Gregor Gysi in "Zeugen der Verteidigung": "Straf­ver­tei­di­gung ist Beruf und Beru­fung"

01.05.2022

In "Zeugen der Verteidigung" erzählen 25 Anwälte über ihr Wirken und damit über die Entwicklung der Strafverteidigung der letzten 40 Jahre. Die Erfahrungen von Gregor Gysi als Anwalt in zwei politischen Systemen veröffentlicht LTO vorab.

Wie keine anderen Gerichtsverfahren spiegeln Strafrechtsprozesse gesellschaftliche Konfliktfelder wider. Sei es die Verfolgung von Kommunisten in Nachkriegsdeutschland, seien es die RAF-Prozesse oder die großen Korruptionsverfahren. Aber auch Einzelverfahren wie der Kachelmann-Prozess verraten viel über den gesellschaftlichen Zustand, über die Logik der Medien und das Problem der Vorverurteilung.


Foto: Wolters Kluwer DeutschlandIn "Zeugen der Verteidigung" kommen 25 Anwaltspersönlichkeiten zu Wort, die dabei waren und die letzten 40 Jahre Strafrechtsgeschichte in Deutschland mitgeprägt haben; etwa Heinrich Hannover, Christian Ströbele, Otto Schily, Gerhard Strate, Imme Roxin, Eberhard Kempf, Edith Lunnebach und Johann Schwenn. Sie erzählen über ihre persönliche Motivation, die Professionalisierung der Strafverteidigung, ihre wichtigsten Fälle, über gerichtliche Erfolge und schmerzhafte Niederlagen.
  
Unter ihnen auch der Politiker Gregor Gysi. Er ist seit 1971 Rechtsanwalt in Berlin. Warum er Anwalt geworden ist, welche Erfahrungen er als einer von nur 600 DDR-Anwälten gemacht hat und welche Fehler von Mandanten
er entschuldigt, erzählt er in "Zeugen der Verteidigung". LTO veröffentlicht seine Schilderungen in einer gekürzten Fassung vorab. "Zeugen der Verteidigung" wird herausgegeben von Prof. Dr. Matthias Jahn und Prof. Dr. Michael Tsambikakis. Es erscheint am 2. Mai anlässlich des 40jährigen Jubiläums der Zeitschrift "Der Strafverteidiger". Herausgegeben wird es von Wolters Kluwer Deutschland, zu dem auch LTO gehört.
  
Wie sind Sie zur Strafverteidigung gekommen?  

Gregor Gysi: In der DDR war es zur Vorbereitung auf die Jugendweihe üblich, eine Gerichtsverhandlung zu besuchen. So erlebte ich als 14-Jähriger eine Verhandlung gegen einen Mann, der schon vorbestraft war und einen älteren Mann zusammengeschlagen und ihm das Geld und die Uhr geraubt hatte. Er bekam auch wegen der Vorstrafen eine hohe Freiheitsstrafe: sechs Jahre. Er hatte keinen Verteidiger, was es heute bei einer solchen Strafe in Deutschland nicht gäbe. Und ich habe über diesen Mann viel zu wenig erfahren. Mich interessierte, wie er aufgewachsen war, wann er auf welche Abwege kam und vor allem warum. Da blieb in mir haften, dass ein Verteidiger wichtig ist.  

Foto: picture alliance/dpa | Kay NietfeldGibt es einen Kollegen oder eine Kollegin, der oder die Sie geprägt hat?  

Zunächst gab es einen Kollegen, der indirekt dafür gesorgt hat, dass ich Jura studierte. Nachdem ich mein Abitur mit 18 Jahren absolviert hatte, wusste ich nicht, was ich studieren sollte. Ich traf die Mutter einer Mitschülerin von mir, deren Ehemann Rechtsanwalt Friedrich Wolff war. Sie riet mir, Jura zu studieren. Ich sagte ihr: "Um Gottes Willen, da muss ich ja alle Gesetze auswendig lernen". Sie erwiderte, dass ihr Mann ihr immer sage, dass dies nicht nötig sei, man müsse nur wissen, wo es steht. Außerdem sagte sie dann, ihr Mann hätte auch erklärt, dass Jura ein Studium für "Doofe" sei. Das überzeugte mich mit 18 Jahren. Ich hatte nicht die Absicht, mich übermäßig anstrengen zu müssen. Es stimmte auch ein bisschen. Heute ist das Studium ziemlich schwer und ich staune gelegentlich, wer es alles schafft.  

Hat sich das Berufsfeld der Strafverteidigung seit Ihren Anfängen verändert?  

Die Strafverteidigung hat sich gewaltig verändert, weil sie in der DDR völlig anders lief als heute in der Bundesrepublik Deutschland. Natürlich gab es auch Gemeinsamkeiten, aber eben auch Unterschiede. 1971 wurde ich Rechtsanwalt in Berlin und im Laufe der Jahre hat sich die DDR verrechtlicht. Man hatte bei der allgemeinen Kriminalität dann auch Erfolge.

