2/2: Unrecht ja, aber braucht man den Begriff Unrechtsstaat?
Natürlich gab es in der DDR weder Gewaltenteilung noch Unabhängigkeit der Justiz noch galt die Herrschaft des Rechts. Das System war weit davon entfernt, ein Rechtsstaat zu sein. Zahlreiche wissenschaftliche Studien haben in den letzten 25 Jahren auf den verschiedensten Gebieten das Unrecht des untergegangenen Staats eindrucksvoll belegt. Schon die Gründungsurkunde des vereinten Deutschlands, der Einigungsvertrag, sprach von "Opfern des SED-Unrechts-Regimes", ohne dass diese Wendung Anstoß erregt hätte.
Die DDR jedoch deswegen einen Unrechtsstaat zu nennen, ist problematisch, weil der Begriff an sich schon umkämpft ist. Es handelt sich nämlich nicht um einen juristischen oder politischen Fachterminus, sondern ein polemischen Kampfbegriff. Seine Konturen sind vage geblieben und kaum jemand hat versucht, sie zu präzisieren. Als Diffamierungsformel eignet sich der Begriff nämlich besser, wenn er unscharf bleibt.
Ein Unrechtsstaat soll, obwohl der Gedanke nahe läge, nicht das Gegenteil eines Rechtsstaates sein. Friedrich Julius Stahl (1802-1861), der bis heute als Vater des Rechtstaatsgedankens gilt, definierte den Rechtsstaat als einen, der mit Gesetzesgebundenheit und Rechtsförmigkeit der Verwaltung "nicht Ziel und Inhalt des Staates" bestimmen sollte, sondern nur dessen "Art und Charakter". Er propagierte den monarchischen Staat als Ideal des Rechtsstaats und sah dessen Gegenteil im "Volkstaat", also ausgerechnet in der Demokratie. Erst Gustav Radbruch stellte eine Verbindung zwischen beiden her, da "nur die Demokratie geeignet ist, den Rechtsstaat zu sichern". Wo er vom Unrechtsstaat sprach, wollte er den Begriff einem Staat vorbehalten, der das "Recht" gar nicht erst anstrebt und ganzen Bevölkerungsgruppen die Existenzberechtigung abspricht. Das traf nur auf Nazi-Deutschland zu. Aber nicht einmal mit dieser Bewertung konnte er sich durchsetzen; die Juristenschaft weigerte sich beharrlich, das Dritte Reich so zu nennen und erinnerte sich des Begriffs erst nach dem Untergang der DDR.
Differenzierte Betrachtung ist besser geeignet
Aus diesen Gründen lehnen auch Menschen wie Erwin Sellering, Friedrich Schorlemmer und Gesine Schwan, die alle nicht im Verdacht der DDR-Verklärung stehen, den Begriff ab. Sie sehen damit nicht nur das SED-Regime, sondern das ganze Gemeinwesen herabgesetzt, einschließlich der Bevölkerung. Offenbar meinen deshalb auch sechzig Prozent der Ostdeutschen, ein Unrechtsstaat sei die DDR nicht gewesen.
Zu einer unbefangenen Betrachtung des Justizalltags der DDR muss man wohl so viel Distanz zu den innerdeutschen Streitigkeiten haben wie die deutsch-amerikanische Rechtsprofessorin Inga Markovits von der University of Texas. Für ihre Studie "Gerechtigkeit in Lüritz" hat sie die gesamten in 40 Jahren angefallenen Akten eines kleinen Gerichts der DDR ausgewertet. Dabei ist ein vielschichtiges Bild einer teils fürsorglichen, teils repressiven, bisweilen sogar boshaften Justiz entstanden, die mit Rechtsstaat genauso falsch beschrieben wäre wie mit Unrechtsstaat.
In weiteren 25 Jahren, zum fünfzigsten Jahrestag des Mauerfalls, wird uns vermutlich die heutige Auseinandersetzung um den "Unrechtsstaat DDR" genauso skurril vorkommen wie der vor 50 Jahren erbittert geführte Streit darum, ob die DDR überhaupt ein "Staat" war.
Der Autor Dr.iur. Dr.phil. Ingo Müller ist Verfasser zahlreicher Fachbeiträge und Bücher zur Entwicklung des Rechts in Deutschland. Sein bekanntestes Werk "Furchtbare Juristen: Die unbewältigte Vergangenheit der deutschen Justiz", das erstmals 1987 veröffentlicht wurde, erschien 2014 in neuer Auflage.
War die DDR ein Unrechtsstaat?: . In: Legal Tribune Online, 09.11.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13748 (abgerufen am: 04.11.2024 )
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