Am kommenden Mittwoch wird der Welttag gegen die Todesstrafe begangen. Es fragt sich, ob unserer modernen Weltgesellschaft der Drang zur Vernichtung des kriminell Bösen wirklich fremd geworden ist. Ein Essay von Martin Rath.
Es gibt einen Kriminalfall, über den man sich gern mit zwei älteren Herren aus den USA, Lyon Gardiner Tyler (1924–) und Harrison Ruffin Tyler (1928–), unterhalten würde: Am 3. Januar 1841 ermordete der vermutlich im Jahr 1814 geborene Schneidergeselle Rudolf Kühnapfel im ostpreußischen Frauenburg (Frombork) Andreas Stanislaus von Hatten (1763–1841), den katholischen Bischof des umliegenden Ermlands, sowie eine ältere Hausangestellte. Das übrige Personal befand sich an diesem Sonntag auswärts im Gottesdienst.
Kühnapfel galt zwar als antiklerikaler Hitzkopf, stritt aber zunächst glaubwürdig ab. Eine knappe Woche darauf bewegte ihn aber der aus Berlin angereiste Polizei-Kriminalrath Friedrich Wilhelm August Duncker (1797–?) dazu, ein Geständnis abzulegen. Auch beförderte eine Hausdurchsuchung nun Wertgegenstände zutage, die dem Bischof gehörten. Obschon das Todesurteil nach recht zügigem Prozess erging, erfolgte die Hinrichtung Kühnapfels erst am 7. Juli 1841, und zwar in einer abgemilderten Form des Räderns: Zunächst erdrosselte der Henker Kühnapfel, dann brach er ihm mit einem schweren Wagenrad die Knochen aller Körperglieder. Nach Kühnapfel folgte im August 1841 noch eine letzte Hinrichtung in dieser Form.
In beiden Fällen wurde die "milde" Praxis des Räderns angewendet, die Leichen verscharrte man alsbald. Über die Jahrhunderte war es aber üblich, dem Delinquenten bei lebendigem Leib die Knochen zu zerschmettern. Je nach Schwere der Schuld folgte der tödliche Schlag auf Brustkorb oder Kopf erst am Ende. Wenige Jahre zuvor war es auch noch fester Bestandteil des tödlichen Rituals gewesen, den zerschlagenen Körper auf ein Rad zu flechten und die Leiche dem Vogelfraß zu überlassen – womöglich eine Erinnerung an das Menschenopfer vorchristlicher Zeiten, als die hungrigen Raben als Wotans Boten galten.
1841 – noch ein Jahr unserer Gegenwart?
Die schlichte Jahreszahl 1841 mag vermitteln, dass dieser archaische Strafvollzug mittels Rädern unendlich weit von uns entfernt liegt – selbst wenn der Polizei-Kriminalrath Duncker in Berlin noch Karriere machen sollte. In den Revolutionsjahren um 1848 galt er den erzmodernen Kommunisten und Liberalen als Intimfeind. Nicht zuletzt wird ihm die Gründung einer so modernen Einrichtung wie der Eisenbahnpolizei zugeschrieben und auch die Ermittlungsarbeit zu Wertpapierfälschungen – kein Kapitalismus ohne Papiere – soll Duncker aus der Taufe gehoben haben.
Und erst recht die beiden Tyler-Brüder, die im Frühjahr 2018 mit der Nachricht erstaunten, dass heute zwei Enkel des 10. US-Präsidenten John Tyler (1790–1862) noch unter den Lebenden sind, mögen ein Gefühl dafür vermitteln, wie nah die Vorgänge im ostpreußischen Frauenburg denn doch in der Generationenfolge sein können: Ihr Großvater, ein – abgesehen davon, dass er 1844/45 die Aufnahme von Texas in die USA durchsetzte – eher unauffälliger US-Präsident, wurde just im April 1841 im Amt vereidigt. Erst ein Jahr nach Tylers Geburt trat 1791 der 8. Zusatzartikel zur US-Verfassung in Kraft, der grausame und ungewöhnliche Strafen verbot. Neben dem Hängen und militärischen Erschießen sollte in der liberalen neuen Welt Amerikas kein Platz mehr für die berüchtigte Brutalität der alteuropäischen Strafrechtspflege sein. Man dachte hier nicht zuletzt an das Rädern.
