NS-Verbrecher Werner Scheu: Ein Mörder aus der Mitte der guten Gesell­schaft

von Martin Rath

22.05.2022

Heute vor 60 Jahren hob der BGH das Urteil eines Schwurgerichts auf, das den NS-Verbrecher Werner Scheu nur wegen Beihilfe zum statt wegen Mordes verurteilt hatte. Ein gut dokumentiertes Stück Rechtsgeschichte, das zeigt, was schief lief. 

Es ist ein aufgeklärtes Ideal der bürgerlichen Gesellschaft, dass der Strafvollzug dem Gefangenen nur die Freiheit nehmen sollte. Ihm weiteren Schaden zuzufügen, weil der Staat vielleicht ein Rachebedürfnis befriedigt, steht nicht nur im Gegensatz zum Gedanken der Resozialisation, es verletzte vor allem den Anspruch eines jeden, in Würde zu leben.

In einem zwar kleinen, aber um soziologische und psychologische Erkenntnisse bemühten Buch beschrieb der promovierte Mediziner Werner Scheu (1910–1989) im Jahr 1970 Beobachtungen aus seiner Haft im Zuchthaus Celle, aus der er zwei Jahre später auf dem Gnadenweg entlassen werden sollte.

Horst Schüler-Springorum (1928–2015), der mit seiner Habilitationsschrift aus dem Jahr 1967 wesentlich zur Modernisierung des deutschen Strafvollzugsrechts, zum Ende der Lehre vom "besonderen Gewaltverhältnis" beigetragen hatte, erklärte 1983 im Vorwort zur Taschenbuch-Ausgabe von Werner Scheus "In Haft. Zum Verhalten deutscher Strafgefangener", dass seine Beobachtungen aus dem Zuchthaus der frühen 1970er Jahre nach wie vor viel vom Alltag im Strafvollzug realistisch darstellten.

Das Urteil Schüler-Springorums ist verständlich. Denn es findet sich bei Scheu eine weitgehend von Larmoyanz und ganz von unterhaltsamen Pointen freie Darstellung der sexuellen, psychologischen und hierarchischen Perspektiven männlicher Häftlinge – davon etwa, wie die dichte Überwachung von Gefangenen aussah, die als suizidgefährdet gelten, oder wie selbstschädigendes Verhalten dazu dient, sich selbst als jedenfalls physisch autonome Person zu erleben. Der Mediziner Scheu bereitete sich etwa ein giftiges Gebräu, das ihn zwar nicht töten, aber gefährden sollte – zu Zwecken der Selbsterfahrung. Dass die gut besuchten Gottesdienste in der Anstalt wesentlich zum Austausch von pornografischen Bildern dienten, ist nüchtern beobachtet, keine Pointe. Insgesamt ist es eine beachtenswerte Studie aus einer "totalen Institution".

Das Verfahren gegen Scheu

Während der Verlag 1983 in nur kargen Worten mitgeteilt hatte, dass Scheu "nach dem Krieg wegen Kriegsverbrechen zu lebenslanger Haft verurteilt" worden sei und nach seiner Entlassung noch sieben Jahre als Psychologe gearbeitet habe, lässt sich heute auch die Strafsache gut erschließen.

Das erste Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 22. Mai 1962 (Az. 5 StR 4/62) ist dabei in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert – so musste sich das Landgericht (LG) Aurich im zweiten Durchgang vorwerfen lassen, verbindliche Vorgaben des BGH missachtet zu haben. Die Staatsanwaltschaft erwog, gegen die Schöffen zu ermitteln – doch dazu später mehr.

Nach den Feststellungen des LG Aurich (Urt. v. 29.05.1961, Az. 17 Ks 17/61) hatte Scheu – nach dem Krieg als vor Ort sehr angesehener, sozial gut vernetzter Arzt und Betreiber eines Kinderheims auf Borkum ansässig – neben vier weiteren Angeklagten an der Ermordung von über 200 Juden mitgewirkt.

In seiner alten Heimat, dem sogenannten Memelland, einem kleinen Stück Ostpreußens, das nach 1920 an Litauen gefallen war, hatten sich Teile der deutschen Bevölkerung bereits vor 1939, als das Gebiet wieder vom Deutschen Reich erworben wurde, nationalsozialistisch organisiert. Der Mediziner Scheu, Eigentümer eines großen landwirtschaftlichen Gutes, war bei dieser Gelegenheit mit seinem Verband in die SS aufgenommen worden.

Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion, am 22. Juni 1941, wurden diese örtlichen SS-Verbände unter anderem zum Zoll- und Grenzschutz eingesetzt, ihren führenden Köpfen die offen verbrecherische Befehlslage – unter anderem der Kommissarbefehl – zur Kenntnis gebracht.

Ein Profiteur des Regimes

Gutsbesitzer Scheu nutzte die Gelegenheit, eine Art privates Konzentrationslager einzurichten, um jüdische Arbeitskräfte auszubeuten. Ob er bereits in diesem Rahmen Menschen töten ließ oder selbst ermordete, blieb zunächst ungeklärt. Zur Anklage kam eine "Massenerschießung" von mehr als 200 Menschen in der Nähe des heute litauischen Ortes Žemaičių Naumiestis, einige Kilometer von Scheus Landgut bei Heydekrug entfernt. An ihr war Scheu neben seinen vier Mitangeklagten beteiligt. Ein kurzer Auszug aus den ausführlichen Darstellungen des LG Aurich vermittelt einen Eindruck vom Tatgeschehen, wahrscheinlich dem 5. Juli 1941: 

"Die Erschiessung der Juden, die um die Mittagszeit begann, spielte sich im einzelnen wie folgt ab: Die Juden wurden jeweils in etwa 50 m Entfernung von der Grube abgeladen. Hier nahm ihnen der Angeklagte Schmidt zunächst das Geld und die Wertsachen (Uhren, Schmuck, Ringe usw.) ab. Ferner mussten sie das noch brauchbare Schuhwerk ablegen. Endlich nahm man ihnen auf eine entsprechende Anordnung des Angeklagten Dr. Scheu auch die Jacken ab, die für die arbeitsfähigen Juden in Heydekrug Verwendung finden sollten. Dann wurden die Juden in Gruppen von sechs bis zehn Mann an den Grubenrand geführt, wo sie auf dem Erdwall mit dem Gesicht zur Grube niederknien mussten. Sie wurden dort durch Genickschüsse getötet. Ihre Leichen fielen meist ohne fremdes Zutun in die Grube. Die Juden gingen in der Mehrzahl ruhig und gefasst dem Tode entgegen. Nur vereinzelt wurde gejammert, so vor allem, wenn mehrere Mitglieder einer Familie gleichzeitig erschossen wurden. Manche beteten vor ihrem Tode.

Die Leichen jener, die beim Versuch, zu fliehen, erschossen worden waren, mussten von ihren Angehörigen oder Nachbarn zur Grube gebracht werden, bevor diese selbst ermordet wurden. 

Das Gericht erfährt von zwei Zeugen, die von Scheu im Scherz gefragt worden waren, "ob sie Munition hätten und mitschiessen wollten", sich aber entsetzt abwandten, aber auch von einem Zeugen, der "sich von dem Angeklagten Dr. Scheu den Ablauf der Aktion erklären" ließ, um sich "dann auf eine in der Nähe der Grube ausgebreitete Decke" zu setzen, "um der Erschiessung zuzusehen". 

Obwohl er mindestens vier in der Grube liegende Verletzte und mindestens vier am Rand der Grube kniende Menschen eigenhändig erschossen hatte, würdigte das LG Aurich den Tatbeitrag Scheus als Beihilfe zum Mord – begangen von den Haupttätern Hitler, Himmler, Heydrich – und erkannte auf eine Zuchthausstrafe von sechs Jahren. 

Zweiter Durchgang vor dem LG und dem BGH

Mit seinem Urteil vom 22. Mai 1962 bestätigte der BGH die Erkenntnisse des LG Aurich mit Blick auf drei der fünf Angeklagten ganz oder im Wesentlichen, verwies die Sache jedoch hinsichtlich Scheus und eines weiteren höherrangigen SS-Offiziers zurück. 

Der in Berlin (West) tätige 5. Strafsenat monierte, dass das Schwurgericht die Vorgänge im Wald von Žemaičių Naumiestis als eine einheitliche Tat behandelt, vor allem jedoch, dass es das Handeln Scheus als Beihilfe zur fremden, nicht als eigenständige Taten qualifiziert hatte. 

