Nach einem misslungenen Probeflug kam im August 1908 ein Schaulustiger durch ein Luftschiff des Grafen Zeppelin zu Schaden. Diese wohl erste Luftverkehrssache ging bis vor das Reichsgericht in Leipzig. Das Urteil legt bis heute fest, wie man hierzulande juristisch mit den Risiken wissenschaftlich-technischer Revolutionen umzugehen hat. Steampunks in Richterroben vermutet Martin Rath.
Nüchtern denkende Militärs, vom Königlich-Preußischen Luftschiffer-Bataillon, standen der ganzen Sache skeptisch gegenüber. Undiplomatisch wie er nun einmal war, nannte Kaiser Wilhelm II. den Tüftler aus Württemberg einmal den "dümmsten Süddeutschen": Ferdinand Graf von Zeppelin (1838-1917) sollte vielen Widerständen zum Trotz der wohl bekannteste deutsche Luftfahrtpionier werden.
Eine Pannenserie, die den autodidaktischen Konstrukteur in den Jahren 1900 bis 1908 bei seinen ersten Luftschiffen verfolgte, schien den Skeptikern Recht zu geben. Hinzu kamen Zweifel an der Reichweite der lenkbaren Ballongefährte und an ihrer militärischen Zweckmäßigkeit. Jedoch sorgten die zahlreichen Notlandungen der Anfangsjahre und die Zerstörung der ersten "Zeppeline" bei Unwetterereignissen für eine anhaltende Medienöffentlichkeit, unter anderem bei Kriegervereinen und Kolonialenthusiasten, und eine zahlreiche Zuschauerschaft während der trotzigen Flugversuche.
5. August 1908: Unfall von Echterdingen
Einem Zuschauer bekam seine Schaulust nicht gut, nachdem das vierte Luftschiff des Grafen Zeppelin am 5. August 1908 im Verlauf eines Probefluges auf einem Feld bei Echterdingen, einer Stadt südlich von Stuttgart, landen musste. Ein Motorschaden hatte den Flug, der das Luftschiff immerhin vom Bodensee bis hinauf nach Mainz führte, bereits zuvor in Rheinnähe unterbrochen. Auf dem Rückflug zwang nun ein Schaden des vorderen Motors zur Landung.
Im Anschluss an das Landgericht und das Oberlandesgericht Stuttgart schildert das Reichsgericht gut zwei Jahre später eine bunte Szene: "Da Tausenden von Menschen zusammengeströmt waren, wurde der Landungsplatz militärisch abgesperrt; dem Beklagten [Zeppelin] standen außer Feuerwehrleuten etwa zwei Kompagnien Infanterie und eine Anzahl Dragoner und Landjäger zur Verfügung. Nachmittags gegen 3 Uhr setzte eine Gewitterbö ein, riß das verankerte Luftschiff los und trieb es etwa 1200 Meter fort, bis es verbrannte."
Während sich das Luftschiff mit der Seriennummer „LZ 4“ aus der Verankerung riss, wurde der „Kläger, der sich als Zuschauer unweit der vorderen Gondel aufgestellt hatte, vom Kettenanker erfaßt und verletzt“. Wie schwer die Verletzungen waren, dokumentiert das Reichsgericht in seiner Entscheidung nicht (abgedruckt in: Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen, Band 78, Seiten 171-176, Aktenzeichen VI. 86/11). Auch in der greifbaren Literatur zur Frühgeschichte der Zeppelin-Fliegerei fand sich kein Hinweis auf die konkreten Schäden dieses frühen Opfers der Luftfahrt.
Problem der Gefährdungshaftung
Weder in Stuttgart noch in Leipzig fand der Kläger mit der Schadensersatzforderung gegen Zeppelin sein Recht. Dass die Richter eine Haftung des Luftschiffers aus einer analogen Anwendung von Vorschriften zur sogenannten Gefährdungshaftung ablehnten, dürften ihre heutigen Kollegen kaum anders handhaben. Dass sie dem Grafen Zeppelin attestierten, nicht fahrlässig gehandelt zu haben, könnte man heute für einen etwas windigen Befund halten.