Gegenwart der äußersten Staatsgewalt
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur um ihre archaischen Aspekte – wie die Opferung des Leichnams an die okkulten Kräfte der Natur – bereinigt, reicht die Todesstrafe tief in unsere Gegenwart. Mit dem Grundgesetz im freien Teil Deutschlands am 23. Mai 1949 abgeschafft, war man bald schon von dieser humanistischen Idee selbst wieder unangenehm berührt. Richard Jaeger (1913–1998) erwarb sich etwa mit entsprechenden Wünschen in den 1960er-Jahren den Ruf eines "Kopfab-Jaeger" – worum sich kein Politiker bemüht, wenn es dafür kein Publikum gibt. Das Vaterland dankte mit der Berufung zum Bundesminister der Justiz.
Als nach der Entführung der Lufthansa-Maschine "Landshut" im Oktober 1977 das Gerücht aufkam, die Bundesregierung habe eine Hinrichtung der RAF-Gefangenen ins Auge gefasst – Erwägungen im Krisenstab wurden später kolportiert –, wird dies heute meist nur als Skandal betrachtet. Dass Krisenstäbler wie Helmut Schmidt (1918–2015) oder Franz Josef Strauß (1915–1988) schon über diesem bloßen Gerücht ihren Ruf als tatkräftige Politiker verifiziert fanden – einer keineswegs schweigenden Minderheit im Volk stand durchaus ganz archaisch der Sinn nach Hinrichtungen –, wird im merkwürdigen Idealismus unserer Gegenwart gern ausgeblendet. Töten blieb modern. Im benachbarten Frankreich war die Todesstrafe etwa zuletzt noch 1977 am tunesischen Zuhälter und Mörder Hamida Djandoubi vollstreckt, erst 1981 dank Justizminister Robert Badinter (1928–) abgeschafft worden.
Als vor einigen Jahren bekannt wurde, dass aus einer Studie der Schluss zu ziehen sei, jeder dritte Jura-Studierende wünsche sich die Todesstrafe zurück, machte sich in der Öffentlichkeit eine Empörung breit, die etwas merkwürdig wirkte – merkwürdig, weil doch das Verlangen allzu verbreitet ist, im "Kampf gegen das Verbrechen" das inkarnierte Böse aus der Welt zu schaffen, statt es als jedenfalls potenziellen Teil der je eigenen seelischen Triebkräfte zu kennen, zu fürchten und durch gute Lebensführung zu widerlegen. Es wundert fast, dass die Todesstrafe in der heutigen Tendenz, die Öffentlichkeit mit antimoralischen Eskalationsspiralen zu bedienen, noch nicht wieder zum modischen Diskussionsthema geworden ist.
Fantasien von der Todesstrafe
Dass sie aber schwerlich wieder zum Thema praktischer Rechtspolitik werden dürfte, belegte der Journalist Karl Bruno Leder (1929–) in seinem Buch "Todesstrafe" bereits 1986 eindringlich: Clinton T. Duffy (1898–1982), der zwischen 1940 und 1952 das bekannte Staatsgefängnis San Quentin leitete, erklärte aus Praktikerperspektive: "Ich wünschte, jeder Einwohner Kaliforniens könnte bei einer Hinrichtung dabei sein. […] Ich wünschte, alle könnten sehen, wie der Strick das Fleisch in Fetzen vom Gesicht des Verurteilten gerissen hat – den halb vom Rumpf getrennten Kopf, die durch den Druck hervorgequollenen Augen mit den geplatzten Adern und die unförmige Zunge. Ich wünschte, alle hätten die baumelnden Beine gesehen, den Gestank der Exkremente und den widerlich-süßen Geruch eingetrockneten Blutes gespürt."
