Geschichte des Bundesverfassungsgerichts: Leib­holz, ein Lack­mus­test-Jurist

von Martin Rath

26.02.2012

Gerhard Leibholz, dessen 30. Todestag sich jetzt jährte, zählte zu den maßgebenden Richtern des Bundesverfassungsgerichts. Auch sein Lebenslauf gehört zu den bewegendsten in der deutschen Richterschaft seiner Zeit. Heute könnte er immerhin noch wilden Wutbürgern eine violette Hautfärbung bescheren. Ein Feuilleton von Martin Rath.

Als Gerhard Leibholz 1940 zum "feindlichen Ausländer" wurde, trotz seiner Freundschaft zu einem Bischof im House of Lords, wusste er sich durch eine Dokumentenmanipulation ein wenig aus der Affäre zu ziehen. Das zeugte von Geistesgegenwart, doch vermutet man solche Anekdoten nicht im Leben eines Doktors der Philosophie und Doktors der Rechte – zumindest nicht in dem eines Richters am Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Leibholz, der zwischen 1951 und 1971 dem höchsten deutschen Gericht angehörte, ist heute fast nur noch rechtshistorisch interessierten Juristen bekannt – als Urheber einer dogmatischen Faustformel zur Gleichheitsgarantie nach Artikel 3 des Grundgesetzes (GG) und einer längst als etwas obskur gehandelten "Parteienstaatstheorie". Er spielte auch eine wichtige Rolle bei der Emanzipation des Karlsruher Gerichts zum eigenständigen "Verfassungsorgan". Die Sache mit der verfälschten Liste bleibt womöglich der einzige heiter-illegale Punkt.

Doch der Reihe nach. Gerhard Leibholz wurde 1901 in Berlin geboren. Die Familie war wohlhabend, zwar jüdischer Herkunft, doch ließ der Vater die drei Söhne evangelisch taufen. Mit 17 Jahren erwarb er das Abitur, leistete einen kurzen militärischen Dienst und promovierte nach einem Studium der Philosophie noch 19-jährig ein erstes Mal. Das erste juristische Staatsexamen bestand er mit 20 Jahren, seine Promotion zum Doktor jur. folgte 1924 mit einer Arbeit über "Die Gleichheit vor dem Gesetz", mit der er bekannt wurde. Keine Woche nach dem Assesorexamen heiratete er 1926 seine Frau Sabine (1906-1999), die Zwillingsschwester des berühmten evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer, der am 9. April 1945 nach einer NS-Justiztravestie im KZ Flossenbürg ermordet wurde.

Bewegtes Leben, Kontinuität in Rechtsfragen

Nach seiner Habilitation, in deren Rahmen auch eine erstaunlich objektiv-nüchterne Schrift über den italienischen Faschismus entstand,  erhielt Leibholz 1929 ein Ordinariat in Rostock. Der Berufung nach Göttingen, zwei Jahre später, gingen antisemitisch motivierte Winkelzüge der angestammten Professorenschaft voraus, wie Manfred H. Wiegandt in seiner 1995 erschienen Leibholz-Biografie dokumentiert. Weil die kurze Militärdienstzeit unter das "Frontkämpferprivileg" gerechnet wurde und es seine kleine Arbeit über den italienischen Faschismus zeitweilig auf eine NS-Liste empfehlenswerter Literatur gebracht hatte, wurde Leibholz nach der so genannten Machtergreifung 1933 als "Volljude" nicht sofort aus seinen Ämtern vertrieben.

1938, von ihrem Schwager Hans von Dohnanyi (1902-1945) vor neuen NS-Passgesetzen gewarnt, die es "Juden" durch Markierung im Pass nahezu unmöglich machen sollten, zu emigrieren, flohen Gerhard und Sabine Leibholz mit ihren Töchtern Christiane und Marianne nach England. Kontakte zu protestantischen Intellektuellen wie George Bell, anglikanischer Bischof von Chichester und Mitglied des House of Lords, halfen. Als Leibholz 1940 als "feindlicher Ausländer" interniert wurde und seine Ausschiffung in ein Internierungslager nach Australien drohte, entging er dem jedoch nur, weil er in einem unbeobachteten Augenblick seinen Namen kurzerhand von der Transportliste strich.

Die Rückkehr nach Deutschland vollzog sich nach 1947 zäh. Leibholz zweifelte offenbar an der Aufrichtigkeit entsprechender Einladungen. In Göttingen lehrte er, seit 1935 zwangsemeretiert, zunächst als Gastdozent. 1951 wurde er schließlich als neutraler Kandidat zum Richter des neuen BVerfG gewählt. Bei der Auseinandersetzung des Gerichtes mit dem Bundesminister der Justiz um seinen Status als Verfassungsorgan gab Leibholz einen zielführenden Statusbericht ab. Die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit war einer seiner Themenschwerpunkte schon vor 1933 gewesen.