Extrem schwierig waren die politischen Fälle. Wenn es dabei noch um populäre Mandanten ging, konnte letztlich nur über das Zentralkomitee (ZK) der SED eine Abhilfe erreicht werden. Es gab aber auch positive Erscheinungen. Diebstahl, Betrug und Sachbeschädigung mit einem Schaden bis zu 50 Mark der DDR waren keine Straftaten. Sie wurden mit einer polizeilichen Strafverfügung verfolgt. Und nur, wenn es dagegen ein Rechtsmittel gab, wurde die Justiz zuständig. Ich finde es grotesk, dass sich die Justiz heute fast mit jeder Schwarzfahrt beschäftigen muss.  

Eine andere Regelung könnte die Justiz erheblich entlasten. Leichter war es in der DDR, Beweisanträge zu stellen. Man konnte zum Ausdruck bringen, dass man hofft oder davon ausgeht, dass der Zeuge dieses oder jenes bestätigen kann. Heute muss man immer so tun, als ob man genau weiß, was der Zeuge sagen wird. Und dann gab es noch einen gravierenden Unterschied. Wenn kein Geständnis des Angeklagten vorlag, war das Oberste Gericht in der Beweisführung viel genauer als dies gegenwärtig der Fall ist. Eine richterliche Überzeugung durfte niemals statt eines Beweises eingesetzt werden.  

Ich habe mich natürlich gefragt, wie das kommt. Es lässt sich sehr einfach erklären. Auch in der DDR hatte der Beschuldigte, der Angeschuldigte und der Angeklagte nur ein Recht auf Anhörung, keine Pflicht zur Aussage. Es gab aber nicht die Pflicht, ihn darüber zu belehren. Die gesamten Strukturen in der DDR waren so, dass es fast alle als selbstverständlich empfunden haben, sofort – in der Regel auch ohne Verteidiger – auszusagen. Das Ergebnis bestand darin, dass in weit über neunzig Prozent der Fälle ein Geständnis vorlag. Und wenn nur wenige Fälle ohne Geständnis übrigbleiben, kann man akribisch sein, so wie das Oberste Gericht. Wenn aber in einer riesigen Anzahl von Fällen keine Aussagen getätigt werden, keine Geständnisse vorliegen, ist man gezwungen, die Beweiswürdigung anders vorzunehmen.  

Gysi 2001 als Verteidiger in einem Mordprozess. Foto: picture-alliance/ZB Patrick PleulLetztlich will ich noch auf einen interessanten Unterschied hinweisen. Es gab in der DDR so gut wie nie einen Deal zwischen Richter, Staatsanwalt und Verteidigung. Ich erlebte nur eine einzige Ausnahme, wo ich die Staatsanwältin überzeugen konnte, ihr Rechtsmittel zurückzunehmen, wenn ich es auch zurücknehme. Heute begegne ich aber häufig den Vorstellungen eines Deals, insbesondere dann, wenn es um umfangreiche Betrugshandlungen, Diebstahlshandlungen, Steuerverkürzungen geht. Für den Fall eines Geständnisses gibt es ein Strafangebot. Der Verteidiger ist regelmäßig in einer schwierigen Situation. Soll er seinen Mandanten eine ewige Verhandlung zumuten, die mit einer Verurteilung enden wird oder lieber einen solchen Deal eingehen? Ich halte das auf jeden Fall für problematisch.

Letztlich muss ich darauf hinweisen, dass die DDR Gesetze nicht gut formulierte. Da ist die Bundesrepublik Deutschland viel genauer. Zum Beispiel stand unter Strafe, wenn man zu Personen, Organisationen oder Einrichtungen, die einen Kampf gegen die öffentliche Ordnung und Sicherheit der DDR führten, in Kenntnis dessen Kontakt aufnahm. Es war nicht erforderlich, dass man sie unterstützen wollte, es genügte also die Kontaktaufnahme. Ich habe dann dem Vernehmer der Staatssicherheit nachgewiesen, dass er ja davon ausginge, dass mein Mandant einen Kampf gegen die öffentliche Ordnung und Sicherheit der DDR führe und er zu ihm schon Kontakt aufgenommen habe, also gerade diese Straftat beging. (…) Man kann sich sein Entsetzen vorstellen.

