Drei Tage nach dem Mord an Matthias Erzberger am 26. August 1921 unterzeichnete Reichspräsident Friedrich Ebert eine Notverordnung zum Verbot verfassungsfeindlicher Presse. Ein Blatt wehrte sich mit einigem Erfolg vor Gericht.
An den 100. Jahrestag des Mordes an Matthias Erzberger (1875–1921), dem Politiker der katholischen Zentrumspartei, wird derzeit mit einiger Energie erinnert. Das erscheint nur billig
und recht, denn in der Biografie Erzbergers finden sich viele, oft vergessene Aspekte der Politik- und Rechtsgeschichte.
Der Kern der Geschichte ist heute einigermaßen gegenwärtig: Weil Erzberger im November 1918 den Waffenstillstand von Compiègne mitunterzeichnet hatte, wurde er zum Opfer der rechtsextremen Hetze. Dass die zivile Führung dabei auf Druck der Obersten Heeresleitung handelte, hinderte weite Teile der deutschen Öffentlichkeit nicht, die Schuld für das enttäuschende Ende des Ersten Weltkriegs bei den nun führenden Köpfen der jungen Republik zu suchen.
Dass Erzberger sich auch im Steuerrecht einen Namen gemacht hat, ist immerhin den juristisch Interessierten bekannt. Wie eine kniffelige Rechtsfrage – wann genau ein Gesetz in Kraft tritt – mit Erzberger zusammenhängt, wissen aber die wenigsten. Es geht um mehr als Rechtsterrorismus.
Moderner Politiker schon im Kaiserreich
Als Sohn eines Schneiders und einer Mutter, die sechs Kinder zur Welt brachte, stammte Matthias Erzberger aus armen Verhältnissen. Seine Familie konnte nur die Kosten einer Ausbildung zum Volksschullehrer tragen, seinerzeit keine akademische Übung.
Bald nach dem Abschluss dieser Ausbildung, im Alter von 19 Jahren, und nach einem ersten Berufsjahr wechselte Erzberger in den Journalismus. Die Presse war seinerzeit auch deshalb eng mit den politischen Parteien – in seinem Fall dem katholischen Zentrum – verwoben, weil sie die Möglichkeit bot, angehenden Politikern ein Einkommen zu verschaffen. Denn bis im Jahr 1906 das Verbot aufgehoben wurde, Reichstagsabgeordneten eine Aufwandsentschädigung zu zahlen, konnten sogar Unterhaltsbeiträge von Parteien an ihre Mandatsträger zugunsten des Fiskus kondiziert werden (§ 173 I 16 Preußisches Allgemeines Landrecht). Die Presse bot eine zudem nützliche Möglichkeit, Abgeordnete für ihr Geld arbeiten zu lassen.
In der Zentrumspartei machte Erzberger rasch Karriere. Bereits mit 28 Jahren wurde er 1903, als jüngster Abgeordneter seiner Zeit, in den Reichstag gewählt.
Beschrieben wird er als außergewöhnlich ehrgeizig und fleißig, rhetorisch und argumentativ hoch begabt. Seiner christlichen Haltung zugeschrieben wird, dass er sich scharf gegen die Brutalität und andere Missstände in den deutschen Kolonien Afrikas wendete.
Daran will man heute nichts Falsches finden, einzuordnen ist es aber doch: die brutalen Seiten der europäischen Kolonialherrschaft zu thematisieren, war damals ein internationales Medien-Thema ersten Ranges, und zwar zu einer Zeit, als sich eine weltweite massenmediale Öffentlichkeit überhaupt erst zu entwickeln begann.
Diese Aufmerksamkeit war nicht zuletzt einer Kampagne des britischen Diplomaten und irischen Widerstandshelden Roger Casement (1864–1916, hingerichtet) geschuldet, der die Menschheitsverbrechen im Kongo-Freistaat öffentlich gemacht hatte. Über die Gräueltaten im Kongo-Freistaat, einem Privatstaat des belgischen Königs, wurde international berichtet.
