Literarische Leistung des Bundesverwaltungsgerichts: Doppelnatur des Kleingärtners und zweierlei Normtreue

von Martin Rath

06.05.2012

1952 erließ der Bundestag das Gesetz zur Gründung des Bundesverwaltungsgerichts in Berlin, das im Folgejahr seinen Betrieb aufnahm. Während die ersten Bände mit den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs jener Jahre ein opulentes Bild von Meineid, Sex und Moral bieten, zeichnet "BVerwGE 1" ein kühleres, aber kaum weniger spannendes Bild Zeitgeschichte. Nachskizziert von Martin Rath.

Drei Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes (GG) erließ der Bundestag das Gesetz über das Bundesverwaltungsgericht, die Verwaltungsgerichtsordnung sollte später folgen. Nicht nur mit dem normativen Müll, den das NS-Regime hinterlassen hatte, mussten sich ab dem folgenden Jahr die Richter des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) befassen, auch der neue Gesetzgeber schuf bereits Knobelaufgaben, die man ihm heute so gar nicht zutraut.

Das soziale Problem war immens. Das "Gesetz über die Notaufnahme von Deutschen in das Bundesgebiet" (Notaufnahmegesetz, NAG) von 1950 bedenklich kurz. Rund zwölf Millionen Deutsche aus Ostmitteleuropa landeten in der Nachkriegszeit in Westdeutschland an. Hinzu kamen westwärts Strebende aus "sowjetischen Besatzungszone oder dem sowjetischen Sektor von Berlin", deren Umzug durch das NAG unter Erlaubnisvorbehalt gestellt wurde. Zwar sah das Gesetz angesichts des stalinistischen Terrors lebensnah vor, dass bei Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit die Erlaubnis "nicht zu verweigern" war. Die in Lagern gesammelten Zonenflüchtlinge hatten ihre Sache jedoch einem "Lagerausschuss" zur Entscheidung vorzulegen.

Entwirrungen des jungen Bundesverwaltungsgerichts

Über Kriterien und Zusammensetzung der Lagerausschüsse sagt das Gesetz nichts und lässt dem Verordnungsgeber freie Hand. Das würde man heute kritisch sehen. Auch das BVerwG musste erst argumentativ klären, ob es für Revisionen gegen Verwaltungsakte des Ausschusswesens zuständig ist. Da andere selbstständige Bundesbehörden explizit als solche gegründet wurden, sich dazu im acht Paragrafen kurzen NAG aber nichts fand, erklärte das Gericht die Lagerausschüsse kurzerhand zu Gliederungen des Bundesministers für Vertriebene und ließ die Revision zu (Beschl. v. 13.10.1953, Az. I B 187.53).

Rechtsfragen aus den Gründerjahren der Republik sind oft trivial geworden, aber in den Sachverhalten tobt das Leben. Wohin die frühen Migrationshintergründler gerieten, wenn sie aus den Lagern kamen, bildet etwa der Beschluss vom 19. November 1953 ab (Az. I B 95.53): Einem Ehepaar aus dem Badischen war auferlegt worden, von ihrer 5-Zimmer-Wohnung ein Zimmer abzutrennen. Die Flüchtlinge mussten ja untergebracht werden. Gegen einen zwangsweisen Wohnungstausch hätten sie sich nach geänderter Rechtslage wehren können, gegen den Trennungsbescheid nicht. Das Sozialkolorit ist bis heute bemerkenswert. Man möchte sich nicht ausmalen, wie heutige Entscheidungen zu Wohnraumfragen im Sozialhilferecht ausfielen, würden nachgeborene Richter ihr Judiz an der längst vergessenen Zwangsbewirtschaftung schulen.

Aufbruch in die neue soziale Markwirtschaft – mit Likör nicht schwör

Im Kontrast zur räumlichen Enge in den Gründerjahren steht die wachsende berufliche Freiheit. Staatlicher "Bedürfnisprüfung" für berufliche Strebsamkeit konnten die Richter nicht viel abgewinnen. Als einem Konditormeister aus Hamburg die Erlaubnis verweigert wurde, alkoholfreie Getränke, sowie "Liköre, Süß- und Dessertweine" auszuschenken, weil die Bezirksbehörde nach dem Gaststättengesetz von 1930 keinen "Bedarf" dazu sah, kassierte das BVerwG den Bescheid. Abgesehen davon, dass Bedürfnisprüfungen kein "durchgreifendes Mittel" gegen Gefährdungen der "Volksgesundheit durch den Alkoholmißbrauch" seien, greife die Prüfung in den "Wesensgehalt" der Freiheit der Berufswahl ein. Ähnlich argumentierte das Gericht in "BVerwGE 1" zur Bedürfnisprüfung im "(Kraft-) Droschkenwesen", dem vom NS-Staat grotesk überregulierten Markt privater Taxi- und Linienverkehrsunternehmen.

Diese Richtung folgte allerdings dem Gesetz, nicht dem liberalen Zeitgeist: Das Heilpraktikergesetz von 1939 etwa, mit dem der NS-Staat die Arbeit von Quacksalbern nur deutscher Staatsangehörigkeit legalisierte, wurde vom BVerwG mit Verweis auf das Deutschengrundrecht Art. 12 GG abgesegnet (Urt. 18.02.1954, Az. I C 78.53).