Die Verteidigung in einem Strafverfahren ist sowohl Ausdruck eines Berufs als auch einer Berufung. Man muss zunächst akzeptieren, dass jeder Mensch ein Recht auf Verteidigung hat. Es gilt auch für einen Massenmörder, für jemanden, der vergewaltigt, der Kinder sexuell missbraucht. Man muss in der Lage sein, im Unterschied zur übrigen Gesellschaft, nicht nur die allgemeine Verurteilung, sondern den einzelnen Täter zu sehen. Verteidigung beginnt damit, dass man versucht zu verstehen, weshalb jemand eine Handlung, die man selbst abscheulich findet, begangen hat. Dadurch ändert sich die Sicht eines Verteidigers auf diese Person und nur die veränderte Sicht ermöglicht ihm die Verteidigung.  

Ihre größte Stunde im Gerichtssaal?  

Die hatte ich vielleicht bei der Vertretung der Nebenkläger in einem Strafverfahren. Der Staatsanwalt hatte Mord angeklagt und ihn nicht als erwiesen angesehen. Er beantragte wegen anderer Delikte eine Strafe von etwas über acht Jahren. Die Verteidigung ging von Fahrlässigkeit mit einer Höchststrafe von fünf Jahren aus. Ich meinte aber, dass bedingt vorsätzlicher Mord vorläge. Das Gericht folgte meiner Sicht, letztlich auch vom Bundesgerichtshof bestätigt.  

Und Ihr schwärzester Moment im Gerichtssaal?  

Der schwärzeste Moment war, als Rudolf Bahro für ein Buch, das die DDR hätte aushalten können müssen, acht Jahre Freiheitsstrafe bekam. Er wurde zwar vorzeitig entlassen, aber die Stunde war schlimm.  

Gysi 2016. Foto: picture alliance / Bernd WüstneckDer wichtigste Moment in Ihrem beruflichen Leben?  
Ich habe ja mehrere Berufe. Als Politiker waren es einige Reden im Bundestag. Als Rechtsanwalt war ich einem besonders schlimmen Straftäter beigeordnet worden, weil es in der Gegend keinen Anwalt gab, der bereit war, ihn zu verteidigen. Er war aber vermindert zurechnungsfähig. Es wurde an zwei Tagen verhandelt. Die Angehörigen der Opfer waren im Saal und lehnten mich ab, bevor ich einen einzigen Satz gesagt hatte. Um Mitternacht saß ich in meinem Hotelzimmer und wusste nicht, was ich in meinem Plädoyer am nächsten Tag sagen sollte. Und plötzlich fiel mir etwas ein.

Der Generalsekretär des ZK der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wären sich gegen meinen Mandanten völlig einig, wenn sie von ihm wüssten. Selbst wenn sie sich sonst in keinem Punkt verstünden. Und da habe ich begriffen, dass ich eine andere Aufgabe habe. Dass ich mich jetzt mit diesem Mann beschäftigen muss, mit seiner Entwicklung, seinem Seelenleben und auch mit dem schlechten Verhältnis zwischen Gerichtspsychiatrie und Justiz. Manchmal habe ich den Eindruck, dass jemand nur deshalb noch als schuldfähig angesehen wird, weil die Medizin keine Therapie hat. Dann überlässt sie die Frau oder den Mann lieber der Justiz, obwohl eigentlich die Medizin zuständig wäre. 

Unterscheidet sich die Rhetorik des Anwalts und der Anwältin von politischer Rhetorik?  

Deutlich unterscheiden sich die Reden. In der Politik muss man vor allem allgemeinverständlich sprechen. In der Justiz muss man – zumindest des Öfteren – professionell sprechen.  

Aus welchen Gründen haben Sie Mandate abgelehnt?  

In der DDR konnte man in aller Regel keine Mandate ablehnen, weil es nur 600 Rechtsanwälte im gesamten Land gab. Etwa die Hälfte von ihnen machte auch Strafsachen. Da jede und jeder das Recht auf Verteidigung hatte, gab es nur wenig Ablehnungsgründe. Heute haben wir eine Schwemme von Rechts- anwälten und es gibt auch viele Spezialisierungen. Das aber bedeutet, dass ich Rechtsextreme, einen Mann, der Kinder sexuell missbraucht oder Frauen vergewaltigt, nicht verteidigen würde. Absagen erfolgen bei mir aber zumeist deshalb, weil ich es zusammen mit meinem Beruf als Politiker beim besten Willen nicht schaffte.  

Welchen Fehler bei Mandanten und Mandantinnen entschuldigen Sie am ehesten?  

Wenn jemand fälschlicherweise leugnet, die Tat begangen zu haben, bin ich dankbar, wenn er es auch mir gegenüber leugnet.  

 
 "Zeugen der Verteidigung" erscheint am 02. Mai 2022 bei Wolters Kluwer Deutschland, zu dem auch LTO gehört, unter der Verlagsmarke Carl Heymanns zu einem Preis von 79,- Euro (ISBN 978-3-452-29888-1)

 

fz/LTO-Redaktion 

Zitiervorschlag

Gregor Gysi in "Zeugen der Verteidigung": . In: Legal Tribune Online, 01.05.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48304 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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