Zeitforscher zum Arbeiten als Anwalt

"Wir haben nicht zu wenig Zeit, son­dern zu viel zu tun"

Interview von Désirée BalthasarLesedauer: 6 Minuten

Für ein Leben unter der Knute der billable hour sei der Mensch nicht gemacht, sagt Zeitforscher Karlheinz Geißler. Zeitmanagement-Programme würden oft mehr Stress erzeugen, als sie beseitigen. Doch es geht auch anders.

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LTO: Anwälte bewegen sich täglich in einem engen zeitlichen Korsett aus Mandantenbesuchen, Gerichtsterminen, Fortbildungen und kanzleiinternen Meetings. Wie kann man mit den vielen Verpflichtungen entspannt umgehen?

Geißler: Insofern die Einzelnen darauf Einfluss nehmen können, hängt es wesentlich davon ab, ob die zeitlichen Erwartungen fest verankert, also verbindlich vorgeschrieben oder ob die Arbeitszeiten frei wählbar sind. Das heißt im ersten Fall, ob zum Beispiel der Vorgesetzte erwartet, dass alle um acht Uhr mit der Arbeit beginnen oder nicht vor 20 Uhr das Büro verlassen. Bei dieser Zeitordnung  müssen alle gleich funktionieren, die Möglichkeiten des Einzelnen über seine Zeit zu entscheiden sind begrenzt.

Im zweiten Fall wählen die Anwälte Beginn und Ende ihrer Arbeitszeit und damit die Festlegung ihrer Termine (in Grenzen) selbst. In Unternehmen käme dies der Gleitzeit gleich. Doch wir haben die Erfahrung gemacht: Die Fähigkeiten, die Gleitzeiten in ihrem Potential zu nutzen, sind bei den Betroffenen relativ schwach ausgeprägt.

LTO: Viele Kanzleien preisen Home-Office als flexible Lösung für individuelle Zeitwünsche. Und Sie sagen nun, die Menschen könnten damit nicht umgehen?

Geißler: In der Arbeitswelt wird Flexibilität als Zeitfreiheit verkauft, das ist sie aber nicht. Flexibilität ist die elastische Organisation der zeitlichen Notwendigkeiten.  Die Menschen haben nicht gelernt, individuell den Tag zu beginnen. Schon in der Schule wird jedes Kind, egal ob Frühaufsteher oder Langschläfer, ob lernfähig oder nicht, um Punkt acht Uhr oder früher in der Schule erwartet. Es ist eine von außen aufgezwungene Gewohnheit, die aber nicht dem individuellen Zeitmuster des Körpers und der Kurve der Leistungsfähigkeit entspricht.

LTO: Wie sähe so ein persönliches Zeitmuster aus?

Geißler: Menschen haben einen eigenen Aktivitäts-Passivitäts Rhythmus. Die einen erreichen schon früh am Tag ihr Produktivitätshoch, die anderen später. Auch auf die Jahreszeiten reagiert der menschliche Körper. Unsere meist in der Landwirtschaft tätigen Vorvorfahren schliefen im Sommer nur fünf Stunden und im Winter dafür zehn. Die Tagesrhythmik und in Grenzen auch die der Jahreszeiten beeinflussen die menschliche Leistungsfähigkeit und sein Wohlbefinden

LTO: Schwer vorstellbar in der heutigen Arbeitswelt, dass jemand im Winter zehn Stunden schläft und erst dann ins Büro geht..

Geißler: Das stimmt leider. Obwohl man seinem eigenen Rhythmus mit individuellen Arbeitszeiten bereits etwas entgegenkommen könnte. Noch vernünftiger wäre es, seine eigenen Termine nach der individuellen Arbeitsfähigkeit, also gemäß der eigenen Leistungskurve, einzuteilen. Leider kennt die kaum jemand, obgleich sie mit etwas Selbstbeobachtung leicht herauszubekommen ist.

LTO: Woraus besteht eine Leistungskurve?

Geißler: Die Chronobiologen sprechen von zwei Produktivitätshochs am Tag, mit individuellen Ausfransungen. Das erste ist etwa zwischen 09:30 und 12 Uhr, das zweite zwischen 15:30 und 18 Uhr. Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft sind in diesen Zeiten hoch. Man kann den eigenen Stresslevel niedrig halten, wenn man die Arbeit dementsprechend organisiert, z.B. wichtige Termine in diese Zeiten legt.  Zwischen 13 und 14 Uhr liegt ein Leistungstief. Hier empfiehlt sich eine Mittagspause die länger ist, als die in Deutschland übliche 30 Minutenpause.

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2/2: LTO: Das dürfte nicht in allen Fällen möglich sein.

Geißler: Nun, das liegt auch daran, dass Pausen in der Arbeitswelt häufig als störende Unterbrechungen betrachtet werden. Pausen aber sind produktiv, keine 'Zeitfresser', wie in der Wirtschaftswelt oft unterstellt wird. Denken Sie nur an die vielen Emails, die Sie sparen, weil Sie am Mittagstisch oder auf dem Flur mit Ihren Kollegen sprechen! Ganz abgesehen von dem Erholungseffekt, der Ihrer Arbeitsfähigkeit zugutekommt.

