Wenn BVerfG, EuGH, wissenschaftlicher Dienst des Bundestags und EU-Kommission die Vorratsdatenspeicherung für rechtswidrig hielten, hätte der Rechtsausschuss sie am Mittwoch ja nicht abgenickt. Es muss also irgendwie anders gewesen sein.
Der Film "23", gedreht nach einer wahren Begebenheit, schildert den Weg von Wissbegier zu Wahnsinn im Leben des 19-jährigen Hackers Karl Koch. Getrieben vom Gefühl einer diffusen Bedrohung durch den westdeutschen Staatsapparat, macht er sich an dessen digitale Demontage, und begegnet dabei immer wieder einer Zahl, die ihm als Beleg finsterer Verschwörungen gilt: der 23.
Es würde ihn deshalb wohl kaum erstaunen, dass der Rechtsausschuss des deutschen Bundestags am Mittwoch einem Gesetz sein Plazet erteilt hat, in dem nicht Wenige den Wegbereiter eines Orwellschen Überwachungsstaats erblicken: der Vorratsdatenspeicherung. Ihre Nummer auf der Tagesordnung? Natürlich 23.
Besonnenere Geister können darüber zwar nur schmunzeln. Doch vieles an dem Papier bleibt auch ihnen kaum erklärlich. Denn man stelle sich vor, ein solches Gesetz hätte es schon einmal gegeben, es sei unter Kritik verabschiedet und vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) als "besonders schwerer Eingriff mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt" kassiert worden; es habe im Anschluss der Europäische Gerichtshof (EuGH) auch die Richtlinie, deren Umsetzung es diente, mit mahnenden Worten aufgehoben und dem Versuch eines zweiten Anlaufs so schmalen Raum gelassen, dass in Brüssel seitdem niemand rechte Lust verspürt hat, auf halbem Weg zwischen Symbolpolitik und Rechtswidrigkeit stecken zu bleiben; es habe schließlich derselbe EuGH vergangene Woche ohne Rücksicht auf diplomatische Erwägungen ein Abkommen über den Datenaustausch mit den USA zerschlagen, weil es gegen den Wesensgehalt des Rechts auf Achtung des Privatlebens verstoße.
So kann es nicht gewesen sein
Wenn also die Hüter der deutschen und der europäischen Grundrechte recht deutlich klar gemacht hätten, dass sie diese Datensammlung nur unter sehr engen Bedingungen zu dulden bereit sind; wenn dann die Bundesregierung unter anderem von der Europäischen Kommission und dem Wissenschaftlichen Dienst des Bundestags (hier und hier) darauf hingewiesen worden wäre, dass ihr Versuch einer Neuauflage mit diesen unvereinbar ist, weil er:
- der vom BVerfG geforderten Normenklarheit nicht genügt, indem er die Begriffe "personenbezogene Daten", "verwendbare personenbezogene Daten" sowie "Verkehrsdaten" nicht sauber definiert und abgrenzt und somit besonders im Bereich der Weitergabe, Verwertung und Löschung der einmal erhobenen Daten zu Unklarheiten führt,
- die vom BVerfG grundsätzlich geforderte Benachrichtigung des Betroffenen vor Abruf seiner Daten durch den Entwurf nicht ausreichend gewährleistet,
- der vom EuGH geforderten Begrenzung des von der Datenspeicherung erfassten Personenkreises durch Aussparung lediglich von Behörden, Kirchen und Telefonseelsorgern wohl nicht hinreichend Rechnung trägt,
- ohne Gesetzgebungskompetenz ergeht, soweit er den Strafverfolgungsbehörden der Länder Vorschriften zur Löschung, Protokollierung der Löschung und sonstige Zweckbindung der Daten macht, und der Bundesgesetzgeber, trotz Erkennens dieser Problematik, dazu nicht weiter Stellung bezieht und
- die Dienstleistungsfreiheit verletzt, indem er Kommunikationsanbieter im europäischen Ausland zur Speicherung deutscher Kommunikationsdaten innerhalb von Deutschland verpflichtet, obwohl ein einheitliches europäisches Schutzniveau bereits durch die EU-Datenschutzrichtlinie gewährleistet wird und, sofern dieses nicht ausreicht, zusätzliche Anforderungen von den Anbietern auch im Ausland erfüllt und in Kooperation mit den dortigen Datenschutzbehörden nachgeprüft werden können.
Wenn all dies bekannt gewesen wäre, und Expertengruppen und Rechtsmedien noch Weiteres ergänzt hätten, ja, dann hätten am Mittwoch im Rechtsausschuss des Bundestages engagierte Volksvertreter in großer Zahl zusammengefunden, um die offenen Wunden des Entwurfs zu heilen.
Doch so kann es nicht gewesen sein. Denn der Beschluss des bis auf eine Evaluierungsklausel gegenüber dem Entwurf vom Mai unveränderten Papiers, der die freitägliche Bestätigung im Bundestag vorbereitet hat, wäre fast daran gescheitert, dass nur 17 der 39 Ausschussmitglieder erschienen waren. Mancher ließ sich immerhin herbeitelefonieren, sodass das nötige Quorum noch erreicht wurde. Wie hoch es liegt? Sie ahnen es.
Constantin Baron van Lijnden, VDS-Entwurf passiert Rechtsausschuss: . In: Legal Tribune Online, 14.10.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17207 (abgerufen am: 04.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag