Mehr oder weniger rule of law?
Das vierte Paradigma ist die geopolitische Betrachtungsweise. Sie besagt, dass unsere Zukunft nicht durch technologische oder verhaltensökonomische Aspekte, sondern durch gewisse Makrotrends geprägt wird. Die Welt hat in den letzten dreißig Jahren einen einzigartigen Globalisierungsschub erlebt. Bei geopolitischer Betrachtungsweise ist dies der wahre Grund dafür, dass das rechtliche Umfeld so viel komplizierter wurde und es so viel mehr Arbeit für Juristen gibt.
Von hier an teilt sich das Paradigma jedoch in zwei Unterkategorien: Die eine, optimistische, sagt, dass die Welt zurzeit eine Pause von der Globalisierung einlege, diese aber bald wieder mit voller Kraft zurückkommen werde. Dies bedeute dann noch mehr rechtliche Probleme, noch mehr komplizierte Transaktionen, noch mehr Bedarf an Juristen und noch größere und globalere Anwaltsfirmen.
Im Kontrast dazu geht eine andere Theorie davon aus, dass die eigentliche Globalisierung am Ende sei, die Welt zunehmend in regionale Blöcke zerfalle, die Barrieren für Handel und Kapitalfluss wieder höher würden, und die ganze Welt mehr und mehr von fragilen Staaten und Terrorismus beherrscht werde. In dieser Welt neige sich das Zeitalter der „rule of law“ und des wohlgeordneten Nationalstaates zunehmend dem Ende zu. In einer solchen Welt brauche es keine Juristen mehr, weil es kein Recht mehr gibt.
Juristen als Manager des Risikos Recht
Eng damit verwandt ist das ökonomische Paradigma einer rein betriebswirtschaftlichen Betrachtung. In der neuen Weltordnung wird es für Unternehmen zunehmend schwierig, Wachstum zuzulegen und gute Margen zu erzielen. Die Konkurrenz wächst durch den Eintritt neuer Mitbewerber aus Ländern wie China oder Indien, und deshalb stagniert die Realwirtschaft.
Zugleich geraten insbesondere große, globale Unternehmen zunehmend unter regulatorischen Druck, werden häufiger auf Zahlung horrender Summen verklagt und müssen hohe Bußgelder an Aufsichts- und Strafverfolgungsbehörden zahlen.
In dieser Welt wandelt sich das Recht. Es wird vom Ordnungsrahmen zu einem reinen Risikofaktor, der möglichst effizient gemanagt werden muss. Unternehmensführer wollen jetzt keine teuren und smarten Juristen mehr; nein, sie wollen einfach möglichst kostengünstige Managementprozesse, die ihnen die rechtlichen Probleme ohne großes Aufheben aus dem Weg räumen. More for less, ist der Schlachtruf dieses Paradigmas.
Nicht länger die Hüter des heiligen Grals
Es gibt mehr als eine Zukunft. Alles hängt davon ab, welche Brille man gerade trägt. Jede dieser Brillen hat ihre Berechtigung, aber keine bringt für sich allein die wirklich klare Sicht. Der Anwaltsberuf hat sich immer entwickelt, und oftmals mehr inkremental als disruptiv.
Wir sehen nun aber in vielen Bereichen einen ungeheuren Durchbruch der Digitalisierung. Es wäre naiv, zu glauben, die Anwälte blieben von dieser Entwicklung verschont.
Auch die sanften Technologien zur psychologischen Beeinflussung unseres Verhaltens werden in unserer multikulturellen Welt wichtiger. Die Globalisierung ist eine Tatsache. Das gilt aber ebenso für die zunehmende Fragmentierung der Welt, geopolitische Brüche und die damit verbundenen Herausforderungen für Unternehmensführer. Die Mandanten können sich keinerlei rechtliche Sentimentalitäten oder Ineffizienzen mehr leisten.
Verknüpft und vernetzt man die fünf Paradigmen, kann man schlussfolgern: In der neuen Welt der Zukunft braucht es wohl immer noch Anwälte. Aber sie werden wohl nicht mehr dieselbe große Rolle spielen wie in den vergangenen dreißig Jahren der rauschenden Globalisierung.
Sie wandeln sich vielmehr vom Gralshüter der rechtlichen Weisheit zu Technokraten, die im Verbund mit anderen Spezialisten wie Technologieexperten, Compliancemanagern, Revisoren, Analysten, Kommunikationsspezialisten, Projektmanagern und Psychologen arbeiten. Diese multidisziplinären Teams, die man in modern geführten Unternehmen bereits in statu nascendi beobachten kann, werden feingewobene und effiziente Prozess steuern, um die Rechtsrisiken zu kontrollieren. Sie ersetzen den klassischen Anwalt, der die Oberhoheit über alle rechtlichen Probleme verloren und eine neue, bescheidenere Rolle als Fachexperte unter vielen gewonnen hat.
Peter Kurer, Autor von Legal and Compliance Risk – A Strategic Response to a Rising Threat for Global Business (Oxford University Press 2015). Er ist Partner der private Equity Firma BLR, Mitglied des Steering Committees von Schönherr sowie Präsident des Telekomunternehmens Sunrise und des Verlages Kein & Aber.
Anwälte heute und morgen: . In: Legal Tribune Online, 03.10.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20739 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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