Der deutsche Professor und der Kleingärtner – Doppelnaturen?

Angesichts des Niedergangs der Universität als akademischer Lehr- und Lebensgemeinschaft ist die Rechtsauffassung eines Chemieprofessors aus Stuttgart fast anrührend-putzig. Der Mann war auf Befehl der US-Militärregierung 1945 entlassen worden und klagte nun aufgrund der "Doppelnatur" seiner Professur (Urt. 07.05.1954, Az. II C 11.53): Neben seinem Beamtenstatus, den er aus Altersgründen nicht weiter verfolgte, habe er noch den Status als "Mitglied der Hochschulkorporation", woraus sich das Recht ergebe, Vorlesungen zu halten, Doktoranden zu prüfen und vom Staat Forschungsgelder und einen Assistenten gestellt zu bekommen. Das BVerwG sah diese Rechte aber als Teil nur des Beamtenverhältnisses an und beschied den Mann negativ.

Dem deutschen Kleingärtner verschaffte indes noch der NS-Staat eine Doppelnatur als Schutzobjekt des öffentlichen wie des privaten Rechts. Während im Dezember 1944 die Ardennenoffensive anlief und Todesmärsche von KZ zu KZ getrieben wurden, erließ der Reichswohnungskommissar eine "Verordnung über Kündigungsschutz und andere kleingartenrechtliche Vorschriften", der zufolge das Herauskündigen eines Kleingärtners aus seiner Datsche von der örtlichen Behörde genehmigt werden musste. Darum musste das BVerwG fast 20 Jahre später befinden, ob der deutsche Kleingärtner neben dem ordentlichen auch den Verwaltungsrechtsweg für den Kündigungsschutz in Anspruch nehmen könnte (Urt. v. 07.05.1954, Az. II C 26.53).

Rechtsradikaler NS-Feind Otto Strasser oder "the secret marriage"

Während sich viele BGH-Entscheidungen aus den 1950er-Jahren zu Sittlichkeitsstraftaten oder zum Ehescheidungsrecht lesen, als ob Bundesrichter zu moralischen Predigten auf Nierentische stiegen, durchweht "BVerwGE Band 1" nur wenig Zeitgeist. Zwei Entscheidungen fallen aber ein wenig aus dem Rahmen.

Als sich Otto Strasser (1897-1974) entsprechend Art. 116 Abs. 2 GG um Einbürgerung bemühte, schob das BVerwG etwaige Bedenken zurück. Strasser war nach einem Intermezzo in der SPD zu einem zeitweilig führenden Mitglied der NSDAP geworden, aber schon 1930 in Ungnade gefallen und 1934 ausgebürgert worden. Rechtsextrem war er wohl immer noch. 1954 ließen die Bundesverwaltungsrichter aber keinen Gedanken daran zu, dass Art. 116 Abs. 2 GG durch teleologische Maßgaben anderer Verfassungsnormen eingeengt werden könnte. Ausbürgerung aus politischen Gründen sei eine Sache, die ganz und gar unmöglich sei.

Im Gegensatz zu dieser teleologischen Zurückhaltung impfte das BVerwG einem Gesetz über Lebensgemeinschaften rassisch Verfolgter einen Sinn ein, der im Gesetz nicht zu finden ist. Laut Gesetz vom 23. Juni 1950 (BGBl. S. 226) konnten Menschen, die aufgrund der Nürnberger Rassegesetze keine standesamtliche Ehe eingehen konnten oder als politisch Verfolgte "außerhalb der bürgerlichen Ordnung" lebten (§ 4), ihre Verbindung als "freie Ehe" amtlich anerkennen lassen, wenn einer der Partner inzwischen verstorben war. Dieses Gesetz, das wohl auf alliierte Initiative entstanden war, rief Missmut hervor, wie im Urteil vom 29. Januar 1954 zu erkennen ist (Az. II C 107.53). Geklagt hatte die Lebensgefährtin eines 1942 ermordeten jüdischen Kaufmanns. Die Anerkennung ihrer geheimen Ehe verweigerten die Behörden in Hamburg mit dem Argument, nicht erst das rassistische Eheverbot von 1935 habe sie an der standesamtlichen Trauung gehindert, da die Beziehung schon seit 1930 bestanden hatte. Diese Argumentation verstoße gegen die "Freiheit der Persönlichkeit", meint zwar das BVerwG, dehnte aber die Prüfungsrechte der Behörde im Weiteren aus: "Es sind Fälle denkbar, in welchen [...] die Anerkennung nicht angebracht erscheint [...], z.B. wenn der überlebende Verlobte einen unsittlichen Lebenswandelt führt, etwa in der Art, dass angenommen werden muss, der verstorbene Verlobte würde die Scheidung der Ehe herbeigeführt haben."

Ob solche feinen Unterschiede juristischer Teleologielust in den rein digitalen Sammlungen noch ins Auge springen werden?

Martin Rath, freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Literarische Leistung des Bundesverwaltungsgerichts: . In: Legal Tribune Online, 06.05.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6129 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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