Bundeswehr: Sch­mut­zige Wäsche aus dem Gefan­ge­nen­lager

von Martin Rath

02.06.2019

Was geschieht, wenn ein Kriegsgefangener ein Stalin-Heiligenbild zum Wäschetrocknen nutzt? Von Fragen dieses Kalibers hing die Zukunft eines Bundeswehr-Offiziers im Nachkriegsdeutschland ab. Martin Rath erinnert an den "Stalin-Lumpen-Fall".

Zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der anschließenden Auflösung der deutschen Streitkräfte schritt die Bundesrepublik zur "Wiederbewaffnung": 1955 wurde die Bundeswehr gegründet, und im März 1956 das Grundgesetz (GG) um zahlreiche wehrverfassungsrechtliche Vorschriften ergänzt. Das Soldatengesetz (SG) trat in Kraft.

Die Bundeswehr musste keine bestehenden Verbände übernehmen, wie es in der Weimarer Republik der Fall war. Die demokratische Regierung in Bonn konnte sich aussuchen, wen sie in der Führung der neuen Streitkräfte sehen wollte.

Von dieser Möglichkeit machte sie auch Gebrauch, wenngleich sie – wie in allen anderen Institutionen der jungen Bundesrepublik – stark auf die Vertreter der Funktionseliten aus den Zeiten von Kaiserreich, Weimarer Republik und NS-Staat zurückgriff.

Wo tiefgreifende Personalauswahlprozesse stattfinden, können schon einmal absurde Fragen auftauchen. Was zum Beispiel hat es mit dem Trocknen von Wäsche im Kriegsgefangenenlager in der Sowjetunion auf sich, bei dem ein Soldat ein vom fünfzackigen Stern umkränztes Stalin-Bild als Wäscheständer benutzte?

Moralischer Neuanfang war gar nicht beabsichtigt

Wer hatte zu entscheiden? Um die Wiederbewaffnung im Konsens der Volksparteien in Angriff nehmen zu können, berief der Bundespräsident auf Vorschlag der Bundesregierung 40 Personen aus Politik und Verbänden in einen Personalgutachterausschuss, darunter – zum Unmut mancher Beobachter – auch zwei Frauen, sowie in Fragen der Personalauswahl erfahrene Ex-Wehrmachtsoffiziere.

Das Gremium hatte nach § 1 Personalgutachterausschuss-Gesetz die Aufgabe, die persönliche Eignung jener Soldaten zu prüfen, die für einen höheren Dienstgrad – vom Oberst an aufwärts – in Frage kamen, und für alle anderen Soldaten entsprechende Richtlinien aufzustellen.

Während der Ausschuss neben ihren Bewerbungen die Akten mehrerer Hundert höherrangiger Offiziere selbst prüfte und zum Entsetzen des Verteidigungsministers auch durchaus geeignete Kandidaten durchfallen ließ, hatten die Bundeswehrbehörden kraft Anordnung des Ministers für die unteren Ränge die Richtlinien des Ausschusses umzusetzen.

Angehörige der Waffen-SS kamen für untere Bundeswehrränge in Betracht…

In seinem am 6. Dezember 1957 vorgelegten Tätigkeitsbericht erklärte der Ausschuss, dass es dabei weder darum gegangen sei, "Entnazifizierungs- und Entmilitarisierungsverfahren wiederauf(zu)nehmen, noch sich zum Richter über menschliche Vorzüge und Schwächen aufwerfen" zu wollen.

Von früheren Wehrmachtsoffizieren, die in den Dienst der Bundeswehr treten wollten, wurde daher beispielsweise keine historisch-kritische Auseinandersetzung mit dem Terrorstaat und Völkermord sowie der Rolle abverlangt, die das Militär in beidem gespielt hatte.

An moralischer Reflexion genügen sollte, dass "der künftige Soldat die Gewissensentscheidung des 20. Juli 1944 anerkennen [muss]. Dies wird er verbinden mit der Achtung vor ihnen und vor den vielen anderen Soldaten, die im Gefühl der Pflicht ihr Leben bis zum Ende eingesetzt haben." Der militärische Widerstand gegen Hitler durfte also nicht offen angefeindet werden. Ehemalige Angehörige der Waffen-SS kamen jedoch für untere Bundeswehrränge in Betracht.

