2/2: Der Deal und die "materielle Wahrheit"
Aufmerksamkeit für den Deal im Strafprozess stört alle Verfahrensbeteiligten dabei, unbehaglichen Fragen aus dem Weg zu gehen: Was hat es etwa mit der "materiellen Wahrheit" auf sich, die von den Strafgerichten zu ermitteln sein soll?
Das ist schon für das konventionelle Verfahren eine heikle Frage. Geht es um naturwissenschaftliche Wahrheit, hat man es mit hoher Evidenz zu tun: Hexen können höchstwahrscheinlich nicht mittels Magie Schaden zufügen. Die Naturwissenschaften erkennen eine Energie namens "Magie" nicht an. Aber solch eindeutige Überschneidungen zwischen juristischem und naturwissenschaftlichem Wahrheitsanspruch finden sich eher selten.
Wenn der Anspruch auf "materielle Wahrheit" nichts weiter betrifft als das pragmatische Recht eines Angeklagten, das Gericht möge in einem Wirtschaftsverfahren statt fünf Regalmetern Akten nur zehn zur Kenntnis nehmen; dem Anspruch also die Evidenz naturwissenschaftlicher Wahrheitsansprüche fehlt – warum sollte auf ihn nicht zugunsten eines milderen Urteils verzichtet werden können?
Weil die Diskretion durchbrochen werden könnte, dass Richter nicht genügend Akten studiert, Staatsanwälte nicht hinreichend Ermittlungsanweisungen erteilt haben, Verteidiger und Angeklagter dem Gericht keinen ausreichend großen Realitätsausschnitt geboten haben, der sich unter ein Strafgesetz subsumieren ließe.
Das Institut der Urfehde
Womöglich hilft ein Blick auf rechtshistorische Verfahrensweisen weiter, dem Deal einen Platz zu geben, der weniger unbefriedigend ist. Das Straf- und das Strafprozessrecht des Mittelalters und der frühen Neuzeit kannten das Institut der "Urfehde". Ein bisschen schlicht und sehr unwissenschaftlich skizziert: Nahm eines dieser possierlichen deutschen Städtchen einen Menschen etwa in Untersuchungs- oder Erzwingungshaft und ließ ihn später frei, etwa weil sich die Beschuldigung als unwahr erwiesen hatte, geschah die Freilassung gegen einen beeideten Fehdeverzicht, die Urfehde. Damit verzichtete der Freigelassene auf Rache am Gericht: Ein Verzicht auf Selbsthilfe wie auch darauf, das Gericht vor einem fremden Gericht zu verklagen.
Interessant sind daran zwei Aspekte: Einerseits die grundsätzliche Gleichrangigkeit von Gericht und vormaligem Beschuldigten, andererseits die erhalten gebliebenen Urfehdebriefe, die ja – weil der Umfang des zu beendenden Rechtsstreits zu definieren war – eine gewisse Präklusionswirkung hatten: Man musste aushandeln, welches schuldhafte Verhalten der inhaftierenden Gerichtsbarkeit, welche zu Recht oder zu Unrecht vorgeworfenen Verhaltensweisen des entlassenen Gefangenen von dieser beeideten Friedenserklärung abgedeckt sein würden.
Die Offenlegung allen Wissens und Nichtwissens
Weil beim heutigen Strafprozess alle Verfahrensbeteiligten ein Interesse haben können, die "materielle Wahrheit" zum Gegenstand informeller Vereinbarungen zu machen, müsste man sie vor einem Deal allesamt eine "Urfehde 2.0" schwören lassen: Richter könnten beispielsweise beschwören, wie weit sie mit welchen Beweismitteln gekommen sind und an welchem Punkt sie vor tonnenschweren Beweisakten kapitulieren werden. Staatsanwälte müssten beschwören, welchen Kenntnisstand sie von der Tat zum Zeitpunkt eines Geständnisses hatten, um frühzeitig reuige Angeklagte gegenüber Taktikern nicht zu benachteiligen. Verteidigern wäre wohl u.a. ein Schwur darauf abzunehmen, keine "Gentlemen's Agreements" ohne Anwesenheit des Beschuldigten getroffen zu haben. Angeklagte könnten vielleicht auf Rechtsmittel verzichten.
Fände dieses virtuelle Schwur-Gericht außerhalb des Spruchrichterprivilegs statt, wäre die Risikoverteilung zwar nicht gleichrangig, aber etwas fairer.
Einerseits ist nun diese "Urfehde 2.0" nur ein Gedankenspiel: Würde ein Deal auch unter Offenlegung allen Wissens und Nichtwissens, unter persönlicher Haftung und beschworen in aller Öffentlichkeit zustande kommen? Andererseits ist überall dort, wo zwei oder drei Menschen beisammen sind, informelles Verhalten unausweichlich. Jeder Versuch, es in Prozessordnungen abschließend zu regeln, dazu zählt auch das Komplettverbot des Deals, dürfte vergeblich sein.
Umso wichtiger ist es, einen "Lackmustest der Gerechtigkeit" zu entwickeln – es könnten beispielsweise alle Beteiligten eines Strafprozesses als fiktive Vertragsparteien interpretiert und ihre Beziehungen zivilrechtlichen Billigkeits-Tests unterzogen werden.
Martin Rath, Der Deal im Strafprozess: . In: Legal Tribune Online, 14.04.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8520 (abgerufen am: 03.11.2024 )
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