In der neuen Verhandlung vor dem LG Aurich – ein Schwurgericht – kamen zu den bereits bekannten neue Tatvorwürfe hinzu. Es hatten sich Zeugen gefunden, die zum Vorwurf aussagen konnten, Scheu habe auch in seinem KZ-Betrieb – dem Gut in Heydekrug – getötet. 

Die aussagepsychologischen Erwägungen des Gerichts, zu diesen neuen Tatvorwürfen keine belastbare Erkenntnis gewonnen zu haben, vermitteln eine schmerzhafte Vorstellung vom unsensiblen Umgang mit den überlebenden jüdischen Zeugen. 

Das zweite landgerichtliche Urteil in der Sache Scheu vom 26. Juni 1964 (Az. 2 Ks 1/63) musste einem juristisch nicht bewanderten Publikum merkwürdig anmuten: Seine Begründung gab zwar klar zu erkennen, dass nach der Überzeugung des Gerichts eine Täterschaft Scheus und seines Mitangeklagten gegeben war. Verurteilt wurde er trotzdem wieder nur wegen Beihilfe, nun zu einer Zuchthausstrafe von zehn Jahren. 

Nicht nur dem BGH war augenscheinlich klar, wie dieser Strafausspruch der damals drei Berufs- und sechs Laienrichter zustande gekommen sein musste. 

Im zweiten Revisionsurteil vom 24. August 1965 (Az. 5 StR 114/65) erklärte der 5. Strafsenat des BGH, dass das LG Aurich grundlos seine nach § 358 Abs. 1 Strafprozessordnung (StPO) bindende Feststellung aus dem ersten Revisionsurteil missachtet habe, Scheu als Täter, nicht als Helfer beim Mord im Wald von Žemaičių Naumiestis zu qualifizieren. Weil der BGH in Scheu den Täter eines Mordes sah, konnte er ihn wegen der alternativlos angedrohten lebenslangen Zuchthausstrafe, § 211 Strafgesetzbuch (StGB) a.F., ohne erneute Zurückverweisung selbst verurteilen. 

Geschworene, die eigene Interessen haben 

Gerhard Mauz (1925–2003), der langjährige Gerichtsjournalist des "Spiegel", wusste von einem weiteren Nachspiel in Aurich zu berichten: Dort hatte die Staatsanwaltschaft – fruchtlos, wie wohl meist in solchen Dingen – laut darüber nachgedacht, gegen die Laienrichter wegen des Verdachts der Begünstigung, § 257 StGB, zu ermitteln: Allzu offensichtlich schien es, dass sie die Berufsrichter in der Beurteilung der Täterschaft Scheus überstimmt hatten – ungeachtet der rechtlichen Einordnung des 5. Strafsenats aus dem ersten Revisionsurteil. 

Allgemein, besonders sichtbar in NS-Verfahren, sah Mauz das Problem, dass den Berufsrichtern meist selbstbewusste, sozial hoch angesehene Geschworene begegneten – die sich im Zweifel Gedanken darüber machten, ob sie durch mehr als den guten Zufall im NS-Staat nicht selbst zu Mördern geworden waren. 

Aus der lebenslangen Zuchthausstrafe wurde Scheu nach insgesamt zwölf Jahren Haft auf dem Gnadenweg entlassen, niedersächsischer Ministerpräsident war Alfred Kubel (SPD, 1909–1999), der selbst 1937/38 wegen "Vorbereitung zum Hochverrat" ein Jahr inhaftiert gewesen war. 

Im Jahr 2020 wies "Report Mainz" darauf hin, dass Scheu vor seiner Haft eines der berüchtigten Kinder-Erholungsheime der 1950er bis 1970er Jahre betrieben hatte. Dass der verurteilte NS-Verbrecher auch ein beachtliches Buch zu "totalen Institutionen" hinterließ, zu denen auch diese Heime zählten, war dabei nicht von Interesse – Ambiguitätsprobleme sind leider kaum populär zu machen. 

Zitiervorschlag

NS-Verbrecher Werner Scheu: . In: Legal Tribune Online, 22.05.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48514 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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