…Mitglieder der "Antifa" aber nicht

Für die ideologisch andere Seite konstatierte der Ausschuss hingegen: "Normalerweise führte eine Mitgliedschaft in der 'Antifa' […] zur Ablehnung des Bewerbers." Und eben diese Hürde sollte ein Soldat im "Stalin-Lumpen-Fall" erst mit Urteil vom 2. Juni 1959 nehmen.

Es galt, sich sozialistischer Verführungen zu erwehren: Die sowjetischen Behörden hatten sich bemüht, unter den mehr als drei Millionen deutschen Kriegsgefangenen, die zwischen 1941 und 1945 in ihren Gewahrsam gelangt waren, weltanschauliche Verbündete zu finden.

Die zu diesem Zweck gegründeten Organisationen, etwa das Nationalkomitee Freies Deutschland, waren zwar spätestens mit Kriegsende 1945 aufgelöst worden. Doch der Versuch, die Kriegsgefangenen für die Sache der Sowjetunion zu gewinnen, wurde unter anderem von "antifaschistischen Lageraktiven" fortgesetzt.

Der Fall des Oberstleutnant Brookmann

In den Jahren von 1946 bis 1949 war der eben erst in die Bundeswehr übernommene Oberstleutnant Brookmann mit einem solchen "Lageraktiv" in Berührung gekommen. Der Bundesverteidigungsminister betrieb daher ein Disziplinarverfahren gegen ihn, um feststellen zu lassen, dass er wegen unehrenhaften Verhaltens als Wehrmachtssoldat in sowjetischer Gefangenschaft unwürdig sei, in der Bundeswehr zu dienen.

In einer mehrtägigen Hauptverhandlung hatte der Wehrdienstsenat des Bundesdisziplinarhofs zwischen dem 25. Mai und dem 2. Juni 1959 mit schmutziger Wäsche zu tun – im übertragenden wie im eigentlichen Sinne.

Brookmann, vor dem Krieg zunächst preußischer Polizeibeamter, seit 1935 Berufsoffizier bei der Wehrmacht, war 1945 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden. Nachdem die Amerikaner sich im Sommer 1945 aus Sachsen und Thüringen zurückgezogen hatten, nahmen ihn die Sowjets aber erneut in Haft. Über ein Lager in Frankfurt an der Oder kam Brookmann erst in das in Fragen sozialistischer Schulung zentrale Krasnogorsk bei Moskau, dann in einige weitere Kriegsgefangenenlager.

Vorträge zum Reitsport und sowjetische Nachrichten

In den Verdacht der Kameraden, mit dem kommunistischen Feind gemeinsame Sache zu machen, geriet Brookmann nach den Feststellungen des Gerichts erstmals, weil er im Lager Frankfurt/Oder nicht nur unpolitische Vorträge zum Reitsport gehalten, sondern sich auch als Vorleser von Nachrichten betätigt hatte. Diese waren von sowjetischer Seite vorgegeben. Während sich seine Kameraden empört über die Propaganda zeigten ("Unerhört, das ist nicht wahr!") habe sich Brookmann – so Zeugen –, mit den russischen Einflüsterungen hörbar identifiziert.

In seinen Monaten in Krasnogorsk habe Brookmann zudem den Kontakt zum bekannten General Rudolf Bamler (1896–1972) nicht gemieden – einem ehedem überzeugten Nationalsozialisten, der zum Anhänger der stalinistischen Ordnung mutiert war, zunächst in der Gefangenschaft, dann als Funktionär in der DDR.

Nach der Entlassung im Jahr 1949 und der Übernahme in die Bundeswehr 1956 begann für Brookmann das Waschen der schmutzigen Wäsche. Als er sich für seinen ersten neuen Einsatz am Truppenübungsplatz Putlos vorstellte, wurde ihm dort erklärt, man lehne "jede dienstliche oder außerdienstliche Berührung" mit ihm ab – wegen seines kolportierten Benehmens in sowjetischer Gefangenschaft.

