Mentale Gesundheit bei Anwälten

"Ich habe erst spät begriffen, dass ich ein Bur­nout hatte"

Interview von Franziska KringLesedauer: 7 Minuten

Felicitas Kapp war Associate in einer Großkanzlei – bis zur völligen Erschöpfung. Heute coacht sie Juristen. Im Interview erzählt sie, wieso mentale Gesundheit bei Anwälten so ein Thema ist und wie man besser mit Druck umgehen kann.

LTO: Frau Kapp, nach Ihrem Zweiten Staatsexamen waren Sie knapp zwei Jahre Anwältin in einer Großkanzlei mit besten Karrierechancen – und sind dann ausgestiegen. Wieso? 

Felicitas Kapp: Da kam vieles zusammen. Zum Beispiel – und das hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass ich mitten in der Corona-Pandemie angefangen habe – kam mir das Zwischenmenschliche zu kurz. Für mich spielt Teamarbeit eine große Rolle, ich tausche mich gerne aus und möchte auch meine Kommunikationsfähigkeiten und mein Gespür für Menschen bei der Arbeit einsetzen. Tatsächlich saß ich aber viel am Schreibtisch und habe meine Dinge abgearbeitet, der kollegiale Austausch kam für meine Bedürfnisse zu kurz.  

Durch die gesteigerte Arbeitsbelastung fühlte ich mich fremdbestimmt. Ich stellte nach und nach fest, dass ich nun herausfinden muss, wie Erfolg und Lebensqualität für mich funktioniert.  

Zudem habe ich mich sehr stark unter Druck gesetzt. Ich war zwar schon vorher als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Kanzlei tätig, aber als Associate hat sich doch vieles verändert. Ich habe vor allem den Erwartungsdruck an mich selbst unterschätzt. Ich habe mir gedacht, ich verdiene jetzt eine Menge Geld und muss beweisen, dass ich es verdient habe, hier zu sein. Deshalb bin ich zu stark über meine eigenen Grenzen gegangen und habe mich von mir selbst entfernt – bis ich immer mehr körperliche Symptome hatte, in ein inneres Ungleichgewicht kam und es irgendwann nicht mehr ging.  

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"Nach meinen Panikattacken habe ich weitergearbeitet" 

Wie hat sich das geäußert? 

Ich hatte immer weniger Energie und auch keine Möglichkeit, meine Ressourcen aufzutanken. Durch die Arbeit hatte ich ohnehin schon wenig Freizeit und wenn ich frei hatte, war ich so erschöpft, dass ich meine freie Zeit nicht richtig genießen konnte. Ich habe angefangen, mit den Zähnen zu knirschen, mein Kiefer hat sich verspannt, irgendwann tat mein Rücken weh. Immer wieder hatte ich Kopfschmerzen und habe auch Migräne mit Aura entwickelt. Schließlich hatte ich Panikattacken, die wie aus dem Nichts kamen. Da musste ich erstmal durch, bevor ich mich an den Schreibtisch gesetzt habe, um weiterzuarbeiten.  

Irgendwann haben Sie gemerkt, dass es so nicht weitergeht. Was haben Sie dann gemacht? 

Schon nach dem Ersten und verstärkt nach dem Zweiten Examen habe ich mich viel mit Persönlichkeitsentwicklung beschäftigt. Ich habe viele spannende Schnittstellen zu Jura bemerkt – und eigentlich wollte ich diese Themen als Associate mit abdecken, also die Kanzleikultur mitgestalten. Das hat aber nicht funktioniert. Als ich dann für mich erkannt habe, dass mein Weg so nicht weiterverlaufen soll, habe ich parallel mit der Ausbildung zum zertifizierten Business Coach angefangen. Zu der Zeit war ich auf Secondment bei einem Kreditinstitut und hatte geregeltere Arbeitszeiten. Nach etwa der Hälfte der Ausbildung habe ich meinen Kanzleijob gekündigt und mich auf die Coaching-Ausbildung konzentriert. Parallel habe ich mir meine Selbstständigkeit aufgebaut und noch weitere Ausbildungen gemacht, etwa zum Team Coach.  

