Soldatenwallfahrt nach Lourdes: Mit der Luft­waffe zur Jung­frau Maria fliegen

von Martin Rath

11.02.2024

Wenn ein Soldat vor Gericht geht, um an einer Reise zum Marienwallfahrtsort Lourdes teilnehmen zu können, sieht das zunächst nach optimierter Freizeitgestaltung aus. Doch hat diese militärische Kultuspraxis eine bizarre Vorgeschichte.

Der Minister war privat ein evangelischer Christ, wurde berühmt als Zigarettenraucher und Produzent markiger Sprüche, die uns daran erinnern, dass man mit realpolitischen Ideen in Deutschland populär wird, allerdings nur, wenn man sie als Ruheständler äußert.

Kurz, Helmut Schmidt (1918–2015) und sein Staatssekretär wussten es vielleicht nicht besser, als sie mit einem Fall von katholischer Marienfrömmigkeit zu tun bekamen.

Vom juristischen Standpunkt her wollte man jedoch nichts falsch machen. Denn die erste SPD-geführte Regierung der Bundesrepublik Deutschland (Kabinett Brandt I, 1969–1972) legte erkennbar Wert darauf, im Umgang mit den Angehörigen der Bundeswehr keinen Verdacht aufkommen zu lassen, dass man es mit der Fürsorgepflicht des Ministers in seiner Funktion als militärischer Vorgesetzter nicht ganz genau nehmen könnte.

Entsprechend wurde der Wunsch eines Soldaten, bei der Reise zum berühmten Marienwallfahrtsort im südfranzösischen Lourdes ein Stück der Strecke in einer Maschine der Luftwaffe geflogen zu werden, im Jahr 1972 etwas voreilig dem 1. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts vorgelegt. Worum ging es in der Sache?

Keine Soldatenwallfahrt aus Nordamerika mit Bundeswehrmaschinen

Mit Erlass vom 17. Februar 1971 hatte Bundesverteidigungsminister Helmut Schmidt, im Amt 1969 bis 1972, sein Einverständnis erklärt, dass Angehörige der Bundeswehr an der Internationalen Soldatenwallfahrt nach Lourdes teilnehmen, die auf den 21. bis 23. Mai 1971 datiert war. Hierzu war Sonderurlaub bzw. Arbeitsbefreiung unter Lohnfortzahlung zu gewähren.

Wie sehr katholische Marienfrömmigkeit und das Militärische zusammenhängen, mag dem Minister dabei nicht bewusst gewesen sein. Man setzte nur die Praxis der Amtsvorgänger fort.

Aufgrund des Erlasses meldeten sich beim zuständigen Katholischen Militärbischofsamt auch neun Soldaten und Beamte an, die ihren Dienst in den USA oder Kanada verrichteten. Sie gingen davon aus, dass ihnen – wie es in den Jahren zuvor üblich gewesen war – die Genehmigung erteilt würde, von ihren Stationierungsorten in Nordamerika in einer Bundeswehrmaschine nach Köln-Wahn mitfliegen zu dürfen.

In dieser Erwartung hatte die Dienststelle des Militärbischofs sich wegen des Fluges erst spät, am 4. Mai 1971, beim Bundesverteidigungsministerium gemeldet. Aus der Bundeshauptstadt kam jedoch mit Fernschreiben vom 13. Mai 1971 die Absage. Die bisherige Ausnahmeregelung, für die Soldatenwallfahrt aus Nordamerika in Bundeswehrmaschinen mitfliegen zu dürfen, werde aus "Erwägungen rechtlicher und administrativer Art abgelehnt".

Ein Soldat wollte trotzdem mitfliegen – und beschwerte sich beim Ministerium

Einer der unverhofft um ihre Flugverbindung zur soldatischen Wallfahrt gebrachten Bundeswehrleute schrieb, sichtlich aufgebracht, eine Beschwerde ans Ministerium.

In seinem Schreiben erwähnte er, dass im letzten für die Wallfahrt noch in Frage kommenden Bundeswehr-Flugzeug rund 50 Plätze frei bleiben würden, er seinen Teilnahmebeitrag schon gezahlt und wegen seiner großen Familie bereits Vorbereitungen für die Zeit seiner Abwesenheit vom Dienstort Fort Bliss/Texas habe treffen müssen.

