Er war penibel und stur. Wie kaum ein anderer Künstler achtete der Maler Henri Matisse auf jede Klausel in seinen geschäftlichen Vertragstexten. Als ausgebildeter Jurist war er der Alptraum für manchen Galeristen.
Überliefert sind die Vertragskontrakte des Malers mit seiner Pariser Galerie Bernheim-Jeune aus den Jahren zwischen 1909 und 1923. Matisse legte darin akkurat und verbindlich für seinen Vertragspartner fest, was ein Gemälde einer bestimmten Größe und eines bestimmten Sujets kosten durfte, wie viel Prozent der Galerist, wie viel der Künstler am Verkauf verdiente. Nicht viele Künstlerkollegen besaßen einen derart ausgeprägten Sinn für das Kleingedruckte.
Henri Emile Benoît Matisse wurde am 31. Dezember 1869 in Le Cateau-Cambrésis, einem verschlafenen Ort in der Picardie, geboren. Sein Vater war Getreidehändler und Drogist, während die Mutter als Modistin und Porzellanmalerin ihr Geld verdiente. Der junge Henri besuchte das humanistische Gymnasium in Saint Quentin, wo er als guter Schüler mit seiner zeichnerischen Begabung auffiel. Nach dem Abitur ging er im Oktober 1887 nach Paris. Dort absolvierte er auf Wunsch seines Vaters eine Art juristisches Kurzstudium, das er mit einem Diplom abschloss.
Matisse kehrte 1890 in die Picardie zurück, um als Angestellter in der Anwaltskanzlei von Maître Duconseil in Saint Quentin zu arbeiten. Morgens vor Arbeitsbeginn besuchte der junge Diplom-Jurist Zeichenkurse an der École Quentin de la Tour, wo er Zuflucht vor dem Geschäftsalltag suchte. Die Arbeit in der Kanzlei langweilte ihn dagegen kolossal.
Gedichte statt Urteile
Aus einer Mischung von Trotz und Provokation begann er eines Tages ein Registerheft, das für die Niederschrift von Urteilen bestimmt war, nach und nach mit Fabeln des Dichters Jean de La Fontaine voll zu schreiben. Lyrik statt Jurisprudenz. Da die berufliche "Frevelei" in der Kanzlei nicht weiter auffiel, war Matisse recht bald von der vermeintlichen Sinnlosigkeit seiner juristischen Arbeit überzeugt.
Es muss ihm wie ein Wink des Schicksals vorgekommen sein, als er kurz darauf an einer Bilddarmentzündung erkrankte, deren Folgen ihn ein ganzes Jahr von der Kanzlei fernhielten und ans Bett fesselten. Zum Zeitvertreib schenkte ihm seine Mutter einen Farbkasten. Sofort vom Eifer gepackt, kopierte er kleinere Landschaftsszenen nach Farbdrucken.
Zwei Jahre später, im Jahr 1892, gab Matisse seine schleppend verlaufende juristische Karriere endgültig auf. Mit festen künstlerischen Zielen vor Augen besuchte er die École des Beaux-Arts in Paris, wo er sich in den kommenden Jahren in verschiedenen Stilarten probierte. Vor allem die Impressionisten und Post-Impressionisten wie Cézanne, Gauguin, van Gogh, Pisarro, Signac und Turner beeinflussten Matisse maßgeblich.
Um das Jahr 1905 fand er schließlich – charakterisiert von kühnen, kräftigen Farben, die mit raschem Pinselstrick auf die Leinwand gebracht wurden – zu seinem unverwechselbaren eigenen Stil.
"Die Wilden"
Im Rahmen einer Ausstellung im Jahr 1905 am Pariser Salon d’Automne empörte man sich über das ungestüme und ungezwungene Farbenspiel der Künstlergruppe um Henri Matisse. Aus diesem Grunde nannte man sie ironisch und abwertend Les Fauves: "Die Wilden".
Derlei Diffamierungen störten Matisse herzlich wenig. "Was mich am meisten interessiert", befand der Maler, "ist weder das Stillleben noch die Landschaft, sondern die menschliche Figur. Durch sie kann ich am besten mein gleichsam religiöses Lebensgefühl ausdrücken. Man muss wissen, dass einem das Tor zur Farbe nicht so ohne weiteres offen steht. Man muss sich streng darauf vorbereiten, um ihrer würdig zu sein."
In jener Zeit entstand das vermutlich beste Gemälde von Matisse: La Joie de Vivre. Es wird als eines der wichtigsten Gemälde des 20. Jahrhunderts angesehen und wurde von dem berühmten Sammler Albert C. Barnes gekauft. Es wurde anschließend für 72 Jahre der Öffentlichkeit vorenthalten und erst 1993 von der Barnes Foundation wieder zugänglich gemacht.
Matisse stieg zu einem international anerkannten Künstler auf. In den 20er Jahren waren seine Gemälde bereits so teuer, dass deutsche Museen Probleme hatten, Arbeiten des Avantgarde-Künstlers zu kaufen. Deshalb finden sich heutzutage in nur wenigen deutschen Museen Matisse-Bilder – zumal der ohnehin kleine Bestand durch die Beutezüge der Nationalsozialisten drastisch reduziert wurde.
Seit 1917 lebte Matisse nicht mehr in Paris, sondern in Nizza, wo er bis zu seinem Tod sesshaft blieb. 1925 wurde er Mitglied der französischen Ehrenlegion.
Die späten Jahre
In den 40er Jahren erkrankte der Künstler an Magenkrebs. Die Krankheit wirkte sich äußerst negativ auf seine künstlerische Tätigkeit aus. Matisse vermochte nicht mehr aufrecht vor einer Staffelei stehen zu können. Er wandte sich deshalb einer anderen künstlerischen Ausdrucksform zu. Matisse schuf Gouache-Scherenschnitten in ähnlich lebendiger, farbenfroher und gewagt komponierter Form, wie man es von seinen Bildern her kannte. Unterstützt von einem Assistenten konnte er entweder vom Bett aus oder in einem bequemen Lehnstuhl sitzend arbeiten.
Henri Matisse starb am 3. November 1954 in Nizza. Bis zu seinem Tode arbeitete der Maler-Jurist an den Gouache-Scherenschnitten. Sein Bewunderer Pablo Picasso befand einmal über ihn: "Alles zusammen gibt es nur Matisse".
Der Autor Jürgen Seul lebt als freier Publizist und Redakteur in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Er verfasste zahlreiche Publikationen u. a. zum Architektenrecht, Arbeitsrecht sowie zu rechtshistorischen Themen.
Jürgen Seul, Henri Matisse zum Geburtstag: . In: Legal Tribune Online, 31.12.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2245 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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