Die Deutschen lieben Fußnoten, ihr Fehlen wird besonders in diesen Tagen gern beklagt. Dabei gibt es sogar schon einen Begriff dafür. Prof. Dr. Dr. Herbert Grziwotz bricht eine Lanze für die Uncitedness. Denn wer ohne Fußnote übernimmt, hat das (Nicht-) Zitierte wenigstens gelesen.
Erzählt ein Professor bei einem internationalen Kongress seinem deutschen Kollegen: "Ich habe meine große wissenschaftliche Arbeit nun ohne Fußnoten veröffentlicht, um meinen wichtigen Erkenntnissen zu einer größeren Breitenwirkung zu verhelfen." Erwidert der deutsche Professor: "Ich denke auch über eine Veröffentlichung der Kerngedanken meiner Arbeit nach. Wahrscheinlich werde ich meine Fußnoten ohne den Text publizieren."
Bevor auf diesen Artikel Angriffe kommen und vielleicht sogar eine Internetseite eingerichtet wird: Der Urheber dieses Witzes ist mir unbekannt. Ich möchte keinesfalls durch seine Erzählung irgendwelche Urheberrechte verletzen. Deshalb darf ich mich für seine Übernahme ohne Angabe eines Belegs bereits jetzt vielmals entschuldigen.
Der Witz beleuchtet ein vielfach erörtertes Problem: Ist der wissenschaftlich tätige Mensch (homo citaticus) vielleicht nur eine Fußnote der Weltgeschichte?(1) Oder ist die Fußnote sogar älter als der Mensch? Sind ihre Ursprünge wirklich tragisch, wie Anthony Grafton mittels 288 Fußnoten in seinem gleichnamigen Buch nachzuweisen versucht(2)?
Sie sind jedenfalls, das ist wissenschaftlich unbestritten, typisch deutsch.(3) Auch wenn sich Deutschland wirklich abschaffen sollte(4) oder vielleicht sogar bereits abgeschafft hat - was jedenfalls bleibt, ist die deutsche Fußnote. Anders als die angloamerikanische Kollegin kommt sie in weitaus größerer Zahl vor und hat deshalb größere Überlebenschancen. Sie verleiht zudem den Nimbus besonderer Wissenschaftlichkeit: Je mehr Fußnoten, desto mehr Elitewissenschaft!
Endlich weg von der engen Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis
Fußnoten brauchen die höchstens vom eigenen Doktorvater mitunter durchbrochene Stille einer universitären Studierstube.(5) Deshalb hat der Exzellenzforscher R. Münch(6) am Wochenende gefordert, dass "externe Promotionen", das heißt solche von Doktoranden, die voll im Beruf stehen, "massiv zurückgefahren" werden sollen. Kommen Menschen, die im Beruf stehen und nicht im Dunstkreis wissenschaftlicher Abgeschiedenheit forschen, doch nach seinen Worten leichter "auf dumme Gedanken".(7)
Also endlich wieder weg von der engen Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis! Bachelor und Magister für die Wirtschaft, Doctores für die Wissenschaft. Deutschland braucht seine Elfenbeintürme(8) und seine Fußnoten. Sie sollten künftig auch für den Nachweis von Satzzeichen gesetzt werden, um lückenlos die Textherkunft korrekt zu dokumentieren.(9)
Das Phänomen des Nicht-Zitierens hat zwischenzeitlich einen mit Fußnoten nachgewiesenen Fachbegriff erhalten. Man bezeichnet es als Uncitedness.(10) Allerdings sind die scheinbar nach dem Motto "cito ergo sum" – "ich zitiere, also bin ich wissenschaftlich" belegenden Wissenschaftler möglicherweise auch nicht viel besser.
Wer übernimmt, ohne zu zitieren, hat den Text wenigstens gelesen
Fachstudien weisen nämlich nach, dass häufig die zitierten Arbeiten nicht gelesen wurden. Es handelt sich um so genannte Blindzitate. Aber: Alle zitierten Bücher kann doch, wenn man ehrlich ist, kein Mensch lesen, nicht einmal alle guten.
Wer dagegen einen Text übernimmt, ohne ihn zu zitieren, hat ihn wenigstens gelesen. Dies könnte möglicherweise ein "höheres Lob" in der Bewertung rechtfertigen als das Zitieren ohne Quellenkenntnis. Oder, um die Diskussion mit Kant zu beenden: "Ich habe immer gefunden, die so genannten schlechten Leute gewinnen, wenn man sie genauer kennen lernt, und die guten verlieren."(11)
Die Schlechten haben überdies den Vorteil, dass sie mit dem Lesen dieses Artikels nun am Ende sind. Die Guten müssen im Internet noch recherchieren, ob nicht durch Fußnoten belegte Zitate enthalten sind. Um ihnen das Leben leichter zu machen, sollten Texte künftig korrekt folgendermaßen enden: Der obige Text enthält zwei nicht belegte Fremdzitate.(12)
Der Autor Prof. Dr. Dr. Herbert Grziwotz ist Notar in Regen und Zwiesel.
(1) So St. Heym über die DDR, wieder zitiert von B. Faulenbach und H.-U. Wehler, dem das Forum Frauenkirche nunmehr das Zitat zuschreibt.
(2) Grafton, Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote, 1995, passim.
(3) Grafton, ebenda.
(4) So der Titel des 2010 erschienen gleichnamige Buchs von Sarrazin.
(5) Vgl. das umgekehrte Bild bei Goethe, Faust I, bei dem der Student stört.
(6) Süddeutsche Zeitung Nr. 41 v. 19./20. Februar 2011, S. 13.
(7) Ebenda.
(8) Erstmals in Verbindung mit der Wissenschaft verwendet von Sainte-Beuve. Vgl. früher bereits das Hohe Lied in der Bibel. S. nunmehr auch M. Ende, Die unendliche Geschichte.
(9) Zum Punkt nach dem Wort "Fußnoten" www.wissenschaftliches-arbeiten.org/zitieren/deutsche-zitierweise.html (Stand: 19.2.1011, 14.30 Uhr).
(10) S. nur Garfield, Uncitedness and the Identification of Dissertation Topics, Current Contents No.15 v. 12.4.1972, S. 5.
(11) Ehrlich, ich finde gerade die genaue Fundstelle nicht. Oder vielleicht ist das Zitat doch nicht von Kant, sondern vom Autor dieses Artikels, der nur die Reputation Kants für seine Zwecke einsetzt, also ein Fall des umgekehrten Falschzitierens?
(12) Eine weitere Vereinfachung verbietet sich, da sonst die Freude an der Enthüllung verloren geht.
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Herbert Grziwotz, Glosse: . In: Legal Tribune Online, 21.02.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2591 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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