Wenn nun die Verhältnisse auch in den deutschen Kolonien zum innenpolitischen Fanal wurden, war das im Wesentlichen dem Abgeordneten Erzberger zuzurechnen. Dass er im Milieu der Zentrumspartei über einen reichweitenstarken Pressedienst verfügte, erklärt einen Teil seines Erfolgs dabei. Im Jahr 1906 fand sich keine Reichstagsmehrheit für den Kolonialhaushalt, eine schwere Regierungskrise war die Folge.
Ein moderner Abgeordneter und Finanz-Fachmann
Als einflussreicher Finanzpolitiker – er hatte bald nach dem Eintritt in die Politik noch Studien der Volkswirtschaftslehre absolviert – stand Erzberger trotz seines parlamentarisch-publizistischen Erfolgs in der Kolonial-Affäre hinter der imperialen Rüstungspolitik des Kaiserreichs. Während des Ersten Weltkriegs holte der einschlägig engagierte Ruhr-Industrielle Fritz Thyssen (1873–1951) seinen Altersgenossen Erzberger in den Aufsichtsrat seines Unternehmens, dotiert mit fürstlichen 40.000 Mark jährlich. Entsprechende Consulting-Aufgaben hatte der Abgeordnete bereits zuvor für Thyssen übernommen.
Matthias Erzberger zählte also zu den ersten modernen Berufspolitikern, wie sie sich im Geflecht aus unternehmerischer Wirtschaft, Medienleuten zwischen Machiavellismus und Moralkampagnenwirtschaft, von öffentlicher Verwaltung und parlamentarischem Lobbybetrieb seither nur noch schwer anders denken ließen.
Unter deutschen Juristen jeglichen Geschlechts weltberühmt ist Matthias Erzberger aber aus einem anderen Grund: Als Finanzminister zwischen Juni 1919 und März 1920 bereitete er einer Neuorganisation der Finanzverwaltung und Steuerverteilung den Weg, die im Wesentlichen bis heute erhalten geblieben ist. Zwar sollten sich Bundespolitiker nach dem Zweiten Weltkrieg für wenige Jahre noch einmal vorübergehend in gefühlter Abhängigkeit von finanzstarken Ländern wiederfinden, aber seit der Erzbergerschen Reform des Jahres 1920 dominiert grundsätzlich die Reichs- bzw. Bundesebene in den deutschen Staatsfinanzen.
Das Reich schlägt nach Erzberger-Mord medienrechtlich zurück
Der heute wieder bekanntere Teil der Geschichte ist: Erzberger wurde am 26. August 1921 ermordet, weil ihm sein Beitrag zum Waffenstillstand und Kriegsende zwei Jahre zuvor angelastet wurden, ausgeführt wurde die rechtsterroristische Tat von Angehörigen der Organisation Consul. Ihre Flucht deckten gehobene Kreise der bayerischen Verwaltung.
Einer der Täter, Heinrich Tillessen (1894–1984), wurde erst 1946 vor Gericht gestellt. Die amerikanische Besatzungsmacht hatte ihn in Gewahrsam genommen und den Wunsch geäußert, dass in der Sache Erzberger verhandelt werde. Die Einladung, dies als Beispiel für deutsches Staatsversagen im Angesicht des Rechtsterrorismus zu wählen, wird heute gerne angenommen. Eine muntere Auseinandersetzung boten sich etwa die Rundfunkjournalistin Heike Borufka (1965–) und der frühere Bundesrichter Thomas Fischer (1953–).
Bei näherer Betrachtung finden sich noch einige Fakten, die vielleicht nur für juristisch Interessierte reizvoll sind, aber doch mit zum Bild gehören – also: ein Blick ins Reichsgesetzblatt erhöht die Detailerkenntnis.