Auch die – allerdings vom Militärbischofsamt verschuldete Zeitnot – empörte ihn:

"Außerdem läßt eine so kurzfristige Entscheidung keiner Zwischendienststelle und keinem Vorgesetzten mehr die Möglichkeit, gegen diese Einspruch zu erheben oder eine Rücknahme der Ablehnung zu erwirken. Das ist m.E. keine loyale Verhaltensweise gegenüber den Untergebenen."

Diese Beschwerde vom 14. Mai 1971, verbunden mit der Bitte, ihm die Mitflug-Möglichkeit wieder einzuräumen, hielt der Beschwerdeführer auch mit Schreiben vom 27. September 1971 aufrecht, wegen des künftigen Interesses, mit Blick auf die jährlich stattfindende Soldatenwallfahrt nach Lourdes.

Beschwerde fürs oberste Truppendienstgericht – oder nur fürs Verwaltungsgericht?

Mit dem Vorwurf, "keine loyale Verhaltensweise" gegenüber einem Soldaten gezeigt zu haben, war aber wohl im sozialdemokratisch geführten Bundesverteidigungsministerium ein Nerv berührt worden. Daher legte man die Sache nach §§ 17 Abs. 1, 21 Wehrbeschwerdeordnung (WBO) a.F. dem Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts zur Entscheidung vor. Denn zunächst wollte das Ministerium diese Beschwerde dahin auslegen, dem Minister werde vorgehalten, er habe seine Pflichten als Vorgesetzter nach dem Soldatengesetz (SG) verletzt.

Verletzt ein Vorgesetzter – und sei es der Minister – die Rechte eines Soldaten aus §§ 6–23, 26–29, 32 und 36 SG, ist die Zuständigkeit der Truppendienstgerichte gegeben, hier sogar unmittelbar jene des Bundesverwaltungsgerichts mit seinen Wehrdienstsenaten.

Weil es sich jedoch bei dem Wunsch, günstig von Texas nach Köln geflogen zu werden, um einen vermögensrechtlichen Sachverhalt handelte, verneinte der 1. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts mit Beschluss vom 11. August 1972 seine Zuständigkeit und verwies die Sache an das örtlich zuständige Verwaltungsgericht Köln (Az. 1 WB 156/71).

Ob die wallfahrtwilligen Soldaten dort mehr Glück hatten, ist im juristischen Schriftgut nicht überliefert.

Weitere wallfahrtsrechtliche Angelegenheiten von Soldaten

Bis zum bitteren Ende der letzten Instanz werden wallfahrtsrechtliche Fragen von Militärangehörigen ohnehin selten durchgefochten, auch bleiben sie selten.

Im Jahr 1992 wollte beispielsweise ein Angehöriger im Sanitätsdienst der Bundeswehr an der Lourdes-Wallfahrt teilnehmen, was ihm zunächst verweigert wurde, weil dies einen Personalengpass bedingt hätte. Obwohl ihm seine Vorgesetzten den Sonderurlaub auf Beschwerde hin doch genehmigten, versuchte er, daraus eine Grundsatzfrage zu künftigen Freistellungen im Fall religiöser Bedürfnisse zu machen. Das Gericht sah dazu aber keinen Anlass (BVerwG, Beschl. v. 10.03.1993, Az. 1 WB 84.92).

Religiöse Bedürfnisse ihrer Mitmenschen sind heute den meisten Leuten fremder als die Rückseite des Mondes. Und auch die hier angeführten Bundeswehrsoldaten haben sich zu ihrer konfessionellen Motivation nicht ausführlich eingelassen.

Mehr als eine allgemeine Annäherung an historische Motive wollen wir hier nicht leisten, sie sind jedoch verblüffend genug. Denn das Militär und die Jungfrau Maria haben erstaunlich viel miteinander zu tun.

