Die Entscheidung des ungarischen Gesetzgebers, eine positive Darstellung von Homosexualität in der Öffentlichkeit zu unterbinden, hat sogar konservative deutsche Politiker veranlasst, sich empört zu äußern: eine etwas durchwachsene Moral.
Zu welchem Zweck der Mensch mit Geschlechtsorganen ausgestattet sei – in dieser Frage bestand einst beim Amtsgericht (AG) Ingolstadt eine beeindruckende Klarheit:
"Sexualität ist ein Instrument der Fruchtbarkeit und dient der Erhaltung des Menschengeschlechtes; gleichgeschlechtliches Tun ist stets zur Unfruchtbarkeit verurteilt, ist wider die menschliche Natur gerichtet und widerstrebt gesundem natürlichem Empfinden."
Daher bestehe "der dringende Verdacht, ja nahezu Gewißheit", dass ein Verein sittenwidrige Zwecke verfolge, wenn er nach "Toleranz und Volksbildung" zugunsten homosexueller Frauen und Männer strebe.
Homosexuelle litten nicht unter Diskriminierung "im eigentlichen Sinn, deren Abbau von der Mehrheit der Rechtsgenossen als erstrebenswert angesehen werden müßte. Denn die Einschätzung, welche gleichgeschlechtlicher Betätigung in den weitesten Kreisen der Bevölkerung entgegengebracht wird, beruht weder auf Willkür noch auf einer falschen Welt- und Lebensanschauung, ist vielmehr die Folge der Tatsache, daß es sich um eine Abartigkeit handelt […]."
Schließlich bekundete der Rechtspfleger seinen Verdacht, dass "mit der Vereinsgründung eine Verharmlosung nicht etwa bloß schuldlos empfangener homosexueller Veranlagung, sondern eine Verharmlosung nach wie vor sittenwidrigen gleichgeschlechtlichen Tuns und Verhaltens erstrebt wird … Niemand, der die Welt mit offenen Augen betrachtet, wird leugnen, daß es sexuelle Verhaltensweisen gibt, die zu bejahen und solche, die abzulehnen sind, weil sie in sich unsittlich sind."
Durchwachsene Entwicklung in den Kommunikationsrechten
Es mag schwerfallen, den Beschluss zeitlich einzuordnen, ist die oberbayerische Gemeinde Ingolstadt doch bereits seit 1879 Sitz eines Amtsgerichts. Wo befinden wir uns hier also: 1880, 1930, 1950 oder 1990? – Nicht auszumalen, auf welches Jahr jene Politiker diese kantige Stellungnahme wider die "Verharmlosung … sittenwidrigen gleichgeschlechtlichen Tuns und Verhaltens" datieren würden, die den Wert der Werbung mit Regenbogen-Utensilien erst in jüngerer Zeit für sich entdeckt haben.
Des Rätsels Lösung: Entnommen sind die zitierten Feststellungen dem Beschluss des AG Ingolstadt vom 26. Juni 1980 (Az. 4 AR 169/80) in der Sache eines "VSGI – Verein sexuell Gleichgesinnter Ingolstadt", dessen weiteres rechtliches Schicksal leider im Dunklen bleibt.
In diese Zeit fällt beispielsweise auch der Beschluss des Oberlandesgerichts (OLG) Nürnberg, einem in der Justizvollzugsanstalt Straubing Inhaftierten die Aushändigung von Zeitschriften vorzuenthalten, die "sich praktisch ausschließlich in bejahender und werbender Form mit der Homosexualität in ihren verschiedenen Spielformen" beschäftigten.
Ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz – heterosexuellen Gefangenen wurde pornografisches Material vergleichbarer Qualität ausgehändigt – liege nicht vor, weil sich die Gefahrensituation unterscheide: "Angesichts der sexuellen Ausnahmesituation der in einer abgeschlossenen, reinen Männergesellschaft lebenden Gefangenen sind solche Zeitschriften geeignet, die ohnehin durch die erzwungene, der Natur der Sache nach nicht vermeidbare, sexuelle Enthaltsamkeit gespannte Atmosphäre noch künstlich zu erhitzen und die Gefangenen zu verleiten, solche Auswege aus dieser Situation zu suchen, die leicht zu Abhängigkeitsverhältnissen unter den Gefangenen führen können" (OLG Nürnberg, Beschl. v. 15.08.1983, Az. Ws 552/83).
