Bloß nicht das Gesicht verlieren
Östlich des Huangpu-Rivers, wo die imposante Wolkenkratzer-Silhouette Shanghais als spektakuläre Kulisse herhält, erstreckt sich die Century Avenue stadtauswärts Richtung Ostchinesisches Meer. Futuristisch verschalte Eingänge von Metro-Stationen, die an Insektenpanzer erinnern, zeugen noch von einer erfolgreichen EXPO 2010. Hier im Stadtteil Pudong, wo alles neu, groß und vielversprechend ist, wo es "Super-Brand-Mall" nicht unter Gucci, Dior und Ferragamo tun und der Asphalt-Dschungel gelegentlich von Grün durchsetzt ist, arbeitet die chinesische Juristin Dr. Sun Jing. Ihr Schreibtisch steht im 25. Stock des "China Fortune Tower", Hausnummer 1568, dem Sitz der Deutschen Auslandshandelskammer AHK. Unten im Foyer gibt es einen Coffeeshop von IMO, einen lokalen Feinkostladen, hier Deli genannt, livrierte Doormen und zwölf blitzsaubere Aufzüge. Wenn sich deren Türen oben mit einem spitzen "G’sching!" öffnen, breiten sich auf dem German Floor Konferenzräume und helle Großraumbüros aus, mit nüchternem Blick auf die Rückseite der Skyline. Vorgestern erst machte Altkanzler Gerhard Schröder hier seine Aufwartung und kam mit Bodyguard und Fahrer auf einen grünen Tee vorbei. Sun Jing ist eine zierliche Person mit halblangen Haaren, einer feinen, randlosen Brille, dunkelblauem Hosenanzug, champagnerfarbenen Top. Ihr Blick und Händedruck sind fest und selbstbewusst. Die Volljuristin hat nach ihrem abgeschlossenen Germanistikstudium in Nanjing Rechtswissenschaften studiert und ist in Deutschland promoviert worden. Seit acht Jahren ist Sun – im Chinesischen wird der Familienname stets vor dem Vornamen genannt – in leitender Position als juristische Beraterin der AHK tätig, die eine der mitgliederstärksten Kammern der Welt und einer der größten ausländischen Verbände Chinas ist.
Tiefkühlpizza für China
Suns Aufgabengebiet ist die Beratung deutscher Firmen in Bezug auf deren Markteintritt in China. Dazu gehören Gesellschaftsgründungen, Markt- und Standort-Analysen, Empfehlungen für Investitionsstandorte, Begleitung bei Standort-Besichtigungen und die Koordination mit den örtlichen Behörden, die vielleicht höchste Hürde, die es zu nehmen gilt. Dr Oetker zählt zu Suns Klienten. Das Bielefelder Unternehmen sorgt seit Dezember 2011 von Taicang aus für Chinas erste Tiefkühlpizza-Produktion. Sun hört, dass man glücklich mit dem Standort und den Abwicklungen sei. "Der ganze Prozess hat zwei Jahre gedauert", erzählt sie. Besonders schwer sei es gewesen, eine Lebensmittelproduktionslizenz für Oetker zu bekommen. Im Gegensatz zu Kanzleien ist die AHK nicht spezialisiert. "Bei uns bewegt man sich auf vielen Gebieten. Ich finde es interessanter, die Fragen nicht nur nach rechtlichen Perspektiven zu stellen, denn wir haben viele Kontakte zu verschiedenen Unternehmen und das ist breit gefächert", sagt Sun. Die Zusammenarbeit mit deutschen Firmen funktioniere zu 99 Prozent, "aber Deutsche sind langsamer in Entscheidungsfindungen, als Chinesen." Der Grund: "In China wird mehr nach Bauchgefühl gehandelt. In deutschen Firmen wird nachgedacht, geplant, überlegt, da entscheidet man auch eher demokratisch." In China bestimme meist nur eine Person, "das geht viel schneller". Der Gesamtanteil, den deutsche Unternehmen in China zum Bruttosozialprodukt beisteuern, sei nicht klein, sagt Sun. Deutschland ist als Investor auf Platz 8 – der Zahl, die dort das Glück symbolisiert. Ein Zufall? Die Juristin lächelt und sagt, dass deutsche Produkte einen sehr guten Ruf genießen, "wegen der hohen Qualität". Die meisten Chinesen glaubten, dass Deutsche pünktlich, fleißig und sorgfältig seien und deutsche Unternehmen grundsätzlich seriös, findet die Juristin. "Deutsche bringen Management- und Produktions-Know-How mit, schulen ihren Mitarbeiter und zahlen ordentliche Sozialversicherungen." In Shanghais deutscher Juristen-Szene kennt man die ambitionierte Anwältin. Shanghai ist ein Dorf von 17-Millionen-Einwohnern. Wenn jemand bei einem großen Deal dabei ist, spricht sich das herum. Unter den offiziell registrierten Law Firms der Megalopolis und den rund 14.000 Juristen, bilden die deutschen Kanzleien eine kleine, feine Community. Darunter finden sich Namen wie Beiten Burkardt, Burkardt Böhland & Partner, CSM, Graf von Westfalen, Hasche Sigle, Häger, Luther, Roedl & Partner, Salans als die vielleicht Größten vor Ort, Schindhelm, Schulz Noack Bärwinkel, SJ Berwin, Suhren Peltzer Meinecke oder Taylor Wessing.Nur Verstehen führt zu Vertrauen