Mit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts hatten die Gefahrenquellen explosionsartig zugenommen. Wer sollte beispielsweise haften, wenn ein Arbeiter – vielleicht frisch vom Land in die Stadt geflohen – in einer der neuen, oft unzureichend gesicherten Fabriken zu Schaden kam? Das war eine strittige Frage, weil dem Fabrikbesitzer ja in der Regel kein persönliches Verschulden angelastet werden konnte, wenn ein Arbeiter buchstäblich unter die Räder gekommen war. Ob derjenige, der als Eigentümer der Gefahrenquelle über sie herrschte (und nicht zuletzt den wirtschaftlichen Profit aus ihr ziehen wollte) auch ohne Verschulden – also im Rahmen der so genannten "Gefährdungshaftung" – den Schaden ersetzen sollte, darauf fanden die Rechtsordnungen der westlichen Industrienationen zu Zeiten des Grafen Zeppelin noch sehr unterschiedliche Antworten.
In der "Einführung in die Rechtsvergleichung" von Konrad Zweigert und Hein Kötz wird etwa von der extremen Haltung des Obersten Gerichtshofs im US-Bundesstaat New York berichtet, der im Jahr 1911 die Gefährdungshaftung im Bereich des Arbeitsrechts für verfassungswidrig erklärte. Eine fast völlige Gegenposition in der juristischen Dogmengeschichte entwickelte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die französische Justiz: Sie begann damit, demjenigen, der über eine Gefahrenquelle herrschte, so viele Sicherungspflichten aufzuerlegen, dass das Ergebnis einer Gefährdungshaftung sehr nahe kam.
Einen Mittelweg beschritt die deutsche Rechtsordnung. Das zum 1. Januar 1900 in Kraft gesetzte Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) kannte die Gefährdungshaftung nur für Tierhalter. Sonst haftet nach dem Deliktsrecht des BGB nur derjenige, der einen Schaden vorsätzlich oder fahrlässig verursacht hat. Wo die technisch-industrielle Entwicklung neue Gefahrenquellen schuf, die mit diesem klassischen Haftungsmodell nicht zu greifen waren, wurden besondere gesetzliche Vorschriften zur Gefährdungshaftung erlassen: So hatten beispielsweise die Arbeiter im Deutschen Reich schon nach dem Reichshaftpflichtgesetz von 1871 eine Chance, unabhängig von einem Verschulden entschädigt zu werden. Das gleiche Gesetz regelte auch Ansprüche von Bahnreisenden. Auf unerwünschte Nebenwirkungen überwiegend schwäbischen Erfindergeistes sollte bereits 1909 das "Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen" reagieren. Bis heute folgten weitere Gesetze, etwa zu nicht schuldhaft verursachten Schäden der Atomwirtschaft oder der Gentechnik.
Keine Gefährdungshaftung und milde Maßstäbe für den Grafen Zeppelin
Das Reichsgericht stellte mit seiner "Zeppelin"- Entscheidung am 11. Januar 1912 klar, dass die bereits bestehenden Gesetze zur Gefährdungshaftung keinesfalls analog auf Unfälle im Bereich der Luftschifffahrt anzuwenden sind. Ein Luftverkehrsgesetz, das hier die Gefährdungshaftung einführen sollte, erging allerdings erst zehn Jahre später, am 1. August 1922.
So, wie die Gerichte den Unfall von Echterdingen im Jahr 1908 verhandelt hatten, blieb auch vom Vorwurf wenig übrig, Graf Zeppelin hätte den Schaden des schaulustigen Verletzten fahrlässig verursacht, was zu einer konventionellen Haftung nach Paragraph 823 BGB hätte genügen können.
Als wären sie selbst Augenzeugen gewesen, geben die Reichsgerichtsräte den Unfallhergang und die löblichen Sicherungsmaßnahmen des – mit 70 Jahren schon recht betagten – Luftschiff-Pioniers wieder: Die Absperrung des Landeplatzes durch Militär und Feuerwehr sei hinreichend gewesen.
Insgesamt 70 Männer hätten den "Zeppelin" so gehalten, dass er sich sicher nach dem wechselnden Wind hätte ausrichten können. Das Reichsgericht hält fest: "Nach den festgestellten Umständen bot die Sachlage dem Beklagten [Graf Zeppelin] keinen Anlaß, darauf Bedacht zu nehmen, daß das Luftschiff durch die höhere Gewalt plötzlich ausbrechender Windstöße aus seiner sorgfältigen Verankerung losgerissen, kurz über die Köpfe des Publikums abgetrieben werden und dabei jemanden verletzen könne".
