Mit Urteil vom 27. Oktober 1959 beschnitt der BGH die bayerische Eigenstaatlichkeit auf einem empfindlichen Feld: Die Karlsruher Richter machten die Hoffnung zunichte, den Import bierähnlicher Getränke unterbinden zu dürfen.
Der schottische Schriftsteller John Strang (1795–1863) zählte es 1831 zu den auffälligsten Merkmalen Münchens, dass in jeder Straße Bierstuben zu finden seien, und fand, kein Mensch auf der Welt – nicht einmal die Kohlenschlepper von London – trinke so viel Bier wie ein Bayer: "Mir wurde glaubwürdig mitgeteilt, dass die Mehrheit der Münchner Handwerker selten mit weniger als zehn oder zwölf Krügen täglich zufrieden ist."
Während aus dem Urteil des Schotten so etwas wie professionelle Bewunderung sprach – sein Vater war als Weinhändler reich geworden und Strang befasste sich journalistisch gern mit Amüsierbetrieben – fand sich 150 Jahre später in der renommierten Kulturzeitschrift "Merkur" folgende doppelzüngige Würdigung der bayerischen Bierkultur:
"Ohne Sinn und Verstand zu trinken, ist nicht nach des Bayern Geschmack. Am Karfreitag, an Allerseelen und bei persönlichen Trauerfällen zieht er dunkles Bier vor. Der Nachwuchs wird behutsam an überkommene Trinksitten herangeführt." – Boshaft schrieb der Münchener Amerikanistik-Professor Gert Raeithel (1940–) unter seinem Pseudonym R.W.B. McCormack weiter, es sei unter bayerischen Erziehungsberechtigten eine verbreitete Meinung, dass "ein anständiger Schluck Bier besser und billiger" für Kinder sei "als ein perverser Babysitter".
Bayerischer Sonderweg im System des Biersteuerrechts
So schwer es angesichts der hohen Zahl alkoholkranker Menschen in Deutschland fällt, den launig-satirischen Beobachtungen Raeithels zur spezifisch bayerischen Vernetzung von Politik, Bier und Kultur etwas abzugewinnen: Der 1959 gescheiterte Versuch der Münchener Ethanol-Lobby, in den Grenzen des Freistaates ein absolutes Vertriebsverbot für "außerbayerisches Süßbier" zu bewirken, hat durchaus einen Zug ins Komische.
Worum ging es? – Die Antwort darauf muss stark vereinfacht ausfallen, denn das bayerisch-deutsche Bierrecht ist eng mit dem Steuerrecht verbunden. Um es also in groben Zügen darzustellen: Durch "Gesetz über den Eintritt der Freistaaten Bayern und Baden in die Biersteuergemeinschaft" vom 24. Juni 1919 hatte die verfassunggebende Nationalversammlung der Weimarer Republik einen Gutteil der bayerischen, badischen (und auch sächsischen) Eigenstaatlichkeit auf dem Gebiet des Bierrechts beendet.
Das war aus Sicht der Zeitgenossen ein wichtiger Schritt. Denn Verbrauchssteuern auf Trinkalkoholprodukte hatten vor dem Ersten Weltkrieg nicht nur in Russland einen erheblichen Beitrag zu den Staatseinnahmen geleistet. Im Gegenzug zu dieser finanzverfassungsrechtlichen Entmachtung Bayerns sowie als Ausnahme von einer (nach-) kriegswirtschaftlichen Liberalisierung des Bierrechtes – zeitweise war Mais zur Herstellung zugelassen worden – erlaubte der Reichsgesetzgeber durch ein etwas unsauber formuliertes Gesetz vom 9. Juli 1922 unter anderem den bayerischen Behörden, eigene Regeln zu den bei der Bierproduktion zugelassenen Stoffen zu treffen.