Sofern die Kanzleien nicht unter chinesischer Flagge segeln, handelt es sich um so genannte Repräsentanzbüros. Anwälte, die für einen ausländischen Arbeitgeber arbeiten, dürfen streng genommen nicht zu chinesischem Recht beraten. Deutsche Kanzleien kooperieren daher häufig mit chinesischen Kanzleien. Warum als deutsches Unternehmen dann nicht gleich auf einen der vielen chinesischen Anwälte zurückgreifen? Warum über Los gehen, wenn man auch direkt setzen kann? "Die wenigsten chinesischen Rechtsanwälte verfügen über ausreichende Englisch-Kenntnisse, geschweige denn Deutsch", klärt Sun auf. Das größere Problem sei jedoch die nonverbale Kommunikation, das Lesen zwischen den Zeilen. "Chinesische Anwälte verstehen oft die Überlegungen und Gedankengänge von deutschen Unternehmen nicht. Sie fragen sich: Warum wollen die das wissen? Warum stellen sie solche Fragen? Was meinen die überhaupt?", erläutert sie. Der Kern einer anwaltlichen Beratung sei das Vertrauen – und daran scheitert es oft. "Die meisten Klienten haben Vertrauen in uns, weil wir sehr erfahren sind, alle Deutsch, Englisch und Chinesisch sprechen. Alle von uns waren in Deutschland, haben dort studiert und die Kultur kennengelernt." Sun ist 1997 nach einem Master in Economic Law an der Universität von Nanjing für ein Jahr nach Göttingen gekommen, dank eines Stipendiums des DAAD. Dort hat sie ein Aufbaustudium in Rechtslehre mit Abschluss Magister gemacht und ist in Freiburg promoviert worden. Die Promotion wurde durch die Hans-Seidel-Stiftung finanziert. Thema ihrer Doktorarbeit war: Rechtsschutz bei der Vergabe öffentlicher Aufträge in China und Deutschland - Eine rechtsvergleichende Untersuchung. Das chinesische Recht ist dem deutschen sehr ähnlich, sagt Sun. "Historisch gesehen hat China Anfang des letzten Jahrhunderts das japanische Recht rezipiert, das das deutsche Recht als Vorbild genommen hat. Daher hat China indirekt deutsches Recht kopiert". Für einen chinesischen Jurastudenten sei es deshalb "selbstverständlich und naheliegend", in Deutschland zu studieren. Sun hat dort – ganz nach Landessitte – in WGs gewohnt. "Das fand ich toll, man hat ganz leicht Studenten aus anderen Ländern kennengelernt. Die meisten waren richtig nett und hilfsbereit". Deutschland empfand sie als sehr ruhig. "Es war nicht seltsam für mich, sondern einfach nur anders als China."Völlig andere Rechtskultur
Deutsche Jura-Studenten, so Suns Erfahrungen, seien "viel zielgerichteter im Bezug auf Ihre berufliche Zukunft. Sie planen bereits in Studienzeiten, wie es weitergehen soll im Gegensatz zu Chinesen, die eine Karriere erst planen, wenn der Abschluss unmittelbar bevorsteht". Ein Job in Deutschland wäre für Sun keine Option, weil sie Familie in China hat. Sun kommt aus Suzhou, einer nach chinesischen Maßstäben kleinen Stadt von rund sechs Millionen Einwohnern, rund 100 Kilometer westlich von Shanghai. Suns Ehemann ist IT-Ingenieur. Beide leben in Shanghai. Die kleine dreijährige Tochter ist dagegen bei Suns Eltern in der Heimat Suzhou, um die beruflich eingespannten jungen Leute zu entlasten. Ein Modell, das in Chinas Megacitys nicht unüblich ist. "Meine Eltern waren die ersten Jahre im Leben meiner Tochter bei uns", erzählt die Juristin. "Allein können das zwei Vollzeitarbeitende nicht schaffen". Nach der Geburt des Kindes hat die Großfamilie zunächst zusammen gewohnt, aber die Großeltern mochten Shanghai nie wirklich. Zu groß, zu eng, zu hektisch. Jetzt sind sie zurück in Suzhou "und meine Tochter, weil sie dort den Kindergarten besucht, auch und wir sehen uns nur am Wochenend", sagt die Mutter. Wenn das Mädchen mit sechs Jahren zur Schule kommt, geht sie wieder zu ihren Eltern zurück. Würde es ihr gefallen, wenn Ihre Tochter später auch Juristin wird? Sun schüttelt den Kopf und sagt: "Anwälte haben in China eher einen schlechten Ruf. Nein, das wäre nichts für sie." Die Rechtskultur sei eine andere als in Deutschland. In China glaubt man, "dass man sein Gesicht verliert, wenn man vor Gericht geht. Anwälte gelten als gerissen, als die Bösen, die, die Gerichtsverfahren gewinnen und sich bereichern wollen". Normale Bürger verstünden den Beruf von Anwälten nicht. In der Praxis, sagt Sun Jing, gäbe es schließlich auch einige komische Vögel. Mehr auf LTO.de: Als Anwalt in Boomtown Shanghai: Es muss nicht immer Frankfurt sein Friedensnobelpreis für Liu Xiaobo: China und der internationale Menschenrechtsschutz China entdeckt Carl Schmitt: Pekings Blick nach PlettenbergAuf Jobsuche? Besuche jetzt den Stellenmarkt von LTO-Karriere.
2011 M12 16
China
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