Ziemlich viel Religionsgeschichte, wenn es um die Jungfrau Maria geht

In der südfranzösischen Ortschaft Lourdes erschien die Jungfrau und Gottesmutter Maria, wie die katholische Überlieferung weiß, zwischen dem 11. Februar und dem 16. Juli 1858 dem Mädchen Bernadette Soubirous (1844–1879) insgesamt achtzehn Mal. Es scheint, als hätte sie schon den berühmten Spruch gekannt, der oft Helmut Schmidt zugeschrieben wird: Es solle zum Arzt gehen, wer Visionen hat. Denn die 14-jährige Bernadette legte bei einer ihrer Visionen eine Quelle frei, deren Wasser bis heute eine magisch vermittelte Heilkraft zugesprochen wird.

Die zuständige Dienststelle im Vatikan erkennt zwar nur eine kleine Zahl von Heilungen als Wunder von Lourdes amtlich an, in der römisch-katholischen Kirche entfaltete sich jedoch im 19. und 20. Jahrhundert generell eine populäre Marienverehrung von beachtlicher Breitenwirkung.

Es blieb nicht bei den Marienerscheinungen von Lourdes oder, ähnlich berühmt, knapp 60 Jahre später 1917 im portugiesischen Fátima.

Vielmehr, nun aber in der Regel ohne kirchenamtliche Anerkennung, wurden Marienvisionen, vor allem in den katholischen Regionen Europas und der Welt, mit teils beachtlicher Frequenz dokumentiert.

Apokalyptischer Krisenkult als Volksbewegung

In der kulturwissenschaftlichen Forschung wird diese Konjunktur der Marienerscheinungen im 19. und 20. Jahrhundert als Ausdruck religiösen Krisen und ihrer Verarbeitung interpretiert.

Beispielsweise berichtete ein 12-jähriges Mädchen in Fehrbach, in der Nähe von Pirmasens, von solchen Visionen. Die Jungfrau und Gottesmutter erschien ihr seit Mai 1949 circa alle zwei Wochen im Pfälzer Wald, unweit der französischen Grenze. Bis zu 15.000 Menschen zog dies an, Kerzen und Andachtsbilder wurden am Ort der Marienerscheinung aufgestellt. Obwohl die Amtskirche die Sache nicht anerkannte, entwickelte sich vor Ort eine nachhaltige Tradition der Marienverehrung. Noch im Jahr 2006 war das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz mit der Frage beschäftigt, ob die Baubehörde verpflichtet sei, den Bau einer Marienkapelle zu genehmigen.

In der Regel waren es Mädchen, die von Marienvisionen erzählten. Eine nüchterne Erklärung für die Zeit nach 1945 kam aus Hollywood: Im Jahr 1948 lief in den westdeutschen Kinos der Film "Das Lied von Bernadette" an, der – nach Vorlage des Romans von Franz Werfel (1890–1945) – die Visionen von Lourdes noch einmal in die breitere Öffentlichkeit trug. Eine Begründung dafür, warum nicht wenige Mädchen glaubten, der Gottesmutter zu begegnen, ist damit natürlich noch nicht gefunden – erst recht nicht dafür, warum viele Tausend Menschen ihnen in diesem Glauben folgten.

Die Historikerin Monique Scheer (1967–), Professorin für Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen, erklärt es für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, kurz vor der Wiederbewaffnung Deutschlands und im Zeichen der neuen atomaren Bedrohung damit, "dass die Angst vor einem Krieg die Teilnahme an Erscheinungsveranstaltungen motivierte, und zwar deshalb, weil diese Teilnahme eine Möglichkeit bot, die Angst zu artikulieren und gleichzeitig zu bewältigen".

Militarisierter Marienkult – Marienkult im Militär

Dieser dialektische Mechanismus, dass Marienerscheinungen im Westdeutschland der Nachkriegszeit zugleich dazu geeignet waren, die Furcht vor dem Atomkrieg bzw. einer sowjetischen Aggression greifbar zu machen und mit ihr durch die rituelle Praxis in der Gemeinschaft einer Masse von Gläubigen umzugehen, erschließt noch nicht, wie die Soldaten der Bundeswehr ab 1958 dazu kamen, nach Lourdes pilgern zu wollen.