Faustformel vom "wesentlich Gleichen, wesentlich Ungleichen"

Zu den unter Juristen umstrittenen Fragen der Weimarer Republik zählte die nach der Verbindlichkeit des Grundrechtskatalogs. Der Wortlaut der Reichsverfassung von 1919 deckte sich zwar vielfach mit dem des GG vom 1949.  Die wohl "herrschende Meinung" erkannte zwischen 1919 und 1933 in der Verfassungsnorm ein Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit. Die erlassenen Gesetze seien gleich anzuwenden. Zu prüfen, ob der Gesetzgeber vernünftige Unterschiede zwischen den Menschen machte, sei nicht Sache der Gerichte. Leibholz beschränkte in seiner Dissertation von 1925 den "Gleichheitssatz auf das Verbot der Willkür", wie Peter Unruh seine Position zusammenfasst (Archiv des öffentlichen Rechts 126, S. 60-92), diese habe er als "radikale, absolute Verneinung der Gerechtigkeit verstanden". Leibholz habe die berühmte Radbruch’sche Formel vorweggenommen: "Damit ist nicht jeder ungerechte Rechtssatz gleichheits- und damit verfassungswidrig, sondern nur willkürliche Normen müssen als Unrecht und damit zugleich als Nicht-Recht qualifiziert werden."

In einer kritischen Auseinandersetzung mit ambivalenten Äußerungen des Theologen Dietrich Bonhoeffer, Leibholz' Schwager, zur evident gleichheitswidrigen judenfeindlichen Gesetzgebung des NS-Staates, macht Susanne Benöhr auf den weiten Spielraum des Gesetzgebers in der Konzeption von Gerhard Leibholz aufmerksam: Jene Gesetze, die in den USA nach der 1896 vom U.S. Supreme Court gebilligten "Seperate but equal"-Doktrin für "Weiße" und "Neger" getrennte Schulen, Bussitzplätze, Sanitäranlagen etc. vorschrieben, hätten nach Leibholz nicht dem Gleichheitsgrundsatz widersprochen.

Für die Verfassungsinterpretation der jungen Bundesrepublik folgenreich sollte hingegen werden, dass Leibholz die von Heinrich Triepel (1868-1947) "gleichsam beiläufig" – so Peter Unruh – verwendete Formel zum Gleichheitssatz rechtswissenschaftlich untermauert habe, wonach "wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich" zu behandeln ist. Die Formel taucht in der Rechtsprechung des BVerfG erstmals im "Südweststaat"- Urteil auf, das Aktenzeichen spricht für sich: "2 BvG 1/51". Es war das erste Urteil des Zweiten Senats überhaupt, ihm gehörte Leibholz an.

Leibholz als juristischer Lackmustest

Einen Lackmustest, bekannt aus pH-Experimenten im Chemieunterricht, kann man nicht bestehen, auch nicht metaphorisch. So verstanden zeigt er nur an, wo sich ein Dogma, ein Gedanke oder ein Konzept in einer abgestuften Bandbreite von Zuständen einordnen lässt.

Zu den Lehren von Gerhard Leibholz, die heutigen Lesern eine dem Lackmustext gleichende, leicht violette Gesichtsfärbung hervorrufen können, zählt seine Parteienstaatstheorie. Leibholz war, um ihren Kern holzschnittartig hervorzukehren, doch sehr großzügig darin, wie sich der Souverän – und zwar demokratisch – repräsentieren lassen könnte. In seiner Studie aus dem Jahr 1928 über den italienischen Faschismus, die 1933 auch manchen NS-Machthabern gut gefiel, sprach er dem Mussolini-Regime demokratische Legitimität nicht schlechthin ab.

Den liberalen Parlamentarismus, in dem der Souverän von honorig-individualistischen Abgeordneten, ausgestattet mit freiem Mandat, repräsentieren lässt, hielt Leibholz für antiquiert. Franz Walter, Politikwissenschaftler in Göttingen, beschreibt in einem Artikel aus dem Jahr 2011 als Kern von Leibholz‘ Parteienstaatstheorie: "Allein die Parteien waren in der Lage, die Aktivbürger zu aktionsfähigen Gruppen zu bündeln und ihren Willen gleichsam in rational plebiszitärer Form in den Staat zu transferieren. Parteien waren dabei mehr als nur Zwischenglieder." In Parlamentswahlen sah Leibholz konsequent Volksabstimmungen über die konkurrierenden Parteiprogramme, im Fraktionszwang der Abgeordneten deren sinnvolle Ergänzung.

Franz Walter glaubt, Leibholz sei damit vollständig gescheitert, weil eine "identitäre Vitalbeziehung" zwischen Volk und Parteien nicht existiere – oder nicht mehr. Heute sehe sich das Volk "in den Parteien nicht verwirklicht, sondern Zug um Zug von ihnen entfremdet und abgekoppelt."

Das kann man so sehen. Wer wie der berühmte Professor aus Speyer, Hans-Herbert von Arnim, den "Parteienstaat" als ein feudales System kritisiert, bekommt bei jeder "Diätenerhöhung" ein Interview. Gerhard Leibholz ist hingegen kaum noch ein Thema, selbst juristischer Seminare.

Das ist ein bisschen traurig, denn nicht wenige Nachwuchsjuristen dienen später als parlamentarische Hinterbänkler und könnten ihre Rolle in Staat und Gesellschaft bei Leibholz treffend beschrieben sehen. Auch erfinden alle 30 Jahre wild umherlaufende Bürger die Repräsentation neu: in den 1980er-Jahren als "grüne" Basisdemokratie, heute als piratische "liquid democracy" und wenn auch nur über einen Bahnhof abgestimmt wird, endet alles, was nicht von den bösen Parteien angefasst wird, in Chaos und Verschwörungstheorie.

Leibholz lesen kann also immer noch lehrreich sein – selbst wenn man nur als "Wutbürger" violett darüber anläuft.

Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Geschichte des Bundesverfassungsgerichts: . In: Legal Tribune Online, 26.02.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5640 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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