Work-Life-Blending

Der recht­liche Rahmen ist veraltet

Gastbeitrag von Alexander R. ZumkellerLesedauer: 6 Minuten

Die neue große Koalition will auch angesichts der Digitalisierung vieler Berufe freiere Arbeitszeiten ermöglichen - aber in Grenzen. Alexander R. Zumkeller erläutert, warum das heutige Arbeitszeitgesetz jedenfalls nicht mehr zeitgemäß ist.

Die Zeiten, in denen die Arbeitsleistung nur an einem bestimmten Arbeitsplatz erbracht werden konnte, sind vorbei. "Nine to five" - wie Dolly Parton noch 1980 sang - beschreibt für viele Menschen längst nicht mehr die Realität. Wissensarbeit und psychische Anspannung haben die körperliche Schwer(st)arbeit  weitgehend verdrängt. Und wo das noch nicht so Realität ist, da wird es noch recht bald Einzug halten – dank collaborative roboting und remote-control von Produktionssteuerungen.

Was, zunächst, noch bleiben wird, sind persönliche Dienstleistungen – soweit nicht auch hier schon künstliche Intelligenz bald den Bussgeldbescheid bearbeiten wird oder ein medizinischer Roboter – was in den Vereinigten Staaten teilweise schon Standard ist - die Operation durchführt.

Gar nicht auszudenken, wie diese Entwicklungen voranschreiten und eines Tages die Zukunft aussehen wird. Immerhin haben wir eines allerdings bewahrt: Gesetze, die einen Arbeitsschutzgedanken weiterpflegen, der fast noch an Kaiser Wilhelm-Zeiten erinnert: 1924 war die Geburtsstunde der Arbeitszeitordnung. Und nur wenige, wirklich nachhaltige Änderungen haben es seit her bis ins heutige Arbeitszeitgesetz und in die EU-Richtlinie Arbeitszeit geschafft.

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"Andere Arbeit verlangt anderen Arbeitsschutz" 

Arbeitsschutz ist wichtig. Es geht um Menschen, nicht um Maschinen. Sir Charles Chaplin hat das im Film "Modern Times" bereits 1936 eindrücklich gezeigt. Aber: Damals gab es wie gesagt Knochenarbeit, teilweise im Akkord mit heute unbegreiflich hohen Taktzahlen: Ohne Verteilzeiten, nicht in Gruppenarbeit und 50 Stunden die Woche. Danach war man "fertig" und durfte sich auf maximal zwei oder drei Wochen Urlaub im Jahr freuen. "Freuen"? Nun ja, um überhaupt über die Runden zu kommen wurde auch so mancher Urlaub arbeitend auf dem Feld oder Acker verbracht.

Heute arbeiten wir anders. Wir arbeiten nicht mehr und vielleicht auch nicht weniger (selbst wenn in großen Tarifbereichen eine 35h-Woche gilt). Wir arbeiten nicht wirklich leichter, aber eben auch nicht schwerer. Vor allem aber arbeiten wir anders - ganz, ganz anders! Und andere Arbeit verlangt nach anderen Arbeitsschutzregelungen. Statt feststehender längerer Pausen empfehlen Arbeitsmediziner mittlerweile zehnminütige "power breaks" oder "power nappings". Wissensarbeit erfolgt zu großen Anteilen über Kommunikation – kaum differenzierbar, was (noch) dienstlich und (schon) privat ist.

Viele finden es schlicht erholsamer, spät am Abend noch ein paar E-Mails kurz zu beantworten statt morgens bei "Arbeitsbeginn" dem Druck einer ellenlangen E-Mail-Liste zu erliegen. Und warum nicht eine halbe Stunde später ins Büro (warum eigentlich Büro?), wenn man spät am Abend im E-Mail-Account sieht, dass es nicht "pünktlich" losgehen muss?

"Staatlich sanktionierte Gesundheitsschädigung"

Schließlich hat sich auch das Freizeitverhalten geändert. Freizeit bedeutete einst: Freunde treffen oder seinem Hobby vor oder nach getaner Arbeit zu frönen. Heute gibt es bereits so viel frei bestimmte Arbeitszeiträume, dass ein längeres "Aus" über Mittag für den Gang ins Schwimmbad, ins Café oder zum shoppen genutzt werden kann. Zwei, drei, vier Stunden – warum nicht. Und um seine Freizeit herum "baut" man - soweit möglich - die Arbeit.

Und dann – kommt die "Sense" mit der Ruhezeit:  "Die Arbeitnehmer müssen nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens elf Stunden haben", heißt es in § 5 Abs.1 ArbZG. Ich habe noch nie verstanden warum dann aber offenbar leitende Angestellte und Chefärzte, Pflegende und Betreuende und Pfarrer (für die das alles nach § 18 ArbZG nicht gilt) und selbstverständlich Selbstständige offenbar staatlich sanktioniert in ihrer Gesundheit geschädigt werden dürfen.

Und ich verstehe es auch immer weniger – auch vor dem Hintergrund einer neueren Studie des Institute of Labor Economics (IZA) und von Xing. Diese macht deutlich, dass produktive Leistungen keinesfalls immer und nur unter dem Weisungsrecht des Arbeitgebers entstehen. Und wenn zwei Drittel der Befragten dieser Studie bestätigen, dass sie die Arbeit außerhalb von "Raum und Zeit" des regulären Bürobetriebes erledigen können und mehr als die Hälfte zudem bereits heute keine festen Arbeitszeiten mehr haben, so ist das auch mehr als ein Zeichen.

