blinde Klägerin war es angenehm, dass der Behörde keine Gelegenheit gegeben wurde, zur Hundeangst weiter Stellung zu nehmen. Doch deren statistische Evidenz blieb damit natürlich ungeklärt.
Leider gilt dies auch für heute politisch hoch relevante Ängste. So unterließ es beispielsweise das Bundesverfassungsgericht im Streit um das vorläufige Ende der inländischen Kernkraftnutzung in Deutschland, dem Gesetzgeber eine wissenschaftlich substantiierte Auseinandersetzung mit der Angst vor Strahlenschäden aufzubürden (Beschl. v. 06.12.2016, Az. 1 BvR 321/12 u.a.) – gewiss kein Beitrag zur Ausnüchterung der Klimapolitik. Das Oberverwaltungsgericht für das Land NRW wollte noch 2006 nichts davon wissen, dass eine Freigabe des indischen Hanfs die Kriminalitätsangst würde lindern können (Beschl. v. 21.07.2006, Az. 13 A 2483/04).
Sang Hobbes gegen seine Ängste an?
Mit der Würdigung von Ängsten bleiben die Gerichte heute weitgehend allein. Es ist ein wenig traurig, dass trotz wissenschaftlicher Fortschritte seit den Tagen von Thomas Hobbes dem politischen Diskurs so wenig Rationalisierungslast aufgebürdet wird.
Hobbes selbst, in seiner Zeit hoch betagt, sang übrigens nachts christliche Choräle. Sein Biograf Willms meint, dass dies der körperlichen Fitness habe nutzen sollen. Gut möglich ist aber auch, dass diese Übung zur Abwehr seiner Angst diente – denn ein englischer Aberglaube will wissen, dass Gesang bei Nacht den Teufel davon abhält, sich die Seele zu holen.
Juristen und Gefühle: . In: Legal Tribune Online, 29.09.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/37881 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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