Von dieser Ermächtigung machte der Freistaat durch eine "Bekanntmachung" vom 29. Juni 1924 Gebrauch, in der er die – im Reichs- und später im Bundesgebiet zulässige – Verwendung von Zucker, Zuckerfarbstoffen und Süßstoffen in der Herstellung von obergärigem Bier untersagte und auch keine Ausnahmen für Exportbiere zuließ. Für untergäriges Bier – die Unterscheidung beruht insbesondere auf dem Verhalten der Hefe im Brauprozess – galt dieses Verbot, etwas anderes als Gerstenmalz, Hopfen, Hefe und Wasser zu verwenden, ohnehin grundsätzlich reichs-, später dann bundesweit.
Abwehrkampf gegen das Malzbier, das kein Bier sein darf
Die deutsche Drogengeschichte der 1950er Jahre, obwohl sicher kaum weniger spannend als die großen amerikanischen Suchtmittel-Sagas "The Wire" oder "Boardwalk Empire", ist leider noch nicht verfilmt worden. Man darf sich etwa eine Gesellschaft vorstellen, in der Männer in den Kampf ums Wirtschaftswunder eintraten, die wenige Jahre zuvor im Luft- und Panzerkrieg umfassend mit Amphetaminen versorgt worden waren.
Im Stress der Wiederaufbaujahre recht leicht zur Hand waren die neuartigen Barbiturate. Nicht umsonst zählt das seinerzeit fast flächendeckend als Beruhigungsmittel genutzte Valium zu den bekanntesten Arzneimittelnamen überhaupt. Alkohol jedoch drohte nun, als weniger moderne Möglichkeit wahrgenommen zu werden, sich das eigene Gehirn in Sülze zu legen.
Unternehmen des klassischen Drogenhandels machten sich entsprechend Sorgen um ihre Marktanteile, die sie – anders als etwa in "The Wire" – nicht in blutigen Gang-Fehden, sondern vor Gericht austragen durften.
Die Berliner Brauereiwirtschaft witterte vor diesem Hintergrund Morgenluft, als ihr der Bundesfinanzhof durch Gutachten vom 23. Februar 1955 attestierte, dass die 1919 bis 1924 etablierte und vom 1952 neu gefassten Biersteuergesetz nicht berührte bayerische Sonderregelung zum Zuckerverbot bei obergärigem Bier nur die Herstellung von Bieren im Freistaat betreffe, nicht aber den Ausschank oder den anderweitigen Vertrieb von gezuckerten bzw. gesüßten obergärigen Bieren in Bayern (Az. V z D 4/54 S).
Das Bayerische Oberste Landesgericht (BayObLG) – diese zeitlose Zierde regionaler Eigenstaatlichkeit – schloss jedoch aus dem reichs- und bundesrechtlich zugelassenen Verbot, in Bayern gezuckerte bzw. gesüßte obergärige Biere herzustellen, auch ein Vertriebsverbot – ungeachtet der Frage, ob das "außerbayerische" Getränk als "Bier" oder – wie in einem Fall, über den der Bundesgerichtshof (BGH) mit Urteil vom 7. Januar 1959 entschied – ausdrücklich als "Malz-Nährtrunk mit Milchzucker und Traubenzucker, alkoholarm" in den Freistaat eingeführt worden war (Az. 2 StR 434/58).
Hatte der BGH mit diesem Urteil des 2. Strafsenats dem bayerischen Drogenhandel – Fachabteilung Ethanol – bereits die Flügel gestutzt, indem er ein allgemeines "Malztrunk"-Vertriebsverbot in Bayern verneinte, bestätigte dies auch sein I. Zivilsenat mit Urteil vom 27. Oktober 1959 (Az. I ZR 94/58). Im Leitsatz heißt es: "Ein aus Gerstenmalz, Hopfen, Hefe und Wasser unter Verwendung von Zucker außerhalb Bayerns zulässigerweise hergestelltes obergäriges Getränk (sogenanntes Süßbier) darf in Bayern vertrieben werden, sofern dies nicht unter der Bezeichnung Bier oder unter auf Bier hindeutenden Bezeichnungen oder bildlichen Darstellungen geschieht und ausreichende Kenntlichmachung der in Bayern infolge des Zuckerzusatzes gegebenen Verfälschung erfolgt."