"Bewusste Entscheidung, meine Geschichte öffentlich zu machen" 

Sie sind Ende 2021 aus Ihrem Anwaltsjob ausgestiegen, haben aber erst vor Kurzem das erste Mal öffentlich darüber gesprochen, dass Sie damals ein Burnout hatten. Wieso haben Sie so lange gewartet? 

Ich habe erst viel später begriffen, dass ich ein Burnout hatte. Im Rahmen der Coaching-Ausbildungen habe ich mich mit verschiedenen Denkmustern und Denkblockaden beschäftigt, die jeder von uns in unterschiedlichsten Ausprägungen hat. Ein Beispiel: Man erwartet ständig Perfektion von sich selbst und hat immer das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Diese Muster wiederholen sich immer wieder und führen dann im Endeffekt zur Handlungsunfähigkeit, insbesondere in Stresssituationen. Diese Selbstsabotagemuster führen häufig – gepaart mit der äußeren Stresssituation – zur Überlastung.  

Das konnte ich aber zu meiner Zeit als Anwältin noch nicht einordnen. Ich habe mich nur gelähmt und überfordert gefühlt und gedacht, ich sei dem Druck nicht gewachsen. Lange nach meiner Kündigung habe ich einen Artikel über die Burnout-Phasen gelesen – und mich darin wiedererkannt. 

Zudem war es eine sehr bewusste Entscheidung, meine Geschichte öffentlich zu machen, um für das Thema mentale Gesundheit in der Anwaltsbranche zu sensibilisieren. 

Viele Menschen sind von Burnout betroffen. 

Ja – und tatsächlich gerade auch Anwältinnen und Anwälte. Wenn ich heute Workshops zum Thema "Mentale Gesundheit im Anwaltsberuf" halte, ist es spannend, welche Gespräche sich entwickeln – nur weil ich jetzt in einer anderen Rolle bin. Früher habe ich solche Gespräche nicht geführt. Aber es ist auch interessant, wie groß die Dunkelziffer ist und was für ein Thema mentale Gesundheit im Anwaltsberuf eigentlich ist.  

"In der Großkanzleiwelt herrscht ein Bild von Stärke und Unnahbarkeit" 

Woran kann das liegen? 

Vor allem in der Großkanzleiwelt herrscht ein Bild von Stärke und Unnahbarkeit. Man nimmt die Rolle einer "starken" Person ein. Natürlich ist es auch der Job von Anwältinnen und Anwälten, Menschen zu vertreten und sie teilweise aus dem Schlamassel zu ziehen, da darf man keine Schwäche zeigen. Dies überträgt sich aber schnell auf die gesamte Person, was zur Selbstüberschätzung führen kann. Heute weiß ich, wie wichtig es ist, authentisch zu sein und eine innere Stärke aufzubauen. Aus dieser Stärke kann ich ganz anders agieren, ohne eigene Bedürfnisse zu übergehen oder mich als Person verstellen zu müssen.

Tatsächlich arbeiten viele Juristinnen und Juristen viel zu viel. Dass sie vollkommen überlastet sind, merken sie aber erst, wenn gar nichts mehr geht. Welche ersten Warnzeichen für ein Burnout sollte man nicht ignorieren? 

Ein erstes Warnzeichen ist es, wenn man – so wie bei mir – nicht mehr auf sein normales Energielevel kommt und vermehrt erschöpft ist. Bedenklich ist es, wenn man nicht mal mehr Energie für die Dinge hat, die einem früher Spaß gemacht haben. Viele ziehen sich auch radikal zurück und vernachlässigen ihre Freunde und Familie. Sie schränken sich immer mehr ein und fokussieren sich nur noch auf die Arbeit bzw. die Erholung von der Arbeit. Danach kann es noch zu einem Leistungsabfall bei der Arbeit kommen – aber hellhörig werden sollte ich schon bei diesen ersten Warnzeichen.  

"Radikal ehrlich mit sich selbst sein" 

Wie steuert man dagegen? 

In erster Linie geht es darum, radikal ehrlich mit sich selbst zu sein. Ein Kennzeichen des Burnouts ist es nämlich auch, dass man sich selbst verleugnet, seine eigenen Bedürfnisse nicht ernst- und irgendwann auch gar nicht mehr wahrnimmt. So weit sollte man es gar nicht erst kommen lassen.  

Viele machen aber immer weiter und wollen unbedingt noch das eine Projekt abschließen, dann das nächste. Deshalb ist es wichtig, die Selbstwahrnehmung zu stärken und sich im Alltag regelmäßig bewusst Zeit dafür zu nehmen – und dann entsprechend der eigenen Bedürfnisse zu handeln. Häufig muss es auch keine berufliche Veränderung sein. Wenn ich grundsätzlich Freude an meinem Beruf als Anwältin in der Großkanzlei habe, muss ich nicht kündigen. Ich sollte aber herausfinden, weshalb mir die Energie fehlt und welche Denkmuster und Blockaden mich hemmen.  

Diese Strukturen muss man einmal durchbrechen, damit man sich nicht noch selbst zusätzlichen Stress auferlegt und sich selbst sabotiert. Und ich sollte mir Zeit für Regeneration nehmen – im Spitzensport ist das selbstverständlich, in der Arbeitswelt leider noch nicht. 

In manchen Fällen ist es damit nicht getan. 

Nein. Wenn ich beispielsweise durch meinen Job gegen meine Werte handele, braucht es manchmal doch berufliche Veränderung. Ein solcher Wertekonflikt raubt viel Energie. Wenn mir die Work-Life-Balance wichtig ist, ich aber nur noch arbeite, kann ich das über einen bestimmten Zeitraum durchhalten, aber irgendwann nicht mehr. Oder wenn meine Fähigkeiten ganz woanders liegen. Wenn ich gut in Kommunikation und im Zwischenmenschlichen bin, aber in meinem Job nur auf meinen Laptop starre und Sachen abarbeite, werde ich auf lange Sicht unglücklich. Veränderung ist zunächst unangenehm, aber in solchen Fällen auf lange Sicht sinnvoll und erforderlich. 

"Die wenigsten Menschen wissen wirklich, was sie wollen" 

Sehen Sie die Ursachen für die Unzufriedenheit im Job eher bei den Anwältinnen und Anwälten oder bei den Großkanzleien?

Man sollte immer erst bei sich selbst anfangen. In meinen Coachings stelle ich fest, dass die wenigsten Menschen sich selbst kennen oder wirklich wissen, was sie wollen. Sie gehen danach, wo man viel Geld verdient, wie sehr der Beruf in der Gesellschaft anerkannt ist oder wo die Karrierechancen am besten sind.  

Dadurch entstehen viele Folgeprobleme, die zu dieser diffusen Unzufriedenheit führen. Man pickt sich dann Gründe raus, weshalb man unzufrieden ist, ohne das Kernproblem zu erkennen und zu verändern. In den Coachings fange ich häufig mit einer Bestandsaufnahme an, in der die verschiedenen Bereiche von der Arbeit aufgeschlüsselt sind. Meine Klienten sollen dann auswählen, was ihnen besonders wichtig ist – und teilweise stellen sie dann fest, dass ihr Job absolut nicht dazu passt. Aber da kommt es immer auf die jeweilige Person an. Es liegt also nicht grundsätzlich an den Kanzleien – aber die Arbeitsweise dort trägt natürlich ihren Teil dazu bei. 

Inwiefern? 

Die Arbeitszeiten sind das eine. Aber viele meiner Klienten vermissen auch das Miteinander in den Kanzleien, die Teamarbeit und auch die Wertschätzung. Das müssen viele Kanzleien aus meiner Sicht besser machen. Zudem sollte man auch als First-Year-Associate das Gefühl haben, seinen Teil beizutragen.

Und: Aus meiner Sicht muss die Arbeit viel mehr auf den Menschen ausgerichtet sein. Es braucht Flexibilität, um auf individuelle Bedürfnisse eingehen zu können und es muss möglich sein, auch seine privaten Interessen verfolgen zu können. Es braucht ein vertrauensvolles, wertschätzendes Miteinander, bei dem man als Mensch und nicht nur als "Arbeitsmaschine" gesehen wird.

Vielen Dank für das Gespräch! 

Felicitas Kapp war zwei Jahre Anwältin in einer Großkanzlei. Seit Oktober 2021 arbeitet sie als Zertifizierter Business, Mindset und Team Coach. Sie coacht vor allem Anwältinnen und Anwälte und gibt Workshops zur mentalen Gesundheit in Kanzleien. 

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