Drei Tage nach dem Mord an Erzberger unterzeichnete Reichspräsident Friedrich Ebert (1871–1925) eine Notverordnung nach Artikel 48 Reichsverfassung, durch die der Reichsminister des Inneren – im Amt war der promovierte Philosoph Georg Gradnauer (SPD, 1866–1946) – unter anderem ermächtigt wurde, "(p)eriodische Druckschriften, deren Inhalt zur gewaltsamen Änderung oder Beseitigung der Verfassung oder verfassungsmäßiger Einrichtungen …, zu Gewalttaten gegen Vertreter der republikanisch-demokratischen Staatsform, zum Ungehorsam gegen Gesetze oder rechtsgültige Verordnungen oder gegen die innerhalb ihrer Zuständigkeit getroffenen Anordnungen der verfassungsmäßigen Behörden auffordert oder anreizt", für die Dauer von 14 Tagen zu verbieten.
Zu den ersten Blättern, die von einem solchen Verbot betroffen waren, gehörte die "Deutsche Zeitung", deren Inhalte von Publizisten der extremen Rechten des Kaiserreichs geprägt waren. Zu ihnen zählte der völkische Funktionär Heinrich Claß (1868–1953), dessen antisemitische Schrift "Wenn ich der Kaiser wär'" etwa zu den Inspirationsquellen von Hitlers "Mein Kampf" gezählt wird. In diesen Kreisen zeichnete sich beispielsweise der Kampf um das
Frauenwahlrecht dadurch aus, dass "in der Hauptsache Juden und Jüdinnen, sei es in der Presse oder durch Agitation dafür eintreten".
Erzberger-Ebert-Frage der Gesetzgebung
Gegen die völkische "Deutsche Zeitung" war sofort an jenem 30. August 1921 vom Innenminister das Verbot ausgesprochen worden, in den nächsten 14 Tagen herausgebracht zu werden, an dem auch die Notverordnung vom 29. August 1921 im Reichsgesetzblatt veröffentlicht wurde.
Später hob ein besonderer Ausschuss – eine Einrichtung, mit der oft parallel zu Parlament und Justiz gearbeitet wurde – das Verbot auf.
Einer Klage auf Ersatz des Schadens, der durch das Publikationsverbot entstanden war, gab das Landgericht dem Grunde nach statt, das Berufungsgericht wies sie ab.
Vor dem Reichsgericht stand dann u. a. die Frage zur Diskussion, wie es zu beurteilen war, dass das Verbot die völkischen Zeitungsleute am gleichen Tag traf, an dem die Ermächtigungsnorm im Reichsgesetzblatt erschien. Man könnte es als die Erzberger-Ebert-Frage der Gesetzgebung bezeichnen: In ihrem § 7 hatte die Notverordnung vorgegeben, dass sie "mit dem Tage der Verkündung" in Kraft trete.
Das war der 30. August 1921. Musste das aber heißen, dass die Notverordnung erst mit dem Ende des Tages in Kraft trat, während doch die Verbotsverfügung schon im Lauf des 30. August 1921 erging? Das Reichsgericht entschied in diesem Datumsproblem des Verkündungsrechts gegen die Kläger.
In der Sache selbst erklärten die Richter, dass das Verbot des Blattes objektiv nicht gerechtfertigt gewesen sei, weil seine evident verfassungsfeindliche Tendenz nach dem "gegenwärtigen staatsgefährdenden Inhalt der Druckschrift" zu beurteilen gewesen sei, also die Ausgaben vor Erlass der Notverordnung zwar in eine Gesamtwürdigung der mutmaßlichen Verfassungswidrigkeit einbezogen werden durften, es im Kern aber darauf ankomme, wie sich das Blatt nach Erlass der Notverordnung verhalte – auch seinen Redakteuren sollte die Chance offen stehen, sich auf ein drohendes Verbot einzurichten (Reichsgericht, Urt. v. 11.07.1923, Az. III 645/22).
Man mag darin liberale Prinzipienfestigkeit oder Blindheit gegenüber rechtsextremen Machenschaften sehen – Fragen, über die es bis heute in einer Republik zu streiten gilt, gibt Matthias Erzberger aber in mehr als einer Beziehung auf.
Rechtsextremismus und Presse: . In: Legal Tribune Online, 29.08.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45853 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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