Sich den Staat als Körper vorzustellen, hat eine ehrwürdige Tradition seit der Antike. Ob der Finanzminister Griechenlands, sobald er an Deutschland denkt, unter einer ungesteuerten Erektion des Mittelfingers leidet oder dazu erst von einem deutschen TV-Clown animiert werden muss, lädt auch zu einer rechtshistorischen und rechtspolitischen Betrachtung ein.
Reckt ein Staatsorgan den Mittelfinger, deutet dieser Vorgang darauf hin, dass es seiner Zeit voraus ist. Für den römischen Kaiser Caligula ist der überraschende Befund leicht zu zeigen. Bekanntlich zeichnete sich dieser Imperator durch verfassungspolitische Innovationsfreude aus, als er sein Lieblingspferd Incitatus zum Mitglied des Senats berufen wollte. Damit war er seiner Zeit weit voraus, denn entsprechende verfassungsrechtliche Vorschläge der heutigen Tierrechtsbewegung lassen noch auf sich warten.
Der Würzburger Altphilologe Karl Sittl (1862-1899) gab in seinem Werk "Die Gebärden der Griechen und Römer" (Leipzig 1890) einen weiteren Beleg für die Innovationskraft des bereits im Jahr 42 nach Christus verblichenen Staatsmanns: Seinen hochrangigen Untertanen bot Kaiser Caligula die Hand nicht nur zum Handkuss, er verlangte von ihnen, ihm den Mittelfinger zu küssen (Sittl, S. 102).
Katholiken rotteten Mittelfingererei aus
Sittl erklärte in seiner umfangreichen Studie zu den Gesten der alten Griechen und Römer auch, warum das Zeigen des Mittelfingers auf einer langen Strecke zwischen Kaiser Caligula und Kanzlerkandidat Steinbrück aus der Mode gekommen ist: "Während auf lateinischem Gebiete", also in der Einflusssphäre der katholischen Kultur, "diese Gebärde durch die Kirchenzucht ausgerottet wurde, erhält sie sich bei den Griechen […]", also im Raum der orthodoxen Ostkirchen.
Es ist dem US-amerikanischen Straf- und Verfassungsrechtler Ira P. Robbins zu danken, dass er eine rechtshistorisch fundierte Studie zu den straf- und verfassungsrechtlichen Dimensionen des Mittelfingerzeigens vorgelegt hat – zu finden an einem Rückzugsort alteuropäischer Gelehrsamkeit, in der University of California Davis Law Review: "Digitus Impudicus: The Middle Finger and the Law" (2008).
US-Amerikaner popularisieren Digitus Impudicus
So wenig die Bemühungen Caligulas, den gestreckten Mittelfinger ins römische Hofzeremoniell einzuführen, von Erfolg gekrönt waren, so populär blieb die Geste bis zur Christianisierung. Sie galt als derart integraler Teil der antiken Beleidigungskultur, dass sie durch den Philologenbegriff "digitus impudicus" geadelt wurde.
Seine Renaissance in der angloamerikanischen Kultur könnte der "digitus impudicus" durch die Schlacht von Agincourt erlebt haben, als im Jahr 1415 britische Langbogenschützen die französische Kavallerie mittels Distanzwaffe dezimierten: Die Franzosen sollen den Mittelfinger als Ankündigung gereckt haben, ihn den Bogenschützen amputieren zu wollen, um diese arbeitsunfähig zu machen.
Umgekehrt wird die englische V-Geste aus Zeige- und Mittelfinger als Ausdruck fortbestehender britischer Kampftüchtigkeit zurückgeführt. Da allerdings das V als Symbol für "Victory" erst 1941 vom belgischen Rechtsanwalt und Politiker Victor de Laveleye (1894-1945) etabliert wurde, wie britische Zoologe Desmond Morris in seinem Werk über "Bodytalk. Körpersprache, Gesten und Gebärden" notiert, bewegt man sich hier wohl auf digutushistorisch dünnem Eis.
Trotz Photoshop & Co. - auf sicherem Grund bewegt sich die Mittelfinger-Geschichte erst wieder durch den fotografischen Beleg, den US-Rechtswissenschaftler Robbins für das erste Auftauchen auf amerikanischem Boden liefert: Ein Baseball-Team ließ sich bereits 1886 derart ablichten.
Die USA übernahmen es dann auch, neben der Pizza den Digitus Impudicus als mediterranes Kulturgut weltweit zu verbreiten: Als beispielsweise nordkoreanische Streitkräfte 1968 ein kleines US-Schiff aufgebracht und die Seeleute über ein Jahr lang mit ortsüblichen Methoden zu Geständnissen nordkoreanischer Machart motiviert hatten, zeigten die Matrosen den Mittelfinger, während ein Fotograf des Regimes ein Bild von ihnen aufnahm. Mit der Auskunft, es handle sich um ein "hawaiianisches Glückssymbol", machten sie dem Fotografen weis, das gewünschte Bild vom glücklichen Aufenthalt der Seeleute in Nordkorea im Kasten zu haben.
Geschichte des Beleidigungsrechts: . In: Legal Tribune Online, 29.03.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15087 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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