Liegt jüdischer Messianismus im deutschen Rechts- und Gerechtigkeitsdenken? Helfen antike Philosophen dabei, sich in den Wirren der Weimarer Republik zu orientieren? Fragen, denen der 1942 ermordete Dr. Kurt Sternberg nachging.
Im Januar 1938 schloss der am 19. Juni 1885 in Berlin geborene Philosoph Kurt Sternberg das letzte Buch ab, das er in Deutschland publizieren konnte: "Philosophische Probleme im biblischen und apokryphen Schrifttum der Juden".
Anders als etwa sein jüngerer Kollege Ludwig Marcuse (1894–1971), der sich als Feuilleton-Autor etablieren konnte und noch heute seine Leser findet, betrieb Sternberg die Philosophie nicht primär, um ein journalistisches Einkommen zu erwirtschaften. Um mit akademischem Anspruch philosophisch arbeiten zu können, trug er vielmehr als Textilverkäufer zum Familienunterhalt bei.
Obschon die Professoren seinerzeit mehr als heute zum berufsständischen Naserümpfen neigten, tat er dies offenbar mit einigem Erfolg. Noch 1933 veröffentlichte beispielsweise die renommierte "Historische Zeitschrift" – damals mehr denn je Zentralorgan der deutschen Geschichtswissenschaft – seinen hoch gelehrten ideengeschichtlichen Aufsatz zur utopischen Schrift "La città del Sole" (deutsch: "Sonnenstaat") des italienischen Renaissance-Philosophen Tommaso Campanella (1568–1639) – eine Studie, in der Sternberg luzide Platon- sowie Kenntnisse der von Campanella rezipierten jüdischen Esoterik, der Kabbala, unter Beweis stellte.
Gut zehn Jahre zuvor hatte Sternberg eine Sammlung staatsphilosophischer Quellentexte herausgegeben, deren Auswahl – vom geschätzten Platon und Seneca über Machiavelli und Hobbes bis zu Kant und Hegel – noch heute überzeugen kann. Wiederholt bemühte sich Sternberg – eher fragwürdig – darum, Platon als modernen, in der unruhigen Zeit der Weimarer Republik lehrreichen Denker vorzustellen. Diese Art philosophischen Denkens erfreute sich, schwer vorstellbar in der Richard-David-Precht-Gegenwart, einiger Beliebtheit. Ludwig Marcuse sollte beispielsweise das Verhältnis von Denkern und Diktatoren in eine feuilletonistische Platon-Studie übersetzen, Karl R. Popper (1902–1994) webte mit dem ersten Band seines Werks "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" 1944 im neuseeländischen Exil einen weitmaschigen Fluch auf Platon im Besonderen und die europäische Geschichtsphilosophie im Allgemeinen.
Jüdische Rechts- und Geschichtsphilosophie im NS-Staat
Im Berlin der NS-Jahre fand Kurt Sternberg jedoch Trost in einer Geschichtsphilosophie, die jüdisches und deutsches Denken verband – einschließlich der in ihr verborgenen Überzeugungen zu Recht und Gerechtigkeit.
Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten wurden Sternbergs Möglichkeiten beschränkt, weiterhin zu publizieren. Der Verlag, in dem er seine augenscheinlich erfolgreiche Staatsphilosophie-Textsammlung veröffentlicht hatte, renommierte nun mit dem überzeugten NS-Juristen Otto Koellreutter (1883–1972).
Sternberg fand nur noch Gelegenheit, in dem bedrängten Kreis der jüdischen Kulturvereine zu sprechen und zu publizieren. Sein letztes Buch "Philosophische Probleme im biblischen und apokryphen Schrifttum der Juden" beruht zum Teil auf diesen Vorträgen – und wer es zu lesen weiß, findet bemerkenswerte Aussagen.
So zeichnet Sternberg – mit Blick in die jüdische Bibel – ein Bild vom Herrscher, dessen Würde sich aus seinem Richteramt herleite, das theologisch als von Gott übertragenes Amt zu verstehen sei – wobei der Richter "als Retter in und aus der staatlichen Not, als Schützer vor der Gewalt der Feinde" Verantwortung trage.
Man muss es kontrastieren: Als Sternberg im Januar 1938 sein Buch abschließt, werden er und die Besucher seiner Vorträge im "Jüdischen Lehrhaus" zu Berlin bereits seit Jahren drangsaliert – auf der Grundlage antisemitischer Sondergesetze und im antijüdischen Zeitgeist. Jüdische Redakteure sind von Rechts wegen schon seit 1933 aus dem Beruf verdrängt, jüdische Abiturienten dürfen seit 1934 nicht mehr Jura studieren, die Nürnberger Gesetze verbieten Heirat und sexuelle Kontakte zwischen Juden und "Ariern", spätestens 1937 beginnt die räuberische "Arisierung" der deutschen Wirtschaft.
Heilige Schrift als Grundlage
In der heiligen Schrift findet Sternberg zur Legitimität von Herrschaft: "Die innere Autorität eines Regenten, welche auf seinen geistig-sittlichen Qualitäten beruht, ist die Voraussetzung seiner äußeren Autorität. Keineswegs und keinesfalls wird diese bewirkt durch arrogantes Verhalten, durch willkürliche Prätentionen." Den Herrschenden sei es schon verboten, sich im Herzen über ihre Mitmenschen zu erheben, denn sie sollen bedenken, dass "der, welcher heute König ist, bereits morgen tot sein kann".
Nach den Sprüchen Salomos werde "vermittels der Gerechtigkeit ein Volk nicht nur erhöht, sondern überhaupt erst in seiner Existenz gesichert". Und das Verlangen nach einem gerechten sei untrennbar verbunden mit dem Verlangen nach einem barmherzigen Herrscher.