Ich würde außerdem raten, für Übergangszeiten zwischen Terminen zu sorgen. Sie helfen , wirklich präsent zu sein. Menschen brauchen, wie Autos früher ja auch, "Warmlaufzeiten" und "Abkühlzeiten." In denen man sich mental auf das Kommende vorbereiten , bzw. von diesem wieder verabschieden kann.  Hilfreich sind hierbei Rituale. Ich zum Beispiel bereite mir morgens, nachdem ich in die Zeitung geschaut habe, bevor ich mich zum Schreibtisch begebe, relativ aufwendig einen Espresso. Das ist meine Art Anlauf zur Arbeit

LTO: Könnte man Termindruck nicht einfach mit dem richtigen Zeitmanagement begegnen?

Geißler: Gemanaget wird m.E. zu viel, nicht zu wenig. Das Zeitmanagement führt nicht zu weniger sondern eher zu mehr Stress. Es orientiert sich an der Uhrzeit und nicht an den Zeiten, die der arbeitende Körper benötigt. Wer für den Erfolg und nicht die abgesessene Zeit bezahlt wird, ist gut beraten, nicht auf die Uhr, sondern seine Arbeitsfähigkeit zu achten – und die verläuft rhythmisch und nicht getaktet wie die Uhr.

LTO: Die Anwälte, die nach Stunden abrechnen, können gar nicht anders, als Uhrzeit-orientiert zu arbeiten.

Geißler: Klar, Zeit ist Geld, das hat der Kapitalismus von der Uhr gelernt und dadurch sehr viel Wohlstand erzeugt. Unser Wohlergehen bzw. unsere Zufriedenheit lässt sich aber nicht über die Verrechnung von Zeit in Geld herstellen – und unsere sozialen Beziehungen ebenso wenig. Vertrauen entwickeln,  das wissen Anwälte, ist keine Frage der Uhrzeit

LTO: Was halten Sie von technischer Unterstützung in Form von Apps oder anderen 'Zeitspar'-Programmen?

Geißler: Viele Zeitmanagement-Tipps versprechen Stressreduktion, wenn man nur die richtige Technik nutzt. Doch die meisten technischen Geräte fordern einen entweder zum Handeln oder zum Verzicht auf. Verzicht ist aber mit Verzichtserlebnissen verbunden, die belasten. Oft entlastet die Technik uns nicht, wie versprochen, sondern sorgt für Stress und weiteren Zeitdruck. Schlagendes Beispiel ist der E-Mail Verkehr. Mails produzieren keine Informationsentlastung. Zusätzlich kommt der Zeitdruck hinzu, auf eine Mail schnell reagieren zu müssen. Die Erwartung an eine sofortige Antwort hat sich deutlich erhöht, seitdem jeder ein Smartphone in seiner Tasche trägt. Und wenn ich mich durch die unendlich vielen Funktionen eines Smartphones arbeite, dann kann auch das sehr viel Zeit in Anspruch nehmen.

Die meisten Menschen machen sich Illusionen, sie sehen nur den Entlastungsaspekt, nicht aber den Aufwand, den die Technik von den Nutzern verlangt. Die vielen Freiheiten, die vielen Möglichkeiten, die uns die Technik glücklicherweise liefert haben den Preis, mehr entscheiden und auf immer mehr verzichten zu müssen. Sie sind ohne zusätzliche Belastung nicht zu bekommen.

LTO: Sie sprachen zuvor von Zeit und Uhrzeit. Was ist der Unterschied?

Geißler: Seit der Erfindung der Uhr – vor 600 Jahren – haben die  Menschen bei Zeitentscheidungen stes die Wahl zwischen der Orientierung an Zeiten, die ihnen die Natur oder ihr Körper vorgibt, und solchen, die die Uhr vorgibt. Die Uhr vertaktet, die Natur rhythmisiert die Menschen. Uhrzeit ist starr, unflexibel und nimmt keine Rücksicht auf den menschlichen Zustand und die Gefühle. Die Zeit der Natur ist rhythmisch und flexibel. Es ist immer genug von ihr vorhanden, da stets neue nachkommt - soviel wie vergeht.   Es kommt auf die Balance zwischen Uhrzeitorientierung und Orientierung an den Naturzeiten an. Wir haben nicht zu wenig Zeit, sondern zu viel zu tun. Und daran, dass wir zuviel zu tun haben, lässt sich etwas ändern. 

LTO: Ein paar Tipps zum Schluss für stressgeplagte Menschen?

Geißler: Organisieren Sie Ihren Tag rhythmisch, mit Pausen und Übergängen zwischen unterschiedlichen Tätigkeiten. Erstellen Sie nicht nur To-do-Listen sondern auch Let-it-be-Listen auf denen steht, was Sie auch mal sein lassen können – zumindest probeweise.  Lassen Sie in Ihrem Terminkalender Raum für Unerwartetes, verplanen Sie nicht jede Minute. Organisieren Sie den Tag wie einen Emmentaler-Käse: Mit festen Strukturen und unorganisierten "Zeitlöchern". Und beobachten Sie Ihre eigenen Zeitrhythmen und nehmen Sie diese zur Grundlage Ihrer Tagesorganisation.

Prof. Dr. Karlheinz Geißler, schreibt, lehrt und lebt in München. Er hat mehrere Werke zum Thema "Zeit" veröffentlicht, zuletzt Karlheinz Geißler/Jonas Geißler: "Time is Honey: Vom klugen Umgang mit Zeit", Oekom Verlag München 2015.

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