Beschäftigte wünschen mehr Freiräume

Interessant: Der IZA/Xing-Studie zufolge geben nahezu 60 Prozent der Befragten an, sich zumindest gedanklich in der Freizeit mit Vorgängen zu befassen, die der beruflichen Sphäre zuzurechnen sind. Abgesehen davon, dass diese Mehrarbeit sich nicht – wie es § 16 Abs. 2 ArbZG eigentlich verlangt – messen lässt, ist vor allem eines zu beobachten: Die betroffenen Beschäftigten selbst sind es oft, die diese "Entgrenzung" wünschen. Die Arbeitgeber sind das nicht einmal – denkwürdig etwa das Jahr 2017, in dem IBM seine Beschäftigten kategorisch aufforderte, ins Büro zurückzukommen statt in Telearbeit / Homeoffice zu arbeiten.

Die Beschäftigten sind es, die mehr Freiräume wünschen, einfordern – und sich nehmen! Beispiele dieser Art gibt es viele, einige möchte ich nennen: Wenn jemand in den letzten beiden Tagen des Urlaubes so viele E-Mails wegarbeiten kann, dass er sich in den ersten Arbeitstagen nach dem Urlaub weniger angespannt um die wirklichen wichtigen aufgelaufenen Dinge kümmern kann, dann ist das für Viele die Erstreckung des Erholungswertes noch ein paar Tage in die Arbeit hinein.

Oder wenn auf einer Rückreise von einer Dienstreise ein unerwarteter Stau die Fahrzeit verlängert und der Fahrer nach 10 Stunden Fahrt keine Erholung in Form einer elfstündigen Ruhepause (sic!) am Straßenrand sucht, sondern eben noch eine halbe Stunde drangehängt um nach Hause zu kommen, wird doch keiner ernstlich bestreiten können, dass die Erholung im eigenen Bett - selbst wenn sie 30 Minuten "verspätet" stattfindet - nicht einen höheren Wert hätte als im Autositz am Straßenrand.

"Arbeitszeitgesetz nicht mehr zeitgemäß"

Wenn ein Elternteil mit seinen Kindern eine ausgedehnte Pause zwischen zwei Arbeitsblöcken für den Gang ins Freibad nutzt und dann zum nächsten Arbeitstag nicht wirklich 11 Stunden Ruhezeit eingehalten werden können, wäre es doch bigott nach "Familie und Beruf" zu rufen und dies nicht zulassen zu wollen.
Arbeitsschutz ist wichtig. Und Arbeitsschutz sieht heute für jede Tätigkeit, ja noch mehr für jeden Arbeitnehmer individuell anderes aus. Der Umgang mit "Stress" – positivem wie negativem – ist jedenfalls heute nicht mehr arbeits-, sondern vielmehr personenbezogen. Psychische Gefährdung – kommt nicht (nur) von der Arbeit, sondern mehr denn je aus dem Privatleben (zu viele können ihr Privatleben schon nur noch mit einem – natürlich elektronischem – Kalender in den Griff bekommen). Das macht es nicht leichter, das ist richtig, aber so langsam sollte die Erkenntnis den Gesetzgeber erreichen, dass ein One-fits-all Gesetz von vor 100 Jahren heute nicht mehr wirkt.

Hubertus Heil, unser neuer Minister für Arbeit und Soziales, fährt vermutlich auch nicht mit der Pferdedroschke ins Amt, lässt sich da vom "Fräulein vom Amt" verbinden und lässt in einer Schreibstube neue Gesetzesentwürfe schreiben. Er vermutlich wird, wie alle seine Vorgängerinnen und Vorgänger auch, keine 11 Stunden Ruhezeit einhalten. Ja, es ist so wie die Urheber der Studie schlussfolgern: "Das Arbeitszeitgesetz in seiner jetzigen Form ist nicht zeitgemäß." Daran ändern auch ein paar Experimentierklauseln, der Versuch eines Homeoffice-Anspruchs, Vollzeitrückkehransprüche oder halbherzige Zusagen einer Stärkung von Bedürfnissen der Familie im GroKo-Vertrag nichts.

Bei alledem: Es geht um die Praxis, um Rechtssicherheit und Compliance. Und es geht um Menschen, denen man die die Art und Weise der Arbeit ermöglichen sollte, die sie wünschen. Ich verhehle nicht, dass es auch um betriebliche Bedürfnisse geht, aber im "War for Talents" kann jeder Arbeitgeber nur mit Flexibilität punkten. Und die muss rechtssicher und compliant umgesetzt werden können. Und dass nicht alles "Alte" keine Berechtigung mehr hat, zeigt sich hier: "Ein jeder mag nach seiner facon selig werden". Dieses Zitat stammt von Friedrich II aus dem Jahr 1740. Da gab es noch kein Arbeitszeitgesetz.

Der Autor Alexander R. Zumkeller ist Präsident des Bundesverbandes der Arbeitsrechtler in Unternehmen e.V. (BVAU) und Head of HRPolicies (Deutsche ABB).

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