Im Herzen des "Dritten Reichs", das von "konservativen Revolutionären" nicht selten ernsthaft, von der NS-Führung wohl oft eher plakativ als irdische Körperschaft eines chiliastischen "Tausendjährigen Reichs aufgefasst wurde – samt Juristen, die dem "Führer" kraft seiner Erlöserrolle als oberstem Gesetzgeber huldigten – schrieb Kurt Sternberg über den Messias der jüdischen Lehre: "Der Messias erringt seine großen politischen Erfolge nicht durch irgendwelche lasterhaften Mittel, sondern einzig auf dem Weg der Tugend. Seine Weisheit besteht nicht in der Anwendung fragwürdiger diplomatischer Kniffe und Schliche, sondern allein in der Bestätigung der Gerechtigkeit. Der von ihm beherrschte Staat ist zuerst und hauptsächlich ein Rechtsstaat. Es ist eben die grundsätzliche, für alle Zeiten bedeutungsvolle Anschauung der Bibel, daß die Gewährleistung des Rechts die wichtigste, von seinem Wesen überhaupt nicht abtrennbare Obliegenheit des Staates ist."
Sternberg schließt, vier Kilometer vom Amtssitz Hitlers entfernt, mit seinem berühmten Königsberger Kollegen: "Es liegt durchaus in der Linie dieser Vorstellung vom Messias und damit eben der Lehre des Judentums, wenn Kant sagt: ‚Die wahre Politik kann … keinen Schritt tun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben …". Wer in Immanuel Kants (1724–1804) Schrift "Zum ewigen Frieden" diese Stelle nachschlägt, entdeckt weiterführende Kritik am unmoralischen Staat. Kundige Leser wussten dies seinerzeit vermutlich auch aus dem Gedächtnis.
KZ Sachsenhausen – Aufnahmelager Westerbork – KZ Auschwitz
Allein die wirtschaftlich bedrängte Lage der Juden in Deutschland hinderte daran, dass Sternbergs letztes Buch allzu viele Leser fand. Noch im gleichen Jahr gelang es zudem seinem Verleger Joachim Goldstein (1904–1969), nach Tel Aviv ins Exil zu gehen – kurz bevor die britische Mandatsverwaltung für Palästina die Einreise noch weiter erschweren sollte.
Am 10. November 1938 wurde Kurt Sternberg, wie rund weitere 30.000 jüdische Männer im Rahmen der Novemberpogrome verhaftet und in das Konzentrationslager Sachsenhausen (Oranienburg bei Berlin) verschleppt. Nach sechs Wochen entlassen, floh Sternberg 1939 in die Niederlande, seiner Frau Rosemarie und seinem Sohn Klaus (1920–2011) gelang die Flucht nach Großbritannien.
Nach der Besetzung durch die Wehrmacht im Mai 1940 wurde in den Niederlanden unter anderem von der Gestapo systematisch zunächst nach geflüchteten Deutschen, dann auch nach niederländischen Juden gesucht.
Strafen für NS-Verbrechen in den Niederlanden
In Fällen, in denen das Königreich der Niederlande höherrangigen Angehörigen der deutschen Sicherheitsbehörden habhaft wurde, kam es nach der Befreiung zum Prozess. Der SS- und Polizei-Offizier Hanns Albin Rauter (1895–1949) wurde etwa am 22. April 1948 unter anderem wegen der Deportation der niederländischen Juden vom Sondergericht (Bijzonder Gerechtshof) in Den Haag zum Tod verurteilt.
Der SS-Offizier und Volljurist Erich Deppner (1910–2005), der von Juli bis August 1942 als erster deutscher Kommandant des Lagers Westerbork diente, arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg indes für die Organisation Gehlen, die seit 1956 unter der Firma "Bundesnachrichtendienst" fortgeführt wurde. Ihm wurde allein wegen der Erschießung sowjetischer Kriegsgefangener der Prozess gemacht, die in die Niederlande gebracht worden waren, um sie als "Untermenschen" vorzuführen. Das Landgericht München I sprach ihn 1964 frei, weil es nicht feststellen konnte, ob eine kriegsvölkerrechtlich zulässige Repressalie vorlag oder eine "Beseitigung wehrloser, den deutschen Besatzungsdienststellen in Holland lästig gewordener Menschen getarnt werden sollte". Der Bundesgerichtshof bestätigte dies, verneinte aber Deppners Wunsch, explizit wegen "erwiesener Unschuld" freigesprochen zu werden (Urt. v. 28.7.1964, Az. 1 StR 215/64).
Deppners Nachfolger als Leiter des Durchgangslagers Westerbork, Albert Konrad Gemmeker (1907–1982), wurde im Januar 1949 in den Niederlanden zu zehn Jahren Haft verurteilt, aber bereits im April 1951 nach Deutschland entlassen. Seine Behauptung, nichts von der Ermordung der unter seiner Verantwortung nach Auschwitz verschleppten Menschen gewusst zu haben, wurde hier in keinem Strafprozess geprüft.
Die letzten in den Niederlanden – zugleich als letzte in Westeuropa – wegen Kriegs- und Menschheitsverbrechen inhaftierten Deutschen, die sogenannten "Vier von Breda" (realitätsnäher auch "Drie van Breda"), erlebten bis zur Entlassung im Jahr 1989 nachhaltige Unterstützung durch die deutsche Kriegsverbrecherlobby – einschließlich der Bundesregierung und Vertretern beider christlicher Kirchen.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist.
Holocaust-Gedenktag: . In: Legal Tribune Online, 27.01.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/33471 (abgerufen am: 13.11.2024 )
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