Innerbayerischer Konflikt kam doch nach Karlsruhe
Bei aller Abneigung, mit den Rechten der ethanolbasierten Drogenindustrie oder gar mit ihren Opfern Scherze zu treiben – in dem Urteil vom 27. Oktober 1959 scheint doch etwas von der Komik durch, die vom aufgespreizten freistaatlichen Eigenleben ausgeht:
Mit Blick auf die sich spätestens seit 1955 abzeichnende Liberalisierung des (gesamtwest-) deutschen Marktes für die unter Zuckereinsatz hergestellten Brau-Waren wurde offenbar versucht, zumindest ein Stück des innerbayerischen Sondermarktes zu retten.
So hatte in dieser heute vor 60 Jahren entschiedenen Sache der Lobbyverband der bayerischen Brauerei-Industrie aus eigenen und abgetretenen Rechten gegen einen in München ansässigen Bierverleger, also einen Getränkegroßhändler, geklagt, weil dieser mit dem Vertrieb des "außerbayerischen" Süßbiers Schutzgesetze verletze – § 823 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) in Verbindung mit den seit 1919 normierten Bier-Reservatsrechten Bayerns – bzw. weil er in den Gewerbebetrieb eines nach bayerischen Regeln produzierenden Malztrunkherstellers eingreife.
Das Landgericht München I hatte noch antragsgemäß festgestellt, dass für Bayern ein absolutes Vertriebsverbot für diese außerbayerischen Getränke bestehe. Gänzlich abwegig war das natürlich nicht. Denn bereits das Reichsgericht hatte in einem Urteil vom 24. Februar 1891 (RGSt. 21, 346–354) zur Herstellung von "Met" mit dem Grundproblem des Bierrechtes zu kämpfen: Einerseits sollte biersteuer- und lebensmittelrechtlich grundsätzlich nur als "Bier" gelten, was mit den zugelassenen Zutaten gebraut worden war, andererseits ließ sich stets aus allen erdenklichen Zutaten immer auch etwas herstellen, was dem Resultat "Bier" in Aussehen oder Geschmack mehr oder weniger nah kam.
Die bayerische Brauerei-Lobby erhoffte sich augenscheinlich eine Bestätigung der landgerichtlichen Entscheidung durch das BayObLG mit Blick auf die solchen Getränken innewohnende generelle Verwechslungsgefahr.
Obwohl sich der Münchener Bierverleger bereits dazu verpflichtet hatte, jede Gefahr zu vermeiden, dass der Endkunde den von ihm vertriebenen Malztrunk mit Bier verwechseln könnte, strebte der Lobby-Verband die rasche Bestätigung des LG-Urteils an und stimmte der Sprungrevision zum höchsten ordentlichen Gericht Bayerns zu. Denn inzwischen mochte sich auch unter diesen traditionell brauenden Drogenproduzenten die Einsicht verbreitet haben, dass im westdeutschen Valium-Wirtschaftswunderland ein explizit als "alkoholarm" ausgezeichneter "Malztrunk" eine ganz andere Gefahr für ihre Marktanteile darstellte, als sie von zwar gezuckerten, aber doch immer noch alkoholstarken "außerbayerischen" Bieren ausgegangen war.
Anders als erwartet erhielten die Parteien im Kampf um das Vertriebsverbot für außerbayerische Trünke das Urteil jedoch nicht vom höchsten ordentlichen Gericht ihres Freistaates. Das mochte nämlich kein Landesrecht als grundlegend sehen und gab die Sache nach § 7 Abs. 2 (a.F.) Einführungsgesetz zur Zivilprozessordnung (EG ZPO) an den BGH ab.
Der BGH konnte daher mit seinem Urteil vom 27. Oktober 1959 klarstellen, dass der Vertrieb von umgangssprachlich "Malzbier" genannten Produkten an den bayerischen Landesgrenzen nicht Halt zu machen brauchte.
Nachtrag: Artikel zu Suizidthemen verweisen aus guten Gründen auf Hilfsmöglichkeiten. Hinweise zum Ethanol-Problem finden Sie hier.
Martin Rath, Bayerische Bierkultur vor Gericht: . In: Legal Tribune Online, 27.10.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/38395 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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