2/2: Litigation-PR als Kunstvermarktung
Zweifel daran, ob die Werke "Nackter Mann" und "Die große Nacht im Eimer" eine Leistung in der Geschichte pornografischer Erregungsbemühungen darstellen, sind recht zwingend, sobald man sie in Augenschein genommen hat. Nicht, dass hier Vergleichsstudien erforderlich wären. Nach der Potter-Steward-Formel und dem mürrischen Zwischenton des BGH-Senats zielt hier ja alles auf das unmittelbare richterliche Gefühlsurteil beziehungsweise den erotischen Teil des Juristenverstands.
Es drängt sich die Frage auf, warum die Justiz in Berlin (West) gleichwohl so versessen war, die Baselitz’schen Bilder unter den Pornografie-Paragrafen zu subsumieren. An der Provinzialität der ehemaligen Reichshauptstadt allein sollte das kaum gelegen haben. Der "Spiegel" berichtete (in Heft 26/1964), dass Polizeipräsident Erich Duensing, der Kripo-Chef Wolfram Sangmeister sowie Generalstaatsanwalt Dr. Lothar Münn persönlich die Ausstellung besuchten, gleich eine ganze Reihe von Polizisten und Staatsanwältinnen im Schlepptau.
Michael Werner, einer der beiden Galeristen und späteren Angeklagten, heute eine zentrale Figur des deutschen Kunstmarkts, erklärte 2011 in einem Interview mit dem Magazin "artnet", dem Kunstkritiker Martin G. Buttig sei bei einem gemeinsamen Besäufnis die Idee gekommen, einen Skandal zu inszenieren. Während "viel Bier und Schnaps getrunken" wurde, sei dieser zum Telefon marschiert, um in Erfahrung zu bringen, dass eine Zeitung – Werner nennt die ostzonale (!) "Berliner Zeitung" – die Ausstellung scharf angreifen würde. Am nächsten Morgen soll das Blatt von einer Beschlagnahmeaktion in der Galerie berichtet haben.
"Das war eine Erfindung", erinnerte sich Werner 2011 weiter. Was die Zeitungsmeldung bewirkt haben soll: "Ich gehe zur Galerie, der Staatsanwalt steht schon vor der Tür und nimmt pflichterfüllt zwei Bilder mit, eines war Die große Nacht im Eimer."
Strafverfolgung als Ritterschlag zum Staatsrebellen
Unabhängig davon, welche der widersprüchlichen Erzählungen vom Beginn und Verlauf der Ermittlungen gegen Baselitz und die Galeristen zutraf – der "Spiegel" berichtete von ersten guten Abverkäufen in Folge der Skandalberichterstattung, Baselitz erinnerte sich später gegenüber der "Bild"-Zeitung an prozessbedingte Zahlungsunfähigkeit – die Strafsache erlaubte es dem Künstler in den folgenden Jahrzehnten, sich als rebellischen Kopf zu inszenieren. Kaum eine öffentliche Auskunft zu Baselitz kommt ohne den Hinweis auf den etwas obskuren Prozess von 1964/65 aus.
Sicher nicht von Nachteil für die Legendenbildung ist, dass der durchaus meinungsstarke Anwalt Paul Ronge als mögliches Korrektiv ausfiel. Der seinerzeit in Westdeutschland und Berlin (West) weltberühmte Strafverteidiger starb im November 1965 überraschend kurz vor seinem 65. Geburtstag an den Folgen eines Unfalls.
Legende wird zum Staatskünstler
Seit den 1990er Jahren erzielen Werke von Baselitz Auktionspreise von mehr als einer Million US-Dollar. Mindestens zwei der Angeklagten von 1964/65 sind seit Jahrzehnten Leitfiguren des deutschen und internationalen Kunstmarkts und äußerst wohlhabende Männer geworden.
Der mehr oder minder inszenierte Skandal half dabei, das Image zu erwerben, ein rebellischer Künstler zu sein und damit gute Geschäfte zu machen, natürlich nicht zuletzt mit jenen Unternehmen, die im Zweifel stets viel Geld anzulegen, mitunter schlicht zu verbrennen haben, also mit Firmen der Finanzbranche.
Als die englische Königin anlässlich ihres Deutschlandbesuchs im Juni das Gemälde "Pferd in Royalblau" der Künstlerin Nicole Leidenfrost als Staatsgeschenk erhielt, wurde viel gespottet, Bundespräsident Gauck habe den Wert der Kunst im Staatsbetrieb aufs Kunsthandwerkliche absinken lassen. Diesen Vorwurf kann man dem ehemaligen Inhaber eines anderen Amts von Verfassungsrang nicht machen: Bundeskanzler Gerhard Schröder ließ sich einen abstürzenden Adler, ausgeführt von Georg Baselitz, ins Dienstzimmer hängen.
Ein Staatsmann, der sich in seinen jüngeren Jahren durch sozialistische Phrasen als rebellischer Kopf empfahl, machte einen Maler zum Staatskunstlieferanten, der eine ganz ähnliche biografische Strategie verfolgte. Man kann das für eine eigentliche Obszönität halten oder auch für einen Akt ausnahmsweiser Ehrlichkeit.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Skandal-Prozess um Baselitz 1964/65: . In: Legal Tribune Online, 05.07.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16089 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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