Ein Grund liegt darin, dass der südfranzösische Ort bereits spätestens seit den 1880er Jahren die Destination eines professionellen katholischen Reisebetriebs geworden war. Für die vielen ärmeren Leute, die sich diese Frühform des Massentourismus nicht leisten konnten, entstanden vielerorts in Deutschland kleine Andachtsorte, oft Grotten oder Felsnischen, mit denen das symbolische Repertoire von Lourdes nachgebaut wurde. Eine Wallfahrt nach Lourdes hatte für den katholischen Soldaten der 1950er und 1960er Jahre also noch einiges an sozialem Prestige.

Hinzu kommt, dass die Jungfrau und Gottesmutter Maria bis in die 1960er Jahre im Stil einer paganen Kriegsgöttin verehrt wurde. Der Sieg der katholischen Alliierten über die osmanische Marine in der Seeschlacht von Lepanto im Jahr 1571 wurde ebenso auf die eingreifende Fürsprache Marias zurückgeführt wie der Schutz Münchens, Bayerns überhaupt, vor der Eroberung durch Streitkräfte des schwedischen Königs im Dreißigjährigen Krieg.

Das Rosenkranzgebet, ohnehin populär seit der Schlacht von Lepanto, mit seinem starken Aspekt der Marienverehrung, erhielt eine militante Deutung. Es gründete etwa der k.u.k.-polnische Nachwuchsgeistliche Maximilian Kolbe (1893–1941), bekannt durch sein Selbstopfer im Konzentrationslager Auschwitz, im Jahr 1917 die "Militia Immaculatae", die "Soldaten der Unbefleckten". Diese der Jungfrau Maria gewidmete Bewegung verschrieb sich ursprünglich dem Ziel, "der Schlange das Haupt zu zertreten", also der "Bekehrung der Sünder, Häretiker, Schismatiker, Juden etc., besonders der Freimaurer". Seit den 1960er Jahren entschärft, gibt es heute eine militante Wiederauflage. Der Rosenkranz, als Hilfsmittel nicht zuletzt der Marienverehrung, wird in diesen Kreisen als Waffe imaginiert – der Mönch gürte sich mit ihm so wie der Ritter mit dem Schwert.

Menschen sind nicht dauerhaft in Angst zu halten

In den Gründungsjahren der Bundesrepublik Deutschland waren derartige Ideen noch recht präsent. Beispielsweise trug Franz Weiß (1887–1974), Landwirtschaftsminister des Landes Württemberg-Hohenzollern, im Jahr 1948 in einer Versammlung katholischer Männer vor, die Jungfrau Maria werde dem abendländischen Christentum auch in seiner Schlacht gegen den atheistischen Kommunismus helfen.

Heutigen Soldatinnen und Soldaten wird ein derart militarisierter Marienkult vermutlich kaum noch vertraut sein, wenn sie nach Lourdes auf Reisen gehen. Auch Helmut Schmidts Verfahrensgegner im Jahr 1971 war vielleicht nur noch ein Tourist, der die Chance auf Sonderurlaub und Mitfluggelegenheit nutzen wollte.

Denn Monique Scheer führt an, dass bereits seit 1954 die Angstverarbeitung durch Marienerscheinungen zu schwinden begann, womöglich bedingt durch ein abnehmendes Krisenbewusstsein nach dem Tod Stalins und den steigenden Wohlstand: "Ein weiterer Grund könnte in der Dynamik der Angstkultur selbst liegen, wie beispielsweise Studien zur Zivilschutz-Propaganda im Kalten Krieg gezeigt haben: dass nämlich die Fähigkeit, Menschen dauerhaft in Angst zu halten, begrenzt ist."

Hinweis: Monique Scheer: "'Unter Deinen Schutz und Schirm fliehen wir'. Religiöse Ausdrucksformen in der Angstkultur des Kalten Krieges". In: Bernd Greiner, Christian Th. Müller, Dierk Walter (Hg.): Angst im Kalten Krieg. Hamburg 2009, S. 322–346.

Zitiervorschlag

Soldatenwallfahrt nach Lourdes: . In: Legal Tribune Online, 11.02.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53848 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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