Vorbehalte auch später, auch in Berlin
Zu einem Anliegen des heute als "Vorspiel Sportverein für Schwule und Lesben Berlin e.V." firmierenden Vereins äußerte das Kammergericht (KG) Berlin noch gut zehn Jahre später Vorbehalte – wenn auch in weniger drastischer Form.
Der Verein hatte die Aufnahme in den Dachverband der in Berlin Leichtathletik treibenden Sportvereine begehrt, der auf seinem Gebiet eine "monopolartige, jedenfalls überragende Machtstellung" in Sachen Finanzierung und Wettkampftätigkeit hatte.
Der Dachverband nahm jedoch Anstoß an den Wörtern "schwul" und "Vorspiel" im Vereinsnamen. Das Gericht konnte diesen Vorbehalten folgen, mit der einschränkenden Tendenz, dass ggf. "der Namensbestandteil 'Schwuler' vom Beklagten hinzunehmen wäre, weil dieser Begriff mit Rücksicht auf die in Anschauung und Sprachgebrauch eingetretene Wandlung nicht mehr als abwertend oder provozierend verstanden werden kann, sondern nur eine umgangssprachliche, objektive Bezeichnung der männlichen gleichgeschlechtlichen Veranlagung darstellt. Durch die zusätzliche Aufnahme des Wortes 'Vorspiel' in den Vereinsnamen hat der Kläger indessen den Bereich der sachlichen Information verlassen. Die Wortkombination 'Vorspiel' und 'Schwuler' – mag sie auch vom Kläger nur für witzig oder originell gehalten werden – ist zur Kennzeichnung des angesprochenen Kreises homosexueller Sportler nicht erforderlich, und insofern mehrdeutig, als sie die Deutung bzw. Fehldeutung zuläßt oder gar nahelegt, der klagende Verein könnte die Sportausübung als Vorwand zur Partnerschaftsanbahnung unter sexuellen Aspekten ansehen" (KG Berlin, Urt. v. 05.05.1992, Az. 19 U 6735/91).
Homosexuelle Betätigung in der Bundeswehr und anderen Kasernen
Zur gleichen Zeit, in der sich beim KG Berlin die zarte Bereitschaft andeutete, die linguistische Strategie zu billigen, sich vom Wort "schwul" nicht mehr verletzt zu sehen, sondern es in trotzigem Selbstbewusstsein zu übernehmen – heute dürfte es schwerer fallen, solche Geusenwörter durchzusetzen – formulierte das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) eine Aussage zu homosexuellen Umtrieben bei der Bundeswehr, aus der noch ein deutlich distanzierterer Zeitgeist sprach.
In der Waldkaserne Hilden (bei Düsseldorf) hatte ein Militärmusiker mit einiger Wahrscheinlichkeit anal mit einem untergebenen Soldaten verkehrt, wobei der Grad an Freiwilligkeit bzw. Unfreiwilligkeit des Vorgangs im Trüben lag – beide Soldaten waren stark alkoholisiert, ein bei der Bundeswehr nachgerade gerichtsnotorisch pandemischer Zustand.
Das AG Langenfeld sprach den Musikfeldwebel vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs Widerstandsunfähiger, § 179 Strafgesetzbuch (StGB) zwar frei, eine disziplinarrechtliche Würdigung blieb gleichwohl möglich.