Die US-Justiz entdeckte zwar die Vorzüge der Windel und die Tötung mittels Gift, ihr blieb aber ein von Leder am Beispiel von Barbara Graham geschildertes Problem mit sich selbst erhalten: Mehrfach wurde Graham am 3. Juni 1955 in die modern-hygienische Gaskammer gebracht und wieder herausgeholt – der Gouverneur und Gnadenherr hatte sich nochmals rechtlich zu beraten.
Man weiß nicht recht, was ein besserer Schutzschild gegen Fantasien von der Todesstrafe ist: das Widerliche des Vorgangs, der keinem ausführenden Personal mehr zugemutet werden könnte – schon 1841 erbrach sich ein Wachsoldat, während das Publikum sich am Rädern ergötzte – oder menschenrechtliche Verbriefungen.
Bemerkenswert ist die Todesstrafe im Westen vielfach überhaupt weniger wegen der rechtlichen, als wegen solch psychologischer Aspekte. Professor Franz Streng, der 2014 besagte Studie zu jungen Jura-Studenten vorlegte, betrieb eigentlich Forschung zum Autoritarismus – dieser Witz ging im Pressemoralbetrieb unter: Dass man – auch in Gesellschaften mit einer von Rechts wegen beseitigten oder objektiv selten angewendeten Todesstrafe – an der Haltung zum Hinrichten die unbedingte Lust am Strafen ablesen kann, ist in der amerikanischen Rechtssoziologie eine Binsenweisheit. Wer als Staatsanwalt seinen Fall vor eine sogenannte "Death-qualified Jury" bringen kann – vor Geschworene, aus deren Reihen jedenfalls entschiedene Gegner der Todesstrafe herausgefiltert wurden –, hat bessere Aussichten, dass die Beweise im Sinn der Anklage gewürdigt werden und es überhaupt zum Schuldspruch kommt.
Verlorener Menschenrechtsuniversalismus
Die Todesstrafe als Indikator für die unkritische Bereitschaft amerikanischer Geschworener oder künftiger deutscher Juristen heranziehen zu können, andere Menschen (auch ohne Todesfolge) zu strafen, ist in der Weltgesellschaft der Gegenwart indes ein Luxus.
Nicht wenigen Staaten Afrikas und Asiens, die in den 1950er und 1960er Jahren aus den europäischen Kolonialimperien entlassen wurden, z. B. Pakistan und Nigeria, widerfuhr in den vergangenen gut 30 Jahren das saudi-arabische Franchise einer wahabitischen Justiz, Kopfabschlagen und Steinigen wurden eingeführt, wo die westlichen Herren keine Rechtsstaaten hinterlassen hatten.
Ganz utilitaristisch pflegte die Volksrepublik China bis zum offiziellen Verbot im Jahr 2015 (!) die transplantative Wiederverwertung von Organen hingerichteter Menschen. Mangels freier Presse daselbst lässt sich nur spekulieren, was das neue Gesetz in einem Land wert sein mag, das im Korruptionsindex von Transparency International auf Rang 77 liegt. Hierzulande, Rang 12, schimpft derweil viel Volk über die Unerträglichkeit seiner Verhältnisse, träumen junge Juristen von neuer Härte.
Kein Grund, über chinesisches Nützlichkeitsdenken die Nase zu rümpfen: Fett und Knochen von aufs Rad geflochtenen Menschen, das Blut von Enthaupteten galten unsereins noch vor wenigen Generationen als wirksame Medizin. Gern schulten, Kollateralnutzen der Strafrechtsmodernisierung, Henkers- in Apothekerfamilien um.
Wem dies Übelkeit bereitet, mag ein Mittel aus Samuel Hahnemanns (1755–1843) magischer Hausapotheke wählen, über die Irrationalität der Fremden spotten und beten, dass unsere Gesellschaft die physische Vernichtung des Bösen nicht neu zum Programm erhebt.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Ohligs.
Strafrecht: . In: Legal Tribune Online, 07.10.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/31329 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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