Neben einer Teilnahme an kommunistischen bzw. antifaschistischen Zirkeln der Lagerführung wurde ihm u.a. vorgeworfen, er habe einen Offizierskameraden, "der feuchte Lumpen an die Holzzacken eines ein Stalinbild einrahmenden Sowjetsterns zum Trocknen gehängt hatte, zur Entfernung der Lumpen aufgefordert … mit der Drohung der Meldung des Vorfalls bei der Lagerleitung. Er soll ihm dabei erklärt haben, seine Handlungsweise sei eine niederträchtige Verächtlichmachung des großen sozialen Führers und Lehrers aller Völker."

Bundesdisziplinarhof übt sich in Aussagepsychologie

In der sich sieben Tage hinziehenden Berufungsverhandlung lösten sich dieser und andere Vorwürfe jedoch weitgehend auf. Im Fall des zum Wäschetrocknen benutzten Stalin-Bildes konnte sich der Zeuge in der Befragung durch das Gericht nur noch erinnern, dass Brookmann ihn in "scharfem Tone" zur Entfernung der Textilien aufgefordert hatte.

Den Vorwurf, ein Antifaschist zu sein, stützte das nach Auffassung der Richter nicht. Denn einerseits war die "Empfindlichkeit des Russen" zu beachten, sollten die deutschen Offiziere im Lager der Schändung einer Stalin-Ikone tatenlos zusehen. Andererseits sei nicht auszuschließen, dass Brookmann das Wort vom "großen sozialen Führer und Lehrer" in "ironischem Sinne" gebraucht hatte.

Das Urteil des Bundesdisziplinarhofs vom 2. Juni 1959 (Az. WD 18/58) dokumentiert weitere, ähnliche Vorwürfe, die sich als Mischung aus Gerücht, vager Erinnerung und möglicher Zuschreibung fremder Handlungen darstellten: Mal habe Brookmann einen Soldaten, der die Baracke mit deutschen Landschaftsmotiven ausmalte, dazu angewiesen, auch russische Motive zu pinseln. Mal habe er Moskau als „das Mekka für alle Unterdrückten und Ausgebeuteten der kapitalistischen Welt“ bezeichnet. All das überzeugte die Richter nicht von üblen, antifaschistischen Anwandlungen.

Charakterbilder der jungen Bundesrepublik

Ein Schlaglicht auf den Zeitgeist des Jahres 1959 gibt folgender Vorgang: Als die Lagerleitung einmal die Nachricht bekanntgab, es seien Massengräber von Opfern des deutschen Terrors in der Sowjetunion aufgefunden worden, habe Brookmann geäußert: "Dies ist eine Schweinerei, ich schäme mich, jemals deutscher Soldat gewesen zu sein."

Im Urteil heißt es zu diesem für einen Bundeswehrsoldaten des Jahres 1959 potenziell ungebührlichen Gefühlsausbruch: "Der Beschuldigte hat hierzu erklärt, eine derartige Äußerung entspreche nicht seinem Charakter; der Senat hält daher den Vorfall in dem geschilderten Ablauf für unwahrscheinlich. Im Übrigen muß man bei der Bewertung von Äußerungen dieser Art sich des Entsetzens bewußt bleiben, das die Entdeckung der Untaten der totalitären NS-Herrschaft damals allgemein hervorrief."

Insgesamt sah das Gericht in dem Bundeswehroffizier "eine Persönlichkeit, die in jeder Lage zu aktivem Einschreiten im Sinne einer Ordnung der bestehenden Verhältnisse neigt. In dieser Richtung liegt auch seine durch Polizeidienst und Reitsport entwickelte Begabung, die ihn sowohl zu rascher Anpassung wie zur Menschenführung befähigte."

Ein schöneres Wort aus Richtermund für ordnungsliebende Charaktere lässt sich kaum ausdenken. Wenig überraschend: Der Offizier blieb der Bundeswehr erhalten.

Zitiervorschlag

Bundeswehr: . In: Legal Tribune Online, 02.06.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35705 (abgerufen am: 25.11.2024 )

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