Vielleicht weil auch im Disziplinarverfahren der Grad der alkoholbedingten Widerstandsunfähigkeit unklar blieb, fand der 2. Wehrdienstsenat zu einer mehr sexual- bzw. militärsoziologischen Erwägung, um die Herabstufung im Dienstgrad zu begründen: "In der engen Männergemeinschaft der Bundeswehr können homosexuelle Beziehungen unter keinen Umständen geduldet werden, weil sie zu Absonderung und Gruppenbildung, zu Eifersucht und gegenseitigem Mißtrauen führen und damit die soldatische Gemeinschaft sprengen. Insbesondere aber fällt ein Vorgesetzter, der mit einem Untergebenen homosexuelle Handlungen vornimmt, in aller Regel dem Gespött und der Verachtung der übrigen Soldaten anheim, büßt seine Autorität ein und könnte unter Umständen sogar Nötigungsversuchen aller Art ausgesetzt sein" (BVerwG, Urt. v. 30.07.1991, Az. 2 WD 5.91).
Indifferenz in der Wahrnehmung von Nötigung oder Gewalt zu zeigen, jedoch Klarheit im Urteil über anstößige Sexualität, hatte offenbar eine lange Tradition.
Beispielsweise wurde im Jahr 1968 einem Bundesbahnoberinspektor, in einer Art Internat eingesetzt als Sportlehrer für 16- bis 18-jährige Bahnauszubildende, vorgeworfen, seine Schüler mit einem Fragebogen über "Geschlechtsverkehr, Selbstbefriedigung und Homosexualität" ausgeforscht zu haben. Bei nächtlichen Geländespielen waren Jugendliche an Bäume gefesselt worden, der Lehrer hatte sich halbnackt fotografieren lassen. Seine BDSM-Fantasien gerieten mit der Dienstpost zufällig in die Hände des Vorgesetzten.
Nötigung oder Gewalt wogen aber nicht als solche schwer: "Das eigentliche Gewicht dürfte das pflichtwidrige Verhalten des Beamten aber dadurch erhalten, daß er sich durch die mit einigen von ihm ausgewählten Jugendlichen durchgeführten 'Fesselspiele' in den Verdacht der Begehung gleichgeschlechtlicher Unzuchtshandlungen gebracht hat. Dieser Verdacht bestand nicht nur in den Kreisen der jugendlichen Lehrgangsteilnehmer, unter denen […] davon gemunkelt wurde, daß der Beamte wohl gleichgeschlechtlich veranlagt sei, sondern drang auch durch das gegen den Beamten anhängig gewordene Strafverfahren in die breite Öffentlichkeit, wie die in den Akten befindlichen Pressemeldungen zeigen. Damit aber wurde nicht nur das Ansehen des Beamten selbst, sondern auch das der Deutschen Bundesbahn empfindlich geschädigt" (BVerwG, Beschl. v. 24.04.1970, Az. I DB 2.70).
Anerkennung seit den 1990er Jahren
Der Wandel in allerlei richterlichen Wertungen zur Sexualsphäre lässt sich erst später ausmachen.
Beispielsweise erregte ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Mai 1994 (Az. 5 C 21.91) in der Öffentlichkeit noch einiges Aufsehen, das einem homosexuellen Sozialhilfe-Empfänger den Anspruch auf Erstattung der Kosten für Kondome und Gleitcreme zum Schutz vor einer HIV-Erkrankung zusprach, ohne dass hier auch nur Reste jener rustikalen Vorstellungen zu erkennen waren, auf die sich das AG Ingolstadt gerade einmal zehn Jahre zuvor noch gestützt hatte.
Menschenrechtliche Anerkennung, beispielsweise bei der Erteilung der Arbeitserlaubnis für den ausländischen Teil einer homosexuellen Partnerschaft, setzte sich in den 1990er Jahren durch (vgl. etwa LSG Sachsen, Urt. v. 03.04.1997, Az. L 3 Al 45/96).
Die zeitliche Einordnung solcher Entwicklungen tut not: Neben dem Vorwurf, dass sich Politiker mit fremden Federn schmückten, weigern sich heute wohl alle "woken" Bewegungen, das empfundene Unrecht der Gegenwart gegen die realen Fortschritte der jüngeren Vergangenheit auch nur ansatzweise zu gewichten.
Beides wirkt gleichermaßen unredlich.
Homosexualität und Justiz: . In: Legal Tribune Online, 27.06.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45311 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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