Bürgerpartizipation scheint ein Modethema jeder Nachkriegsgeneration zu sein. Vergangene Woche widmete sich der DJT in seinem Fachprogramm zum Öffentlichen Recht dem Thema. Im Strafprozessrecht ist dagegen seit der Einführung von Geschworenengerichten in Deutschland, seit der Revolution von 1848, eine stete Rückentwicklung des partizipatorischen Elements zu verzeichnen. Ein Essay von Martin Rath.
Ein Blick ins Gesetzblatt erhöht nicht zwingend die Rechtserkenntnis. Bereinigte Sammlungen oder Kommentare befriedigen die Neugier weit besser. Der Blick ins Reichsgesetzblatt des Jahres 1924 (RGBl. I, S. 15-22) erhellt aber schlaglichtartig die politische Lage. Zunächst liest man die so genannte Lex Emminger, die "Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege" vom 4. Januar 1924, mit der die Zahl der Geschworenen des Schwurgerichts von zwölf auf sechs reduziert und festgelegt wurde, dass diese sechs Laienrichter nunmehr gemeinschaftlich mit den drei Berufsrichtern über "Schuld- und Straffrage" zu entscheiden hätten – nicht länger als autonomer Spruchkörper.
Gleich auf die "Lex Emminger" folgt eine Verordnung zur Umstellung der Wechselsteuer von der inflationsbedingt verdorbenen Mark auf Goldmark. Eine Auseinandersetzung mit Bürgerpartizipation und eine Krise der Währung, Seite auf Seite – das ist hoffentlich kein Omen für die Gegenwart.
Schwurgericht 1878-1924: Ungeliebte Bürgerpartizipation
In den letzten Jahren des Kaiserreichs war das große Schwurgericht mit seinen zwölf Geschworenen zu einer unbeliebten Institution geworden. Der Göttinger Landgerichtsrat J. Feddersen schätzte, dass rund die Hälfte aller zum Geschworenen berufenen Bürger ein Befreiungsgesuch stellte. Wirtschaftlich unvertretbar sei es, dass 30 Geschworene an den Gerichtsort beordert würden, aus denen Staatsanwaltschaft und Angeklagter durch wechselweise Ablehnung zwölf in den eigentlichen Spruchkörper losen. So ungeliebt akademisch gebildete Geschworene beiden Seiten waren, verschärften sich die – ohnehin kaum abschließend lösbaren – Trennungsprobleme von Tat- und Rechtsfragen.
Zudem attestierte der Göttinger Landgerichtsrat den Geschworenen mangelnde Freude am Strafen: "Wer nicht selbst Objekt der strafbaren Handlung ist, der steht bei uns mit seiner Sympathie oft mehr auf Seiten des Angeklagten als dies erwünscht ist, ja, er frohlockt, wenn es dem noch so belasteten Angeklagten gelingt, seinem menschlichen Richter zu entgehen. Und da vom Schwurgericht nur die Angeklagten verurteilt werden, die gestehen, oder die Unglück haben, zum Beispiel gegen ein schier erdrückendes Beweismaterial ankämpfen zu müssen", schließt Feddersen sarkastisch: "so ist einem Teil der öffentlichen Meinung in Deutschland ein Paladium der Freiheit!"
Dem Vorwurf, willkürlich freizusprechen, setzte sich die Institution des Schwurgerichts seit seiner Einführung in Deutschland nicht zu Unrecht aus. Der heute an der University of Michigan Law School unterrichtende Rechtshistoriker und Komparatist Mathias Reimann hat dies besonders prominent am ersten Schwurgerichtsfall in Baden gezeigt. Im Hochverratsprozess gegen Gustav Struve (1805-1870) und Karl Blind (1826-1907) lag das terroristische Treiben der Angeklagten offen zutage. Bei ihrem Versuch, zusammen mit einer zunächst rund 50-köpfigen Truppe in Baden gewaltsam die republikanische Staatsordnung einzuführen, verbunden mit Volksbewaffnung, Wahl der Offiziere, Pressefreiheit, Schwurgerichtsbarkeit und Parlamentssouveränität, waren Menschen ums Leben gekommen, Staatskassen geplündert worden – und die Angeklagten als Gesinnungstäter geständig. Gleichwohl antworteten die Freiburger Geschworenen im März 1849 beim ersten badischen Schwurgericht auf eine Reihe von Schuldfragen: "Nein, weil es im Lauf der Revolution geschehen ist."
Martin Rath, Geschichte der Geschworenengerichte: . In: Legal Tribune Online, 23.09.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7140 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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