Zur Lösung rechtswissenschaftlicher Hausaufgaben in Kanzlei oder Studium sind historische Zeitschriften leider wenig geeignet. Lustig sind sie aber allemal, weil manche Beiträge sich heut eher wie Tagebucheinträge elitärer Juristen lesen.
Den Fortschrittsglauben, der sich im Jahr 1891 auch in rechtspolitischen Fragen äußerte, möchte man heute auch noch einmal erleben. Wie so oft erwies sich, unverhofft, der Papst in Rom als Vorreiter.
Bekanntlich gehen großartige Innovationen auf das Konto des katholischen Kirchenfürsten, unter anderem die Einführung des Gregorianischen Kalenders (1582) oder das von Martin Luther letztlich erfolglos bekämpfte Konzept des Ablasshandels, das sich heute vielfach in der deutschen Rechtsordnung findet, beispielsweise im Absehen von der Strafverfolgung unter Auflagen nach § 153a Strafprozessordnung oder in der Möglichkeit, gemeinnützige Spenden zu leisten, um anderenorts besser sündigen zu können, §§ 51 ff. Abgabenordnung.
Auch vor 125 Jahren dokumentierte der Kirchenfürst den rechtspolitischen Fortschrittsgeist seiner Organisation: Im Jahr 1891 teilte der Bischof von Rom seinen Kollegen in Deutschland und Österreich-Ungarn in der Enzyklika "pastoralis officii" mit, dass sie gegen das Duell-Wesen mit harten Kirchenstrafen vorgehen sollten. Der deutsche Gesetzgeber konnte sich dieser Wertung erst 1969 anschließen – bis dahin bevorzugten die §§ 201 bis 210 Strafgesetzbuch die Teilnehmer an "Zweikämpfen" ganz erheblich gegenüber Tatbeteiligten an anderen Körperverletzungs- oder Tötungsdelikten.
"Vagabondage", analysiert vom Wünschelruten-Papst
Zum 1. Januar 1891 trat in Deutschland das "Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung" in Kraft, das als Vorläufer jener heutigen Rentenversicherung gilt, die ihre Zukunft derzeit hinter sich zu haben scheint. Immerhin glaubt heute nur noch rund ein Viertel der Menschen zwischen 18 und 34 Jahren daran, später einmal von der gesetzlichen Rente auskömmlich leben zu können.
Das rechtswissenschaftliche Schrifttum des Jahres 1891 legte sich noch nicht auf die Sozialversicherung als Mechanismus zur Vermeidung von Armut fest.
In der "Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft" stellte beispielsweise der Wiener Professor Moritz Benedikt (1835–1920) eine "physiologische und soziologische Studie" unter dem Titel "Die Vagabondage und ihre Behandlung" vor. Der Begriff "Vagabondage" bezeichnet dabei keine erotisch sein sollende Aktivität aus der Vorstellungswelt von "Fifty Shades of Grey"-Leserinnen, sondern das seinerzeit gravierende Problem der Obdachlosigkeit, dem die Staaten Europas nicht zuletzt mit strafrechtlichen Mitteln, zum Beispiel der Einweisung ins Arbeitshaus wegen Landstreicherei oder Bettelns, zu begegnen versuchten. Professor Benedikt entdeckte als Ursache für Obdachlosigkeit zwar auch die Armut, referierte aber ausführlich die "angeborene" Vagabondage – entsprechend vorbelastete Kinder würden zu "Gewohnheitsbettlern" und "Gewohnheitsvagabunden" heranwachsen.
Komische Gelehrte in tolldreisten Juristenaufsätzen
Wenn das Vertrauen in die Wirksamkeit des Sozialstaats noch nicht oder nicht mehr ausgeprägt ist, finden sich noch stets Gelehrte, die das Elend biologisch erklären. Moritz Benedikt ist heute einem vergleichsweise breiten Publikum, konkret in der Esoterik-Szene, nur noch als Gründungsvater einer wissenschaftlich sein wollenden Wünschelruten-Lehre bekannt: Ein bitteres Gelehrtenschicksal, ähnlich schlimm, als würde man sich an Thilo Sarrazin in 100 Jahren nur wegen seiner gastronomischen Kompetenz auf dem Gebiet von 4-Euro-Rezeptvorschlägen für die "Hartz IV"-Regelsatzernährung erinnern.
Deutlich seiner Zeit voraus zeigte sich, ebenfalls in der gleichen Zeitschrift des Jahres 1891, der Amtsrichter W. Kulemann (vermutlich 1851–1926). Sein Aufsatz zur Selbsthilfe wirkt im Abstand von 125 Jahren auf den ersten Blick wie eine Warnung davor, (rechts-) wissenschaftliche Weisheiten nicht mit persönlichen Erlebnissen zu verknüpfen. Kulemann wörtlich:
"Ich machte gestern einen Spaziergang in den die Stadt umgebenden Anlagen und kam hinzu, als eine Anzahl von Knaben im Alter von 7 – 12 Jahren mit Steinen nach einem Hunde warfen, den zwei Damen bei sich hatten, und der offenbar krank war, wenigstens erklärten dies die Besitzerinnen, indem sie die Knaben baten, das Werfen zu unterlassen. Wie es bei der ganz besonders rohen Sorten von Straßenjungen, deren wir uns rühmen können, nicht anders zu erwarten war, hatte diese Aufforderung das gerade Gegenteil der beabsichtigten Wirkung zur Folge, so daß ich mich schließlich für berufen hielt, einem der bösesten Übelthäter mit meinem Spazierstocke ein paar kräftige Hiebe auf die hierzu von der Natur bestimmte Stelle seines Körpers zu teil werden zu lassen, worauf die ganze Schar schreiend und schimpfend davonlief."
Martin Rath, Historische Jura-Fachzeitschriften: . In: Legal Tribune Online, 29.05.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19477 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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