Juristische Steampunks im Reichsgericht?
Ob ein Bericht des Grafen Zeppelin, den er über die letzte Fahrt seines Luftschiffs "LZ 4" schrieb, in den Prozess eingeführt wurde, darüber lässt sich nur spekulieren. Schon vor dem flammenden Finale südlich von Stuttgart hatte das Luftschiff wegen der notorischen Motorenprobleme in Rheinnähe zwischenlanden müssen. Unter dem Titel "Die Mainzer Fernfahrt und das Unglück von Echterdingen" erwähnt Zeppelin, wie man unterwegs das Luftschiff wieder flott bekommen habe: Unter anderem seien "zwei Kettenanker, [...] eine Anzahl von Erdbohrern, die nötigen Taue und Stahltrossen" als entbehrlicher Ballast zurückgelassen worden.
Es darf aber gezweifelt werden, ob der großzügige Umgang des Grafen Zeppelin mit jenen Sicherungsmitteln, die beim Windstoß von Echterdingen dann fehlten, die Stuttgarter und Leipziger Richter zu einer härteren Bewertung des Sachverhalts geführt hätten.
Denn nicht von ungefähr erfreut sich der "Zeppelin" bis heute – weit ab von seinem wirtschaftlichen Wert – in einem Genre der Science-Fiction-Literatur größter Beliebtheit, dem sogenannten "Steampunk". In dieser Abteilung der phantastischen Literatur wird die Technik aus Zeiten Jules Vernes in die Gegenwart fortgesponnen – mit dampfbetriebenen Computern etwa. Den Luftverkehr übernehmen hier selbstverständlich die silbernen Kolosse des Grafen Zeppelin. Natürlich sind die Phantasiewelten des Steampunk völliger Unfug, doch lebt in ihnen bis heute die Ästhetik des Viktorianischen Zeitalters fort, die Technikbegeisterung zu Kaiser Wilhelms Zeiten und die imperialen Träume, Afrika und Asien von der Gondel eines Zeppelins aus beherrschen zu können.
Dass der betagte Technik-Autodidakt Ferdinand Graf von Zeppelin trotz der skeptischen Haltung des preußischen Militärs und zahlreicher Bruchlandungen immer wieder genügend Geld für immer neue Luftschiffe zusammenbekam, hatte er den Steampunks seiner Zeit zu verdanken: Männern in Kriegervereinen, die von der Luftschlacht über England träumten. Kolonialvereinsleuten, die Deutschland in Afrika zu kurz gekommen sahen. Millionen Mark spielten Lotterien zugunsten des Zeppelin-Baus ein, genehmigt vom König von Württemberg. Das einfache Volk sang auf die Luftschifferei mehr populäre Lieder als sie heute Ralf Siegel und Dieter Bohlen in Teamwork zustande bekämen.
Man darf vermuten, dass auch der eine oder andere Oberlandes- oder Reichsgerichtsrat des Jahres 1908 oder 1912 ein Steampunk war und dem Grafen Zeppelin auch eine noch viel windigere Technologie haftungsrechtlich abgesegnet hätte.
Martin Rath ist freier Journalist und Lektor in Köln.
Handapparat
Konrad Zweigert und Hein Kötz: "Einführung in die Rechtsvergleichung", Tübingen [Mohr Siebeck] 3. Auflage 1996.
Der Unfallbericht des Grafen Zeppelin ist u.a. abgedruckt in "LZ 1 – Der erste Zeppelin. Geschichte einer Idee 1874-1908" von Hans G. Knäusel, Bonn [Kirschbaum Verlag] 1985 und in Wolfgang Meighörners "Giganten der Lüfte", Erlangen [Nebel Verlag] 1996
Kurzes zum "Steampunk" schrieb Stefan Schulz am 4. Juli 2007 für SPIEGEL ONLINE
Eine bis heute beeindruckende Studie zu den Wechselwirkungen zwischen politisch-historischer (und damit wohl auch juristischer) Entwicklung und der Science Fiction lieferte der Kieler Historiker Michael Salewski: "Zeitgeist und Zeitmaschine", München [dtv] 1986
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Martin Rath, Der Fall Zeppelin: . In: Legal Tribune Online, 17.04.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3046 (abgerufen am: 13.11.2024 )
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